Rafal Lemkin ist heute kaum jemandem mehr ein Begriff, bestenfalls Völkerrechtler erinnern sich noch an den 1900 im Nirgendwo des heutigen Weißrussland geborenen polnisch-jüdischen Juristen. Dabei war er es, der unser Bewusstsein für die wohl größte nur denkbare menschliche Ungeheuerlichkeit schärfte. Und sie bei ihrem Namen nannte: Genozid. Völkermord.
Ein Attentat im fernen Berlin markierte den entscheidenden Wendepunkt seines Lebens: 1921 erschoss der junge Armenier Soghomon Tehlirian den Führer der Jungtürken, den ehemaligen Innenminister und Großwesir des osmanischen Reiches Talaat Pascha, auf offener Straße. Ein verzweifelter Akt der Vergeltung. Denn besagter Pascha war der Hauptverantwortliche des Massenmordes an den bis zu 1,5 Millionen Armeniern, darunter seiner gesamten Familie, und anderer christlicher Minderheiten zwischen 1915 und 1917. Taten, für die er 1919, nach seiner Flucht nach Deutschland, von einem türkischen Militärgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde.
Dieser Anschlag führte dem jungen Lemkin auf drastische Weise das Dilemma vor Augen, vor dem man hier juristisch stand: Auf der einen Seite die wahrhaft apokalyptischen Ausmaße eines staatlich initiierten Massenmordes – auf der anderen Seite die völlige Hilflosigkeit des internationalen Rechts angesichts fehlender juristischer Mittel, solch eine die menschliche Vorstellungskraft übersteigende Tat in einem Land zu ahnden, in dem diese Taten nicht begangen wurden.
Ab 1929 setzte Lemkin alles daran, so die Pulitzer-Preisträgerin Samantha Power in ihrem Buch ‚A Problem from Hell’, „ein internationales Recht zu schaffen, das seine Regierung und andere zwingen würde, bei einer gezielten Ermordung von ethnischen und religiösen Gruppen einzuschreiten“. 1933 unterbreitete er dem Völkerbund Vorschläge für eine internationale Konvention, um gegen solche Untaten strafrechtlich vorgehen zu können – ausdrücklich unter Bezug auf die Todesmärsche der Armenier und Aramäer. Der Erfolg war gleich null. Man befand, dass sich solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit viel zu selten ereignen, als dass dieser Tatbestand eine Aufnahme ins internationale Recht rechtfertigen würde.
Mit Blindheit war die Menschheit schon immer geschlagen. Der grausame Vernichtungsfeldzug gegen die Maji-Maji durch die deutschen Kolonialherrscher 1905 im heutigen Tansania oder deren Völkermord an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 war längst schon wieder vergessen. Und von dem kommenden wollte man nichts wissen. Obwohl der Gröfatzke ihn der Welt in seiner Arier-Bibel doch ganz unverblümt verkündet hatte.
Auch noch nachdem das Unsagbare, Unaussprechliche eingetreten war, diese banal böse, buchhalterisch exekutierte, logistisch perfekt organisierte und vollends entmenschlichte Tötungsmaschinerie, der Holocaust als Solitär der Unmenschheitsgeschichte, fanden seine verzweifelten Bemühungen, seinen Vorschlag als internationale Konvention völkerrechtlich zu verankern, keinerlei Gehör.
Erst mit Bekanntwerden der systematisch betriebenen Vergasung der Juden in Auschwitz sowie der Veröffentlichung seines Buchs „Axis Rule in Occupied Europe“ und der damit einhergehenden Etablierung des Terminus technicus ‚Genozid’ änderte sich die Situation: 1948 nahm die UN-Vollversammlung den von Lemkin ausgearbeiteten Entwurf einer Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes einstimmig an – mittlerweile ist der Genozidverbot ius cogens, zwingendes Recht im Rahmen des Völkerrechts. Es besitzt damit weltweit verbindliche, allgemeine Gültigkeit.
Stand die Entstehung der Konvention noch ganz unter dem Eindruck des Völkermordes an Juden und Armeniern, so definierte die Formulierung der Konvention sowie ihre wortgleiche Aufnahme in die Statuten der Internationalen Strafgerichtshöfe den Genozid ganz generell: Ein Völkermord ist nach §6 des Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) eine Handlung, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.
Auf eben diesen §6 VStGB bezieht sich in Deutschland explizit §130 Abs. 3 StGB. Also das Gesetz, das die Leugnung des Völkermordes unter Strafe stellt. Wobei es, anders als es dieser Völkerrechtsparagraph nahelegen würde, eben nicht die Leugnung jedweden Völkermords unter Strafe stellt, sondern ausdrücklich nur den Genozid, der unter der Herrschaft des Nationalsozialismus stattgefunden hat:
„Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.“
Dieses deutsche Spezifikum der Einschränkung im ‚Gesetz gegen Holocaustleugnung’ ist aus historischen Gründen natürlich völlig nachvollziehbar, aber wenig angemessen. Was nicht allein die besagte Entstehungsgeschichte der Lemkinschen Konvention nahelegt, sondern auch die Intention, die mit ihrer Verabschiedung verbunden war: grundsätzlich jeden Genozid völkerrechtlich unter Strafandrohung zu stellen.
„Seit 2008“, so Karl-Peter Schwarz 2010 in einem Artikel in der FAZ, „verpflichtet ein Rahmenbeschluss die Mitgliedsländer der EU, ‚das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen’ unter Strafe zu stellen, sofern die Verbrechen „nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft“ begangen wurden.“
Also des Negationismus, die Leugnung des Völkermords, generell. So auch des Völkermords an den Armeniern. Eine Tat, die in der Schweiz, Slowakei, in Slowenien, Griechenland und Zypern bereits unter Strafe steht. Aber nicht in Deutschland. Da hat man es gerade eben erst geschafft, das im Parlament endlich als Völkermord anzuerkennen, worauf sich historisch ja die Etablierung des §6 VStGB gründet.
Auch wenn in diesen Tagen sicherlich anderes die Schlagzeilen beherrscht: Es ist zu hoffen, dass das Parlament schleunigst den zweiten Schritt tut. Und in gemeinsamer Initiative aller demokratischen Parteien eine Gesetzesinitiative einbringt, die den Rahmenbeschluss der EU von 2008 endlich umsetzt: die Leugnung eines jeden Völkermordes unter Strafe zu stellen.
Damit wäre solch ein unsäglicher Beschluss wie der des später zurückgenommenen Duisburger Integrationsrats vielleicht nicht zu verhindern gewesen. Aber man hätte durch diese Erweiterung des §130 Abs. 3 StGB eine Handhabe gehabt, strafrechtlich dagegen vorzugehen. Und hätte eine für die Zukunft.
Kommentare 2
Ich weiss nicht, ob die Kriminalisierung der Leugnung von historischen Gewalthandlungen eine gute Idee ist. Ich habe zwar stets den §130 StGB verteidigt, auch gegen Kritiker aus den USA und Israel, die das Recht auf freie Rede von höherem Wert erachteten als die strafrechtliche Unterbindung absurder und abstossender Geschichtsfälschungen. Ich sehe ihn aber auch im Kontext der deutschen Geschichte als erforderlich an, insofern der Schutz der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Nachkommen vor der Schändung der Erinnerung in Deutschland als besondere Verpflichtung angesehen werden muss.
Die in einem meiner Meinung nach törichten EU-Beschluss geforderte Universalisierung des Verbots der Genozidleugnung wirft aber eine grosse Zahl von Problemen auf.
Dass die Massenmorde an den Armeniern mehr waren als eine rücksichtslose Vertreibung, kann man beim Forschungsstand als unbestreitbar ansehen. Gleiches gilt auch für die deutsche Ausrottung der Hereros. Aber selbst dort gibt es Kolonialnostalgiker, die von Trothas unmissverständliche Mordaufrufe als "deftige Worte eines Militärs" herunterspielen, sich darauf berufen, dass doch auch Hereros überlebt hätten und so weiter. Hat man etwas davon, Geschichtspolitik mit dem Kadi zu betreiben?
Und es geht weiter und wird schlimmer. So ist es Teil des rechtsextremen ukrainischen Geschichtsnarrativs, die schwere Versorgungskrise in der UdSSR 1932/33 und die dadurch ausgelösten schweren Hungersnöte in der Ukraine, im Wolgagebiet und Westsibirien und verbreitetem Hunger in der gesamten UdSSR in dieser Zeit als "Holodomor" zum vorsätzlichen und geplanten Völkermord an den Ukrainern zu stilisieren, der dem Feind, den "Moskali" zur Last gelegt wird.
Dieses nicht nur von Rechtsradikalen und nicht nur von Ukrainern verbreitete Narrativ redet hier vom Völkermord. Soll der Osteuropahistoriker sich hier der Strafanzeigen des Banderapöbels erwehren müssen?
Und das geht weiter. Nicht ganz zu Unrecht wurde die Kriegführung der USA in Korea und Südostasien, vor allem der durch den rechtsextremen General Curtis LeMay geführte Luftkrieg als genozidal bezeichnet, auf Grund der Millionen Toten nicht ganz ohne Grund. Wer entscheidet hier über Genozid oder nicht?
Weiter werden vom Begriff des Genozides, also der auf Vernichtung abzielenden Gewalt gegen eine ethnische Gruppe, nicht alle Formen von Massengewalt erfasst. Zum Beispiel war das Vorgehen der kaiserlich japanischen Armee in China mit seinen grauenvollen Massakern, Massenvergewaltigungen, Menschenexperimenten und anderen Greueln mit 7-12 Millionen Toten kein Genozid, es zielte nicht auf die Vernichtung der Chinesen als Volk ab. Die japanischen Nationalisten, die diese Verbrechen leugnen, wären dann straffrei.
In den meisten Fällen reichen freie Rede und sorgfältige historische Forschung, zusammen mit engagierter Informationspolitik aus, um absurder Geschichtsapologetik zu entgegnen. In Sachen des Holocaust haben Forscher und Netzaktivisten eher mehr zur Isolierung und Diskreditierung der Leugner beigetragen als die gelegentlichen Strafanzeigen, auch wenn ich die hier durchaus für angemessen halte.
@AQUADRAHT
Eine sehr interessante Einlassung. Welche Massaker im einzelnen als Genozid bezeichnet werden können oder sollen ist sicherlich eine Frage, die primär Völkerrechtler zu beantworten haben. Ich stimme Ihnen aber absolut zu, dass es da Grenzfälle gibt und geben wird, bei denen eine Klassifizierung schwierig wird - wie allerdings bei der Klassifizierung einer Vielzahl anderer Straftaten auch.
Im Falle des Völkermords an den Armeniern und Juden ist eine solche völkerrechtlich verbindliche Klassifizierung, anders als bei den anderen von Ihnen genannten Fällen, erfolgt. Auf sie bezieht sich der Tatbestand der "Genozidleugnung", der in Deutschland noch immer allein auf den Holocaust bezogen wird.
Ob ein solcher Tatbestand sinnvollerweise als Tatbestand in die Strafgesetzgebung eingehen sollte, ist sicherlich eine grundsätzliche Frage, die an anderer Stelle erörtet werden kann. In Deutschland haben wir
diese Frage für uns mit Ja beantwortet. Nur sind wir bei der Umsetzung bei der Hälfte stehengeblieben. Und dies ist der Aspekt, um den es mir hier i. W. ging: die konsequente Anwendung.