Einheit und Untergrund

Individualdemokratie Schon wieder Tag der Deutschen Einheit ...

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... und wieder ist der Kopf leer. Doch halt, da war doch was ... ach ja: NSU. Das Akronym war bei mir bisher reserviert für ein Automodell ("NSU Prinz"), welches wohl in frühester Kindheit einen starken Eindruck bei mir hinterlassen haben muss (kann sein, dass ein Onkel oder so so einen fuhr), sonst hätte ich mir das Kürzel wohl kaum gemerkt. Als ich die drei Buchstaben erstmalig im Zusammenhang mit einer rechtsradikalen Terrorzelle aus dem Beitrittsgebiet hörte, glaubte ich spontan, die Gruppe habe sich wohl nach dieser längst verschwundenen Automarke benannt - war auch irgendwie ganz logisch, NSU, deutsche Wertarbeit von gestern, deutsche Tugenden, der deutsche Arbeiter etc.

Aber nixda. "Nationalsozialistischer Untergrund" klingt nun genauso verblasen idiotisch und falsch wie "Rote Armee Fraktion": eine systematisch unausgegorene Mischung aus Größenwahn, Sendungsbewusstsein und Dummheit. Hatte die Wiedervereinigung also doch "untergründige" Folgen in den 1990er und Nullerjahren gehabt, die erst jetzt ganz langsam und ganz schmerzhaft nach oben kommen:

Wir Untergründler sind halt 1989 unseren Staat losgeworden, stattdessen kam plötzlich die BRD einfach so nach drüben rüber über unseren Schutzwall - mit allem, was dazugehörte. Das war dann doch ein bisschen viel auf einmal. Gut, die Wessis waren natürlich auch komplett ätzend in ihrer klugscheißerischen Arroganz, aber noch viel ätzender waren ja diese Ausländer, die sich jetzt auch noch überall und ungehindert in unserer Heimat breitmachen konnten. Gottseidank, klar haben wir das gleich gemerkt, mochten die meisten Wessis die Ausländer genauso wenig wie wir. Man müsste irgendwas Krasses gegen die unternehmen, vor allem die Türken, die passen ja so was von überhaupt nicht zu uns, das sieht doch jeder gleich, der Augen im Kopf hat, total andere Mentalität, totale Orientalen, Deutsch können sie auch nicht, obwohl sie schon ewig hier sind, anpassen wollen sie sich sowieso nicht. Mein Gott, der Westen ist so lasch, lässt sich von diesen Ausländern auf der Nase rumtanzen, aber, nee, nich bei uns. Und wenn man mal das Maul aufmacht, heißt's immer gleich "Nazi-Schwein". - - - Ok, dann sind wir halt Nazis, man lässt uns ja keine andere Wahl, tut uns leid, irgendjemand muss doch mal ein deutliches Zeichen setzen gegen diese Überfremdung, diese schleichende Zersetzung unseres Landes! National denken, ja, davon faseln viele, aber wer tut denn mal was richtiges? Wenn sonst keiner Eier in der Hose hat, dann tun wir das halt. Opfern uns auf. Unser ganzes Leben. Für Deutschland. Für das wahre Deutschland.

Gut, dass derartige Gedanken nun endgültig der Vergangenheit angehören, im Jahr 2012 denkt ja niemand mehr so, völlig ausgeschlossen, das gibt's gar nicht mehr, das ist ja finsterstes 20. Jahrhundert, das. Hinterwäldlerisch, provinziell, ignorant, tribalistisch, von vorgestern, reaktionär, vernagelt. So was ist komplett ausgestorben, von der Globalisierung abgefrühstückt, in die Mottenkiste antiquierter Einstellungen etc.

Deutschland kann sich, außerdem, seien wir doch mal realistisch, schon aus wirtschaftlichen Gründen gar keine Ausländerfeindlichkeit leisten! Da bin ich ganz bei unserem tapferen und total ehrlichen Innenminister.

Ich bin beruhigt. Komplett beruhigt - und genieße den Tag der Deutschen Einheit ohne Reue. Die Vernunft wird siegen, ich weiß es einfach.

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Geschrieben von

Stefan Hetzel

Bürger, Publizist, Komponist (autonom, aber vernetzt)

Stefan Hetzel

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