Musa Dagh - Tage des Widerstands

Premierenkritik Hans-Werner Kroesingers Dokutheaterstück nach Franz Werfels Roman eröffnet am Maxim Gorki Theater Tage des Gedenkens an Hundert Jahre Völkermord an den Armeniern.

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100 Jahre Erster Weltkrieg, 25 Jahre Mauerfall - wie schon im vergangen Jahr gilt es auch in diesem wieder einige denkwürdige Gedenktage zu begehen. Immer auch ein Anlass für Theatermacher zur künstlerischen Rückschau in die Geschichte. Und wie sich das Maxim Gorki Theater bereits mit Krieg und Mauerfall in eigenen Themenreihen beschäftigt hat, widmet sich das Haus, in dem erklärter Maßen interkulturelle und postmigrantische Themen auf der Tagesordnung stehen, nun einem ganz besonderen Anlass des Gedenkens. Vor einhundert Jahren begann im damaligen Osmanischen Reich die systematische Deportation von über einer Millionen Armenier aus ihrer anatolischen Heimat in die mesopotamische Wüste. Trennung von Familien, Folterung und Ermordung waren die schrecklichen Folgen. Man betrachtet diese Verbrechen in der Türkei bis heute als innerstaatliche Angelegenheit. Nach wie vor ist die Verdrängung und Leugnung der Verantwortung für diese Ereignisse, die 1948 von der UN als Genozid anerkannt wurden, türkische Staatsdoktrin.

Aber auch die Bundesregierung tut sich schwer mit der völkerrechtlichen Einordnung dieser Problematik (die auch eine deutsche ist); stand doch das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg als Verbündeter an der Seite des Deutschen Reichs. Neben der Erinnerung an den qualvollen Leidensweg der Armenier hat sich das neue Stück des Dokumentartheatermachers Hans-Werner Kroesinger zur Aufgabe gemacht, diese Verquickung näher zu beleuchten. Sein Projekt Musa Dagh - Tage des Widerstands ist Teil des interdisziplinären Festivals ES SCHNEIT IM APRIL, das sich ganze 44 Tage und ein Osterfest lang diesem Schwerpunkt widmen wird. Schon auf dem Vorplatz des Maxim Gorki Theaters empfängt das herbeigeeilte Publikum eine Video- und Klanginstallation des Regisseurs Atom Egoyan. In den Foyers hat Silvina Der-Meguerditchian in regalartigen Wandteilern Exponate und Erinnerungstücke zum Thema ausgestellt. Es wird eine von Fred Kelemen kuratierte Filmreihe, weitere Theaterproduktionen und ein Musikprogramm geben.

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Foto (c) Esra Rotthoff

Der eigentliche Höhepunkt dieses Abends, die Premiere von Kroesingers Musa Dagh-Bearbeitung, beginnt (wie sooft bei ihm) mit der Recherche in den Akten. Die beiden erprobten Kroesinger-Darsteller Judica Albrecht und Armin Wieser werden dabei von Marina Frenk, Ruth Reinecke, Falilou Seck und Till Wonka aus dem Gorki-Ensemble unterstützt. Hohe Regalreihen sind aufgebaut, man wühlt in Bergen von Akten und haut dem Publikum die Faktenlage anhand von Gesprächsnotizen, diplomatischen Noten und Augenzeugenberichten im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren. Falilou Seck tritt als Armin T. Wegner auf und trägt an weißer Leinwand aus dessen Reisebericht vor, den der Schriftsteller 1919 vor der Urania hielt. Eine ziemlich genaue und ernüchternde Analyse der damaligen politischen Lage in der Region, dem aufkommenden Pantürkismus und den furchtbaren Folgen für das Volk der Armenier. Eine Geschichte des Todes und ungeheuerlicher Verbrechen.

Im Zentrum stehen bei Kroesinger diesmal aber nicht nur Akten, Fakten und Berichte, sondern tatsächlich eine literarische Vorlage: der dreiteilige Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh von Franz Werfel, den der österreichische Schriftsteller im Jahre 1933 vollendete (was das Buch des Juden Werfels noch vor der Verbrennung durch die Nazis, nicht aber vor dessen Verbot rettete). In fünf Minuten führt Till Wonka zu Beginn schnell durch den Inhalt, der den bewaffneten Widerstand eines armenischen Dorfes gegen die Deportation durch die Türken beschreibt. Über fünftausend Armenier hielten sich vierzig Tage in selbst errichteten Wehranlagen auf dem Berg Musa Dagh verschanzt. Etwa viertausend Überlebende wurden danach von englischen und französischen Kriegsschiffen nach Port Said evakuiert.

http://blog.theater-nachtgedanken.de/wp-content/uploads/2015/03/Musa-Dagh-Tage-des-Widerstands_Foto-Esra-Rotthoff.jpgMusa Dagh - Tage des Widerstands - Foto (c) Esra Rotthoff


Bekundet sind diese Ereignisse am Musa Dagh durch den deutschen Konsul in Aleppo Walter Rößler und Berichte des Pfarrers und Vorsitzenden der deutsch-armenischen Gesellschaft Johannes Lepsius. Dieser tritt auch in "Zwischenspiel der Götter" genannten Kapiteln des Romans auf, um bei türkischen Staatsbeamten und religiösen Würdenträgern des Landes für eine Beendigung der Gräuel gegen das armenische Volk zu intervenieren. Ruth Reinicke in der Rolle Lepsius trifft hier auch auf den osmanischen Kriegsminister Enver Pascha (Till Wonka), der ihn aber recht deutlich zu verstehen gibt, dass die Armenier dem Ziel eines Reichs der Türken in Asien im Wege stehen und dabei unverhohlen seinen Hass gegen die von ihm nur verächtlich „Pestpazillen“ Genannten Ausdruck verleiht. Interessant auch die Meinung von Mönchen eines Derwischklosters, die Lepsius vorhalten, dass die türkische Regierung nur das tue, was ihnen von den kriegführenden Europäern vorgemacht wurde. „Der Tod ist eure Religion.“ Bei den deutschen Regierungsbehörden selbst läuft Lepsius dann schließlich auch auf. Die Türkei war Deutschland als Kriegspartner wichtiger.

Europäische Geschichte endet nicht am Bosporus, wie es einmal an diesem Abend heißt. Deutsche und europäische Interessen waren seit jeher dort mit im Spiel. Die Bagdadbahn, die bis zu den Ölquellen des Persischen Golfs verlaufen sollte, ist dafür bestes Beispiel. Für ihren Bau mussten armenische Zwangsarbeiter leiden. Auch Fatih Akin lässt dies in seinem Kinofilm The Cut anklingen. Das Vergessen dieses Unrechts lässt neues entstehen. „Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?" soll Adolf Hitler 1939 bei einer Geheimrede vor seinen Generälen gesagt haben. Letztendlich zogen die Juden im Warschauer Getto aus Franz Werfels Roman aber auch Hoffnung für ihren Kampf gegen die faschistischen Besatzer.

Der Kampf der Armenier auf den Musa Dagh spielt dann neben dem gewohnten Frontalunterricht Kroesingers erfreulicher Weise keine unerhebliche Rolle an diesem Abend, der genau dann am intensivsten wird, wenn sich die Darsteller zusammenfinden und gemeinsam an einem fragmentarischen Modell einer Arche (wie auf dem biblischen Berg Ararat) bauen. In kleinen Spielszenen werden Passagen des Romans nachgestellt, Ängste, Meinungsverschiedenheiten, Wut und Hoffnung der Verteidiger beschrieben. Nichts wird weggelassen oder beschönigt. Auch treten in kleinen Monologen die Schauspieler immer wieder aus den Rollen und berichten von ihren Gedanken zum Buch. Zum Schluss folgt mit Bundestagsreden und Anfragen an die Bundesregierung zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern noch den Sprung ins Heute. Der Umgang mit dem Thema ist nach wie vor nicht abschließend geklärt. Die Akten fliegen in den Schredder. „Was gibt es da noch zu erzählen?“ Trotz der Fülle der Informationen sich noch so einiges mehr. Ein Dranbleiben gibt dann Gorki-Intendantin Shermin Langhoff den anwesenden Politikern auch noch mit auf den Weg.

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Zuerst erschienen am 09.03.2015 auf Kultura-Extra.

MUSA DAGH - TAGE DES WIDERSTAND
Dokumentartheater von Hans-Werner Kroesinger
Frei nach dem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh von Franz Werfel
Regie: Hans-Werner Kroesinger
Bühne + Kostüm: Valerie von Stillfried
Musik: Daniel Dorsch
Dramaturgie: Aljoscha Begrich
Künstlerische Mitarbeit: Regine Dura, Judica Albrecht, Marina Frenk, Ruth Reinecke, Falilou Seck, Armin Wieser und Till Wonka
Premiere am Maxim-Gorki-Theater war am 7. März 2015
Weitere Termine: 20., 27. 3. / 2., 6., 23. 4. 2015

Weitere Infos siehe auch: http://www.gorki.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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