Entfernt verwandt?

Ost-West-Deutschland Die Rechtsextremismus-Studie im Auftrag der Ostbeauftragten der Bundesregierung, Iris Gleicke, sorgt weiter für öffentliche Debatten.

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Zuletzt äußerte sich der Sachsen-Anhaltische Regierungschef Rainer Haseloff gegenüber der Bildzeitung: „Von solchen sogenannten Studien habe ich die Nase voll. Es ist nicht mehr hinzunehmen, dass wir Ostdeutschen permanent von Leuten seziert werden, die keinen Zugang zu unserer Geschichte und Mentalität haben. So bleibt auch diese sogenannte Analyse im Vorhof der Wahrheit stecken und schürt Vorurteile“.

Klar ist aber auch: Mit echten demokratischen Prozessen – mit Freiheit – kamen DDR-Bürger nicht in Kontakt. Das änderte sich erst mit der Wiedervereinigung. Doch so schnell wie diese kam, veränderte sich nicht das Anspruchsdenken gegenüber den politischen Prozessen oder dem Staat.

Doch blickt man ein Jahr zurück, erinnert man sich an eine ähnliche Debatte, die viele Ostdeutsche in Aufregung versetzte. Die Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bundestag Katrin Göring-Eckardt sorgte für Aufsehen, als sie die Mentalitäten von Ost- und Westdeutschen von einer anderen Perspektive aufgriff und darauf hinwies, dass Bürgerinnen und Bürger aus Ostdeutschland Migrationserfahrungen hätten, die es zu verstehen gilt.

Doch was ist dran an der Aussage, dass Ostdeutsche Migrationserfahrung haben?

Der Soziologe Alfred Schütz verfasste den Aufsatz „Der Fremde – ein sozialpsychologischer Versuch“, in dem er den Annäherungsprozess von Fremden und der Gesellschaft, der sie sich nähern, beschreibt. Damit die Frage beantwortet werden kann, muss man sich kurz die Theorie vor Augen führen.

In seinem Aufsatz schildert Schütz den Umstand „in der sich ein Fremder befindet, der versucht, sein Verhältnis zur Zivilisation und Kultur einer sozialen Gruppe zu bestimmen und sich in ihr neu zurechtzufinden“. In unserem Fall handelt es sich um die Zeit der Wiedervereinigung in Deutschland. Hier versuchten Ostdeutsche sich dem den Kultur- und Zivilisationsmustern ihrer westlichen Mitbürgerinnen und Mitbürger anzunähern.

Schütz definierte Fremde als „einen Erwachsenen unserer Zeit und Zivilisation […], der von der Gruppe […], welcher er sich nähert dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte“.

Doch damit dies gelingt, bedarf es den Fremden einer Motivation. Sie benötigen, um ihre (neue) Welt aktuell und potentiell einschätzen zu können, ein Streben nach graduellem Wissen. Damit meint Schütz, dass sie danach streben das Wissen zu erwerben, das sie benötigen, um das eigene Leben zu bestreiten.

Doch jeder Mensch findet unterschiedliche Lebensbedingungen vor – egal ob Fremde oder Nicht-Fremde. Hierdurch kommt es zur unterschiedlichen Relevanz von Wissen und zur unterschiedlichen Einschätzung der Dinge was letztlich „wahr“ ist. Doch auch diese Lebensbedingungen verändern sich und somit letztlich auch das Wissen.

Doch Schütz geht weiter. Er schreibt „Das Wissen des Menschen, der in der Welt seines täglichen Lebens handelt und denkt, ist nicht homogen“. Das Wissen und die Denkstrukturen sind also inkohärent, nur teilweise klar und in sich nicht konsistent.

Die Inkohärenz resultiert hier aus den stets schwankenden und sich verändernden Interessen in sozialen Gruppen. Nur teilweise klar ist dieses Wissen, da Individuen in der sozialen Gruppe nicht daran interessiert sind wie etwas funktioniert, sondern dass etwas funktioniert. Nicht konsistent ist der Ausdruck dafür, dass Menschen und ganze Gesellschaften mit völlig unvereinbaren Überzeugungen und Aussagen parallel und zeitgleich leben können. Doch Trotz all dieser Unterschiede und Fehlerquellen einer Gesellschaft die Schütz hier anführt, scheint die Gesellschaft in ihrem Wissen kohärent, klar und konsistent genug zu sein, um zu funktionieren. Es ist also dieses Wissen über das Funktionieren der Gesellschaft, dem sich die Gesellschaft und ihre Individuen hingeben ohne zu wissen, wie sie funktioniert – jedoch in der Erwartung, dass sie es tut.

Die Fremden stehen nun vor der Herausforderung begreifen zu müssen, was die Gesellschaft, der sie sich nähern, selbst nicht versteht. Sie müssen also das „Wissen von vertrauenswerten Rezepten“ erwerben, „um damit die soziale Welt auszulegen und um mit Dingen und Menschen umzugehen, damit die besten Resultate in jeder Situation mit einem Minimum an Anstrengung und bei Vermeidung unerwünschter Konsequenzen erlangt werden können“. Von den vorherrschenden Wissensarten und deren Relevanz ist der Fremde befreit, da er bisher an der Gesellschaft, der er sich nähert, noch nicht teilgenommen hat. Um die Gesellschaft aber zu verstehen muss er sie und ihre Funktionsweisen auch hinterfragen, was nicht selten dazu führt, dass Fremde als illoyal gelten – Stichwort: „Das haben wir schon immer so gemacht“ oder „Jammerossi“.

Im Prozess der Annäherung versucht der Fremde also die Rolle vom Beobachter zum Mitspieler zu verändern. Damit er das aber kann, muss er versuchen die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gesellschaft zu verstehen. Dabei muss er ihre Funktionsweisen beobachten, verstehen und später auch danach handeln. Dieser Prozess führt dazu, dass sich das Relevanz-System des Fremden verändert und er sich darüber an die neuen Kultur- und Zivilisationsmuster der Gesellschaft annähert.

Allerdings kommt es während dieses Prozesses, aufgrund der Vergangenheit des Fremden, zu Problemen im Erlernen der neuen Kultur- und Zivilisationsmuster. Zwar können manche Auslegungsarten von Handlungen zwischen alten und neuen Mustern miteinander verglichen werden, allerdings kann es hierbei auch zu Problemen kommen z.B. über die Sprache oder Mentalität.

So kann es aber auch dazu kommen, dass unausgesprochene aber angewandte Handlungen für Fremde nicht erkennbar sind, sie hieran scheitern und gleichzeitig daraus lernen. Typische Felder in denen derlei Dinge vorkommen können sind zum Beispiel das Einschätzen von Intimität, persönlicher Distanz, Unsicherheit im Handeln oder der Sprache.

Hieraus resultieren zwei Eigenschaften die man dem Fremden aus Sicht der Gesellschaft zusprechen kann. Zum einen nähert er sich der neuen Gesellschaft so objektiv wie es ihm nur möglich ist, da er das gesamte Kultur- und Zivilisationsmuster beobachten, analysieren, verstehen und anwenden muss. Aufgrund der Durchdringung des „Denkens wie üblich“ ist es dem Fremden nun möglich Widersprüche der Gesellschaft, der er sich annähert, aufzudecken, die diese so nicht wahrnimmt oder übergeht.

Doch was bedeutet dies angewendet auf die Migrationserfahrung von Ostdeutschen?

Nach über 40 Jahren der Teilung Deutschlands kam es 1990 zur Wiedervereinigung. Der Wunsch eines Volkes wieder ein Land sein zu wollen, konnte friedlich erfüllt werden. Trotz der Nationalität die, die Menschen einte, war die Teilung Deutschlands die Stunde Null der Deutschen Gesellschaften, denn ab hier begannen zwei unterschiedliche Entwicklungen.

Die Bundesrepublik Deutschland entschied sich für den Weg der Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft. Die Deutsche Demokratische Republik entschied sich für den Sozialismus und die Planwirtschaft. Zwei Entwicklungen, die unterschiedlicher kaum sein können.

Diesen Unterschied kann man vereinfacht am Beispiel „Arbeit in Ost und West“ nachvollziehen. Dort wo es in der Marktwirtschaft darauf ankommt unter allen Mitbewerbern den Besten zu wählen (und der Beste zu sein), war es in der Planwirtschaft der DDR derart gestaltet, dass es offiziell keine Arbeitslosigkeit gab. Der Staat sorgte de facto dafür, dass seine Bürgerinnen und Bürger in Arbeit kamen. Das passierte zwar im Westen ebenso über staatliche Arbeitsämter, im Osten allerdings gab es das Recht auf und somit auch die Plicht zur Arbeit. Diese staatliche Erziehung durch die DDR hat entsprechende Auswirkungen auf die Entwicklung der Bürgerinnen und Bürger. Denn aus Sicht der Ostdeutschen war auch noch lange Zeit nach der Wiedervereinigung der Ausspruch zu hören: „Der Staat gibt mir ja keine Arbeit“. Anders als im Osten war es im Westen bis dato allerdings so, dass der Staat eher die Hilfestellung zur Arbeitsfindung darstellte und den Individuen Verantwortung für sich selbst überließ. Hierbei explizit betont, dass es hier nicht um die Bedienung von Stereotype geht, sondern um die Beschreibung einer Entwicklungsphase.

Dies ist eine typische Migrationserfahrung. Das eigene Wissen zur Lösung von Problemen (zum Beispiel die Suche nach einem Arbeitsplatz) reicht nicht mehr aus, um das Problem zu lösen. Die alten Zivilisations- und Kulturmuster sind mit denen der neuen Gesellschaft nicht vergleichbar und können nicht mehr angewendet werden. Dies ist ein verkürzt dargestelltes Beispiel, aber es dient zur Verbildlichung einer Migrationserfahrung.

In den Neunzigern kam es zudem zu Begriffen wie „Besserwessi“ und „Jammerossi“. Beide Begriffe sind Ausdruck dieser Annäherung. Es lässt sich auf die in 40 Jahren unterschiedliche Entwicklung zurückführen. Während es in der ehemaligen DDR probat war vom Staat Leistungen wie Kinderbetreuung oder die Beschaffung von Arbeit zu erwarten, waren diese Leistungen in der Bundesrepublik weit weniger ausgebaut. Hierbei sei betont, dass keine der beiden Mentalitäten besser oder schlechter ist. Die oben benannten Begriffe aber sind Ausdruck des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Sozialisationen. Es muss natürlich gleichermaßen zugestanden werden, dass nicht nur Mentalitäten, sondern auch die Annäherung an die neue Gesellschaft für Verstimmungen sorgte. Denn während die Ostdeutschen sich dem neuen System noch nähern mussten, kannten die Westdeutschen dieses schon. Das allerdings machte sie blind für eventuelle Schwachpunkte, die die Ostdeutschen zum Beispiel in der schlecht ausgebauten Kita-Betreuung im Westen erkannten.

Jemand der neu im Team ist, der weiß, dass er es immer schwer hat neue Vorschläge einzubringen. Die alten Mitglieder im Team werden ihre Art des Handels zunächst immer erst einmal verteidigen; was zur Folge hat, dass die Vorschläge abgetan werden, bis man im Team angekommen ist. Ähnlich verhält es sich auch bei der Annäherung zwischen Ost und West. Es hat nichts damit zu tun, wo wir her kommen, sondern damit, dass wir Menschen sind. Das ist uns allen gemein.

Es ist also egal, ob ich die Familie des Partners oder der Partnerin kennenlernen will, in einen Fußballclub eintrete, in eine neue Klasse oder in ein Land komme, in dem ich auf Dauer bleiben will. Eines haben alle Beispiele gemein: Sie zeigen, dass man immer ein Fremder ist, auch wenn man in einer ähnlichen oder sogar der gleichen Gesellschaft sozialisiert worden ist.

Und um die Frage zu beantworten, ob Ostdeutsche Migrationserfahrungen haben: Ja, es sind Migrationserfahrungen. Wir Ostdeutsche sind ebenso Migranten wie Westdeutsche, die nach Ostdeutschland ziehen oder Syrier oder Serben die nach Deutschland kommen.

Vor dem Hintergrund der enormen Integrationsleistung der Ostdeutschen muss die öffentliche Kommentierung der Studie der Ostbeauftragten wie eine Aberkennung der erbrachten Leistungen wirken. Gerade sie sind hier sensibel, denn ihr Anteil zur Systemintegration ist erheblich höher einzuschätzen als der Teil, den Westdeutsche erbringen mussten.

Doch gleichzeitig schützt diese Leistung nicht davor, den offenen Punkt der ausbaufähigen Demokratiedefizite klar benennen zu müssen. Blickt man auf die ostdeutschen Wahlergebnisse, die fremdenfeindliche Parteien immer wieder einfahren, wird das Problem klar. Dennoch muss auch klar sein, dass die Gründe für diese Zustände nicht monokausal erklärbar sind. Es liegt an der DDR-Sozialisation der Ostdeutschen sowie an den natürlichen soziologischen Annährungsprozessen, aber auch an den Fehlern die im Rahmen der Wiedervereinigung begangen worden sind – in dem man das Werben für unsere Demokratie als minder wichtig betrachtet hat.

Es ist ein schwieriges Thema, das hier aufgegriffen worden ist. Schließlich geht es um die Lebensleistung von vielen Menschen im Osten des Landes, die sich in ein völlig neues System integriert haben, um die Funktionsweisen der Bundesrepublik zu adaptieren. Diese Leistung muss anerkannt werden. Gleichzeitig ist es nicht einfach Ostdeutsche darauf hinzuweisen, dass ihr Verhältnis zu den demokratischen Prozessen und Werten ausbaufähig ist. Doch hier bedarf es Sensibilität, denn man muss sich vor Augen führen, dass die DDR ein autokratischer Staat war.

Doch all diese Gründe dürfen nicht dafür benutzt werden, den Status quo zu rechtfertigen. Es braucht mehr Akzeptanz für Demokratie in unserer gesamten Gesellschaft - aber und gerade (das sage ich als Ostdeutscher) im ostdeutschen Teil der Gesellschaft.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Krabbes

Blogger & Speaker zu Digitalisierung & Demokratie.twitter: @stefankrabbes

Stefan Krabbes

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