Wer schützt meine Gefühle als Agnostiker?

Individualdemokratie Agnostiker aller Länder, ziert euch nicht, tut nicht so vornehm und erhebt eure Stimme! Verteidigt eure Würde des Nichtwissens!

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Ach menno, über nix darf man sich mehr lustig machen: über den Islam nicht (sowieso), über das Christentum nicht (bzw. immer weniger) und über das Judentum auch nicht (außer, man/frau ist Jude/Jüdin).

Nur Menschen, die einfach nicht wissen, ob es einen Gott gibt oder nicht (ich zum Beispiel), deren Haltung kann folgenlos mit Füßen getreten werden.

Scheinbar gehöre ich zur letzten weltanschaulichen Gruppe, die noch straflos beleidigt werden kann.

Doch damit ist jetzt Schluss!

Ich bin empört, ich bin beleidigt, ich bin zornig! Ich könnte Halbmondgraffittis übermalen, Kreuze von der Wand reißen oder siebenarmige Leuchter verbiegen! Ständig bin ich mit Menschen konfrontiert, die meinen Agnostizismus einfach nicht akzeptieren, ja, mir gar finstere Strafen (vor allem nach meinem Tod, mitunter aber auch schon zu Lebzeiten) androhen, falls ich mein Leben nicht augenblicklich in ihrem jeweiligen, allein seligmachenden Sinne, ändere.

Manchmal frage ich mich, wie ich das eigentlich alles aushalte, ohne vor leidenschaftlicher Empörung zu platzen.

Schade eigentlich, dass beim Agnostizismus die Toleranz sozusagen zum BIOS gehört und es deshalb selbstwidersprüchlich wäre, allen Gottgläubigen mal so richtig die Fresse zu polieren! Vor allem, wenn diese eingebaute Toleranz von jenen als "Laschheit" bzw. "Feigheit" oder gar "Unentschiedenheit" abgetan wird und mir anschließend die immergleichen drei Fragen gestellt werden:

  1. "Hej, Mann, hast du keinen Stolz?"
  2. "Glaubst du denn an gar nichts?"
  3. "Hast du denn gar keine Werte?"

Das macht mich dann noch zorniger.

Also, ihr Blödmänner, Antwort auf Frage 1: Mein Stolz fußt auf der Einsicht, die Existenz Gottes weder beweisen noch widerlegen zu können (Dies ist kein Atheismus. Der Atheist glaubt, beweisen zu können, dass Gott nicht existiert. Häufig ist mit dieser Einstellung ein Hass auf alles Religiöse verbunden, der mitunter genauso dogmatisch daherkommt wie eine religiöse Weltsicht. Gewissheit wie Hass des Atheisten sind mir gleichermaßen fremd.). Ich fühle mich aufgrund dieser, mühsam gewonnenen, Einsicht (wurde römisch-katholisch sozialisiert, mit allem Drum und Dran) religiösen Menschen keinesfalls überlegen, aber eben auch nicht unterlegen. Wenn ich gut drauf bin, kann ich ganz gut begründen, warum Agnostizismus eine vernünftige Weltsicht darstellt, die die Spielräume meines Handelns maximiert, ohne in Beliebigkeit zu münden.

Ich bin jetzt aber nicht gut drauf.

Antwort auf Frage 2: Nein, ich glaube tatsächlich an gar nichts. Ich weiß lieber. - Ich liebe allerdings. Die Wissenschaft zum Beispiel. Die Menschen (o. k., manche mehr, manche weniger). Die "Natur" (wenn ich nicht gerade im Winter an der Bushaltestelle lange warten muss). Und die Künste. Das reicht, nach meinem aktuellen Erfahrungsstand, vollkommen aus für ein Leben.

Antwort auf Frage 3: Natürlich habe ich Werte! Sie lassen sich in vier Buchstaben zusammenfassen: UDHR. Und ich lege Wert auf die Feststellung, dass moralisch einwandfreies Verhalten auch in Abwesenheit irgendeiner religiösen Grundeinstellung möglich ist. Die ethischen Grundlagen moderner Gesellschaften sollten deshalb auch ohne Verwendung religiöser Kodizes formuliert sein (der Gottesbezug im Grundgesetz beispielsweise ist antiquiert). Die weitverbreitete Ansicht unter Katholiken hierzulande: "Na ja, was der Papst sagt, ist natürlich Unsinn, aber unser Kind schicken wir schon in den katholischen Kindergarten, schließlich braucht es Werte!" - das, liebe Gottgläubige, ist wirklich lasch, feige und unentschieden!

Also, Agnostiker aller Länder, ziert euch nicht, tut nicht so vornehm und erhebt eure Stimme! Benutzt euren Verstand, traut eurer Intuition, gebt euren Gefühlen Raum! Nutzt eure geistige Freiheit, denn sie ist per definitionem größer als die der Gottgläubigen (nicht, dass das immer so leicht erträglich wäre)!

Verteidigt eure Würde des Nichtwissens!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Hetzel

Bürger, Publizist, Komponist (autonom, aber vernetzt)

Stefan Hetzel

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