Das Tierreich (UA)

Premierenkritik Das neue Stück von Nolte Decar in einer knallbunten Uraufführungsinszenierung von Gordon Kämmerer in der Diskothek des Schauspiels Leipzig

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Obwohl das junge Autorenduo Jakob Nolte (Jahrgang 1988) und Michel Decar (Jahrgang 1987) beim Titel ihres Stücks Das Tierreich kurz an das Pubertier von Jan Weiler gedacht haben, in dem irgendwo "ein erwachsenes Wesen voller Güte und Vernunft schlummern soll"? An kleine Monster aber mit großer Sicherheit. In immerhin 21 Rollen bevölkern sie das Kleinstadtsetting der beiden Brüder-Grimm-Preisträger des Landes Berlin von 2013. In der Uraufführung des Textes in der Diskothek unterm Dach des Schauspiels Leipzig erscheinen die 6 Schauspielerinnen und Schauspieler mit ihren Masken, langgezogene Köpfen, ausgepolsterten Kostümen und verzerrten Stimmen jedenfalls wie eine Kreuzung zwischen der Adams Family und den Figuren der Biene-Maja-Zeichentrickfilme. Diese kleinen pubertierenden Monster aus dem Kaff Bad Mersfeld erleben in den Sommerferien ihre ganz spezielle Art des Frühlingserwachens.

Das Tierreich

Foto © Rolf Arnold

http://blog.theater-nachtgedanken.de/wp-content/uploads/2014/10/Das-Tierreich-©-Rolf-Arnold.jpgDen Namen der Uraufführungsspielstätte Diskothek hat Regisseur Gordon Kämmerer (Jahrgang 1986), Absolvent der Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, übrigens ziemlich wörtlich genommen. Ein Soundtrack von über 30 Rock- Pop- und Countysongs, Raps und klassischen Werken untermalt seine knallig bunte und recht aktionsreiche Inszenierung. Auf einem fahrbaren, immer wieder neu zusammenschiebbaren Holzlaufsteg posieren die Darsteller wie auf einem Catwalk. Die Theater-AG probt Kleists Prinz von Homburg sowie erste Eitelkeiten, und eine obercoole Mädchenrockband tritt in hohen Boots mit Baseballschlägern auf. Dazu dröhnt aus den Boxen der Sound der 80er mit Neue-Deutsche-Welle Hits von DAF über Andreas Dorau bis Palais Schaumburg ihren Post-Punk-Pop-Apologeten wie Stahlnetz und Geile Tiere oder auch Anton Bruckner, Technotronic, Portishead und vieles mehr.

Und dabei liebäugelt Kämmerer sicher nicht nur mit den heutigen Kids, sondern auch mit den großen Kindern der 70er, 80er und 90er, die hier in ihren eigenen Erinnerungen schwelgen dürfen. Eine Reise durch die Zeiten, Musikstile und Moden. „Wir bauen eine neue Stadt.“ Eine große Welt im Kleinen will uns die immer wieder im Video eingeblendete Spielzeugstadt sagen. Die Welt der Jugendlichen, in die neben der ersten Liebe, Partys, Eifersüchteleien und Gemobbe plötzlich auch die Realität in ganz wundersamer Weise aus heiterem Himmel mit einem Leopard II knallt, der aus einem Transportflugzeug auf die Schule fällt. An der Bühnendecke hängt ein Rasenmäher, der neben dem Panzer auch einen vom Vater geklauten Jaguar darstellt, was einen weiteren Crash mit Schädelhirntrauma und Beinverlust zur Folge hat.

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Das Tierreich am Schauspiel Leipzig – Foto © Rolf Arnold


Die Kids versuchen sich zu artikulieren. Mal prahlerisch und altklug („Die Rentner haben schon alles hinter sich.“), mal mit schlauen Gedanken von Nietzsche oder Paul Celan. Dann läuft wieder eine schüchtern stumme Annährung am Baggersee über ein Leuchtschriftband. Was nützt die Liebe in Gedanken, die um den ersten Kuss kreisen und nicht heraus wollen („Hast du was gesagt? Ich? Ich hab nichts gesagt.“). So probiert man sich und die andere Seite und auch mal das andere Ufer aus. Als Reaktion auf die große Weltlage will die Chefredakteurin der Schülerzeitschrift ein Essay über Palästina schreiben und die Schul-Umbenennungs-AG bringt Namen wie Albrecht Dürer und Christoph Probst (Weiße Rose) gegen das Hindenburggymnasium in Stellung. Es werden Verschwörungstheorien über Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien diskutiert und sich in Demokratie geübt.

Es bleibt zumeist beim Versuch. Unsere angehenden Erwachsenen stehen ihren Eltern, denen sie kleine, herzliche Hass-Rock-Songs widmen, in nichts nach. Und noch ein weiteres Haustier ist Bestandteil des Stücks und im Gegenzug zu den in ihren Gefühlen und Handlungen schwankenden Jugendlichen, auch wenn sie sich selbst bereits auf dem besten Weg der Anpassung befinden, recht zutraulich und pflegeleicht. Ein kleines, kuscheliges Chinchilla mit Knopfaugen, das zu Beginn verschwunden war und irgendwann im Wald vor der Kamera einer ambitionierten angehenden Tierfilmerin wieder auftaucht. Das kleine graue Nagetier als Auslöser einer großen Obsession. Nur - seine größte Bedrohung ist der Mensch, und vielleicht sollte man dann doch lieber Filme über Menschen machen.

Dazu singen Bonaparte "Wir sind keine Menschen, wir sind Tiere" und Grauzone von "Marmelade und Himbeereis". Irgendwo dazwischen liegt wohl die Wahrheit dieses kleinen, fröhlich frechen Textes von Nolte Decar. Und trotzdem ist Das Tierreich viel mehr als eine Kleinstadtparodie von Eis am Stiel. Sicher ist Erwachsenwerden auch eine schwere Zeit. Aber es geht schnell vorbei, wie Sibylle Berg in ihrer trocken sarkastischen Art im Programmheft prophezeit. Vielleicht manchmal etwas zu schnell.

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Zuerst erschienen am 08.10.2014 auf Kultura-Extra.

Das Tierreich (UA)
von Nolte Decar
Regie: Gordon Kämmerer
Bühne: Jana Wassong
Kostüme: Josa David Marx Dramaturgie: Julia Figdor
Licht: Jörn Langkabel
Video: Stini Röhrs
Mit:
Pina Bergemann
Julia Berke
Andreas Herrmann
Anna Keil
Dirk Lange
Michael Pempelforth

Premiere:03.10.2014

Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-leipzig.de/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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