Und morgen die ganze Welt

Kino Julia von Heinz stellt in ihrem Antifa-Film die Frage nach der Rechtmäßigkeit der gewählten Mittel im Kampf gegen die Neonazi-Szene

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„Der Schwarze Blog rettet der Demokratie den Arsch", heißt es in Kevin Rittbergers Theaterstück Schwarzer Block, das Anfang September im Maxim Gorki Theater Premiere hatte. Der Autor stellt darin ganz konkret die Gewaltfrage im Kampf gegen deutsche Neonazis. Zum gleichen Zeitpunkt feierte auch Und morgen die ganze Welt von Julia von Heinz bei den Internationalen Filmfestspielen Venedig seine Premiere. Der Film ist nicht wie Rittbergers Stück ein affirmatives Loblied auf die Antifa, sondern betrachtet eher die Gründe für die Radikalisierung der zwanzigjährigen Jurastudentin Luisa (Mala Emde) von einer anfänglichen Sympathisantin und gewaltlosen Teilnehmerin an Gegendemonstrationen gegen Neonaziaufmärsche zur gewaltbereiten Kämpferin.

Der Film zieht seine Rechtfertigung dafür aus Artikel 20 des Grundgesetzes, das jedem Deutschen ein Recht zum Widerstand einräumt „gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsgemäße Ordnung des demokratischen und sozialen Bundestaats Deutschland zu beseitigen“. Nur blöd, dass sich darauf auch Rechte berufen, um die Macht an sich zu reißen, um z.B. einer Überfremdung durch Geflüchtete entgegen zu wirken. Eine Problematik, die sich Luise in den Diskussionen eines Seminars zu verfassungsrechtlichen Fragen an ihrer Uni stellt. Oder anders gefragt, wie weit sind deutsche Verfassungsorgane und Ermittlungsbehörden bereits antidemokratisch unterwandert?

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Nach ihrer ersten Feuertaufe bei einer Demo gegen eine Kundgebung einer AfD-ähnlichen, im Film „Liste 14“ genannten rechten Partei, bei der Julia von einem Nazi, dem sie das Handy entwenden kann, verfolgt und angegriffen wird, lernt sie den charismatisch auftrumpfenden Alfa (Noah Saavedra) kennen und beginnt gemeinsam mit ihm und dem eher besonnen abwägenden Lenor (Tonio Schneider) Aktionen zu planen, die sich im Gewaltpotential von denen der Spaßguerilla, die sich aus Mitgliedern eines linken Wohnprojekts rekrutieren und mittels Spruchbändern und Farbeierwürfen gegen die Nazis agieren, stark unterscheiden. Ein Trio Infernale, das beginnt, bei ihren Aktionen ein immer höheres Risiko einzugehen, deshalb aber auch nicht immer einer Meinung ist.

Beim Altlinken Dietmar (Andreas Lust), der seine radikale Zeit inklusive fünf Jahren Knast wegen eines Bombenanschlags hinter sich gelassen hat, tauchen sie hin und wieder unter und lecken ihre Wunden. Auch ein Ort der Ruhe und Reflexion, in den sich die zwischen blindem Aktionismus, ihrer Liebesbeziehung zu Alfa und den eigenen Zweifeln gefangene Luisa zurückzieht. Als die Polizei nach einer aus dem Ruder gelaufenen Aktion gegen die Gruppe wegen Terrorverdachts ermittelt und das linke Wohnprojekt geräumt wird, muss sich Luisa entscheiden, ob sie ihre gutbürgerliche Herkunft aufgibt oder, wie ihre Freundin Batte (Luisa-Céline Gaffron), doch lieber weiter gewaltfrei gegen die stramm organisierte und gewaltbereite Neonazi-Szene kämpfen möchte.

Diesen inneren Zwiespalt und Kampf der jungen Frau mit sich fängt der Film in jeder Szene eindrucksvoll ein. Die überzeugend spielenden jugendlichen DarstellerInnen geben den Film etwas recht Authentisches. Dazu kommt, dass das Drehbuch durchaus aktuell-politische Debatten wie etwa die Tatsache, dass sich Neonazis aus dem Waffenbestand der Bundeswehr bedienen oder die Polizei immer noch auf dem rechten Auge blind ist und beim Räumen von linken Wohnprojekten wie jüngst in Berlin die Liebigstraße 34 keine besonders gute Figur macht. Der spannende und offen bleibende Film bietet keine endgültigen Lösungen, wie der Demokratie auf Dauer der Arsch zu retten wäre, die Wahl der Mittel wird eine freiheitlich orientierte Gesellschaft immer wieder neu zu diskutieren haben.

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Zuerst erschienen am 01.11.2020 auf Kultura-Extra.

Und morgen die ganze Welt
(Deutschland, Frankreich, 2020)
Regie: Julia von Heinz
Musik komponiert von: Matthias Petsche
Drehbuch: Julia von Heinz, John Quester
Besetzung:
Mala Emde: Luisa
Noah Saavedra: Alfa
Tonio Schneider: Lenor
Luisa-Céline Gaffron: Batte
Andreas Lust: Dietmar
Nadine Sauter: Peppa
Ivy Lißack: Leo
Hussein Eliraqui: Ninja
Eddie Irle: Herbert Konzelmann
Frederik Bott: Student
Constanze Weinig: ADL Rednerin Cosima Stötz
Robert Besta: Stefan Niemann
Victoria Trauttmansdorff: Cordula, Luisas Mutter
Michael Wittenborn: Joachim, Luisas Vater
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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