Theatertreffen 2014

Theater Frank Castorf inszeniert am Residenztheater München Louis-Ferdinand Célines irrlichternden Wahnsinns-Roman "Reise ans Ende der Nacht".

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In fünf Stunden um die Welt

Neben Dimiter Gotscheffs pathosschwangerem Revolutions-Requiem Zement von Heiner Müller ist das Bayerische Staatsschauspiel im dritten Kušej-Jahr mit noch einer weiteren Inszenierung eines Berliner Regisseurs beim 51. Theatertreffen vertreten. Volksbühnenchef Frank Castorf hat für das Münchner Residenztheater den 1932 erschienen Skandalroman Reise ans Ende der Nacht von Louis-Ferdinand Céline dramatisiert. Ein wirrer autobiografisch gefärbter Reisebericht, dessen ebenso egozentrische wie wahnhafte Hauptfigur Ferdinand Bardamu von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs über die afrikanischen Kolonien nach Amerika und wieder zurück ins alte Europa irrlichtert.

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Eine ganze Generation Intellektueller von links bis nach rechts außen hat dieses alle Konventionen der klassischen Literatur über Bord werfende und sich nicht um politische Korrektheit scherende Machwerk verschlungen, dessen Autor Céline nach wie vor nicht nur wegen seiner antisemitischen Ausbrüche stark umstritten ist. Es ist nach Nord, 2007 in Koproduktion mit den Wiener Festwochen an der Berliner Volksbühne realisiert, Castorfs zweite Auseinandersetzung mit einem Céline-Roman.

Auch in München ist das nun ein richtiger langer Castorf-Abend mit Livekamera und Videoscreening aus dem Inneren einer unübersichtlichen Sperrholzburg, halb Schiff, halb Stall, Elendsquartier oder Bordell, je nach Handlungsort und Ausrichtung der Drehbühne, geworden. Über dem gigantischen Bühnenbild von Aleksandar Deníc, der Castorf schon an der Volksbühne und in Bayreuth zur Seite stand, prangt in der Manier des bekannten Arbeit-macht-frei-Schriftzug von Auschwitz die Losung der Französischen Revolution. Die Assoziation, so böse wie klar, verweist nicht nur allein auf den Autor, sondern auch auf den tatsächlichen Verlauf der Geschichte von der Aufklärung über die Ideale der Revolution direkt bis zu Rassenhass und Vernichtung. Es ist auch ein großer Abend über Krieg, das Erbe der Kolonisation, die allgemeine Globalisierung und schwarzes Selbstverständnis. Ein Plakat des Rumble in the Jungle zwischen Muhammad Ali und George Foreman in Kinshasa ist zu sehen.

Castorf entwickelt die Handlung nicht linear. Es beginnt bei der Überfahrt Bardamus (Bibiana Beglau) nach Afrika. Der sich in ständiger Angst vor Ansteckung Befindliche sieht Land und schwarze Bevölkerung mit Faszination wie Abscheu gleichermaßen. Immer wieder aufgescheucht rennt man umher, fiebrig deliriert Bardamu in den Sätzen Célines über Geld, die Hitze, und die „Neger“. In Fort-Gono angekommen, erfährt Bardamu das Elend und die Abschätzigkeit der Kolonialbeamten und Offiziere - „Die reinste Kloake.“ - , und es wird über Fort und Ford gekalauert. Es herrschen Malaria und Syphilis. Dagegen gibt es Alkohol und Morphium, was man sich hier in Form von weißem Pulver reinzieht.

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REISE ANS ENDE DER NACHT/Residenztheater

Foto: Matthias Horn

Das Amerika Fords ist dagegen für Bardamu zunächst die Offenbarung. Die Verheißung der neuen Welt offenbart sich ihm aber ohne Geld bald als große Lüge. Die Flucht vom Fließband führt ihn über das Bett der Prostituierten Molly (Katharina Pichler) wieder zurück nach Frankreich, wo er dann später als Arzt in den Armenvierteln von Paris arbeitet. Zum ständigen Begleiter wird ihm der mysteriöse Léon Robinson (wechselnd dargestellt von Aurel Manthei und Franz Pätzold), ein ehemaliger Kriegskamerad und Deserteur. In Rückblenden wird von ihrem ersten Zusammentreffen berichtet. Ein Gespann wie Faust und Mephisto oder Jekyill und Hyde, das sich nicht voneinander lösen kann.

Vor der Gewalt des Krieges wie dem Elend der Gosse flieht Bardamu immer wieder in die Arme schöner Frauen. Die Krankenschwester Lola (Britta Hammelstein), die Polin Sophie (Fatima Dramé) und natürlich Robinson Braut Madelon (wieder Britta Hammelstein). Die meisten der Darsteller treten hier in mehreren und ständig wechselnden Rollen auf. Viel Raum nimmt auch die Geschichte der Familie Henrouille (Götz Argus und Britta Hammelstein) ein, die ihre alte Mutter ins Hospiz abschieben wollen und dann Robinson beauftragen, die resolute grand-mére Henrouille (Michaele Steiger) die Treppe hinunterzustoßen. Was hier Anlass zu einem Slapstick mit Bezug zur gegenwärtigen Pflegeversicherung gibt. All das wird in vielen Szenen immer wieder angerissen und mit autobiografischen Texten und Pamphleten Célines vermixt. Nicht jeder wird dem bedingungslos folgen wollen.

Die schwarze Schauspielerin Fatima Dramé gibt dann noch als Heiner Müllers Engel der Verzweiflung im Duett mit Aurel Manthei als Emissär Debuisson einiges aus dem Auftrag zum Besten. Eine fiebrige Voodoogesangsaustreibung des revolutionären Geistes, einer großen Idee mit Hühnern und Hasen. Und wem es da noch nicht heiß genug geworden ist, der kriecht einfach mit Bibiana Beglau in den rauchenden Backofen. Wieder so ein Fall einer fünf Stunden langen Castorf'schen Komplett-Überforderung aller Sinne. Die Fantasie gehet ihm nimmer aus. Am Ende legt Bibiana Beglau zu Bob Dylans "Things have changed" noch ein sehnsuchtsvolles Tänzchen aufs versiffte Bühnenparkett. "Gonna get low down, gonna fly high / All the truth in the world adds up to one big lie."

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Zuerst erschienen am 08.05. 2014 auf Kultura-Extra.

Reise ans Ende der Nacht
von Louis-Ferdinand Céline
in einer Bearbeitung von Frank Castorf
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Deníc
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Gerrit Jurda
Video und Live-Schnitt: Stefan Muhle
Kamera: Marius Winterstein und Jaromir Zezula
Dramaturgie: Angela Obst
Mit: Götz Argus, Bibiana Beglau, Fatima Dramé, Britta Hammelstein, Aurel Manthei, Franz Pätzold, Katharina Pichler, Michaela Steiger, Jürgen Stössinger.
Dauer: 4 Stunden 40 Minuten, eine Pause

Premiere im Residenztheater: 31. Oktober 2013

Weitere Infos: www.residenztheater.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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