Barfuß auf Eis

Öffentlichkeit im Umbruch Welche Rolle haben wir als Nutzer*innen: Tragen wir eine neue Verantwortung? Und was für einen Raum bilden soziale Medien? Sicher ist nur die Unsicherheit

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Jetzt lass uns nicht reizüberflutet sein, bitte
Jetzt lass uns nicht reizüberflutet sein, bitte

Foto: Jean-Francois Monier/AFP/Getty Images

Es ist keine neue Entwicklung, dass Menschen den Eindruck haben, die Welt drehte sich immer schneller. Meine Großmutter pflegte in den 90er-Jahren immer zu sagen – ich war noch ein kleiner Junge – : „Stefan, du kannst den Fernseher eigentlich nicht mehr anmachen: Überall nur noch Mord, Totschlag und Krieg“. Es ist 2018 und die Worte meiner Großmutter scheinen aktuell wie in den 90ern. Dabei ist die Welt so friedlich wie noch nie. Zu diesem Ergebnis kommt Steven Pinker, Psychologe an der Elite-Universität Harvard, in seinem 2011 erschienen Buch „Gewalt – eine neue Geschichte der Menschheit“. Woher kommt also der Eindruck, es würde immer schlimmer?

Öffentlichkeit im Umbruch

Schon Niklas Luhmann hielt fest: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Medien“. Freilich ist dieser Satz nicht differenziert genug, aber in seiner Gesamtheit kann er als zutreffend betrachtet werden. Als Luhmann diesen Satz 1996 festhielt, war die Medienlandschaft eine gänzlich andere: Es dominierten die linearen Medien, und an soziale Medien war noch nicht zu denken. Im Jahre 2018 finden wir eine andere Situation vor. Die sozialen Medien haben einen bedeutungsvollen Platz in der Öffentlichkeitsbildung eingenommen. In ihnen werden Ereignisse kommentiert oder gesellschaftliche Debatten ausgelöst und geführt. Dies stellt in besonderer Weise eine Herausforderung z.B. für Verlage und den Rundfunk dar.

Durch die machtvolle Position sozialer Medien verändert sich die Struktur der Öffentlichkeit erneut, da die Gatekeeper-Funktion klassischer Medien egalisiert wird. Jeder Mensch, der sich im Netz bewegt, kann heute Sender und Empfänger gleichermaßen sein. Doch gerade die Senderfunktion oblag lange Zeit den klassischen Medien. Nun aber kann jeder Mensch, mir inklusive, ohne Hindernisse die Öffentlichkeit beeinflussen und somit gesellschaftliche Diskurse auslösen und beeinflussen. So teilen klassische Medien, die mittlerweile ihrerseits ihre Digitalisierungsstrategien entwickeln, sich diese Funktion mit weitreichenstarken Userinnen und Usern. Diese, in der Sache positive Entwicklung mit Blick auf die persönlichen Freiheitsrechte, stellt sich aber gleichzeitig als Herausforderung für eine demokratische Gesellschaft dar. Denn neugewonnene Freiheit braucht auch neue Verantwortung.

Das Senden lernen, das Empfangen neu lernen

Dieser Verantwortung kommen wir als mündige Bürgerinnen und Bürger nur dann nach, wenn wir reflektieren, welche Grundlagen und welche Auswirkungen unser Handeln hat und haben kann. Postings, Tweets und Klicks können weitreichende persönliche, aber auch gesellschaftliche Folgen haben. Die Öffentlichkeit ist ein Markt, auf dem mit Aufmerksamkeit und Prestige gehandelt wird. Schon in meinem Beitrag „Nach Facebook: Dezentralisieren wir das Internet!“ forderte ich daher ein digitales sapere aude.

Unreflektiertes Agieren in sozialen Medien ist wie betrunken autofahren: Es kann das eigene Leben und das anderer zerstören. Ein aktuelles Beispiel hierfür lieferte die US-Amerikanische Schauspielerin Roseanne Barr. Der TV-Sender ABC entschied sich, die erst vor kurzem neu aufgelegte Sendung Roseanne nach einem rassistischen Tweet Barrs umgehend abzusetzen. Barr hat damit allen geschadet und produzierte umgehend einen Hatestorm gegen sich selbst.

In Zeiten einer sich rasant verändernden Öffentlichkeit, in der jeder Mensch zum Sender geworden ist, muss die Frage aufgeworfen werden, wie wir senden wollen. Die neuen Sender sind sich im Zeitalter der sozialen Medien ihrer neuen Rolle noch nicht völlig bewusst. Doch auch sie tragen, wie bereits erwähnt, Verantwortung. Der klassische Journalismus kennt hier klare publizistisch-ethische Verhaltensregeln – den Pressekodex. Aber was sind unsere? Sich grundsätzlich am Pressekodex zu orientieren erscheint als gute Lösung. Das würde den Prozess der Verspiegelbildlichung vorantreiben und die bisher offline gelebten Werte auch ins Digitale hineintragen. Denn wir müssen verstehen: Es gibt keine zwei Öffentlichkeiten, sondern nur eine Erweiterung der analogen um die digitale Öffentlichkeit.

Neben dem Senden, muss aber auch das Empfangen neu erlernt werden. Anders als man allgemeinhin den Eindruck erlangen kann, leben wir nicht in präapokalyptischen Zeiten. Die Digitalisierung erhöht wohl aber die Geschwindigkeit öffentlicher Aushandlungsprozesse. Mehr Sender auf dem Markt verlangen den Empfängerinnen und Empfängern ab, den Markt neu zu erfassen, deren Informationen einzuordnen und die gebotene Qualität zu beurteilen.

Soziale Medien als Raum

Doch nicht nur der Umstand, dass wir zu neuen Sendern geworden sind und das Empfangen neu lernen müssen, beeinflusst unsere disruptive Zeit. Auch fehlt es uns bisher an Vorstellungskraft, in welchem Raum und in welcher Zeit wir uns bewegen, wenn wir in sozialen Medien bzw. dem Internet unterwegs sind.

Niemand würde auf die Idee kommen, im Winter barfuß auf die Straße zu gehen. Worauf ich hinaus will? Wir bewegen uns im Netz barfuß auf dem Eis. Wir haben noch nicht hinreichend darüber nachgedacht, in welchem Raum und welcher Zeit wir uns im Internet bewegen. Doch genau diesen Raum müssen wir verstehen, wenn wir darin mündig bestehen und ihn mitgestalten wollen.

Gerade soziale Medien verbinden weltweit Menschen miteinander. Hierdurch können sich Menschen untereinander bewerten, austauschen, informieren. Doch das Entstehen sozialer Medien bleibt nicht folgenlos. Sie schaffen einen allumfassenden Raum, der die uns bekannten Ebenen verschwimmen lässt: Aus lokal, regional und global entsteht der universelle Raum. In diesem universellen Raum ist es dem bisher lokal agierenden Akteur möglich, auf allen Ebenen zeitgleich zu agieren. Der kanadische Philosoph Herbert Marshall McLuhan thematisierte diese Entwicklung bereits in den 1960er Jahren in seinem Buch „Die Gutenberg-Galaxis“ und prägte dazu den Begriff des Global Village, des globalen Dorfes. Seine Analysen scheinen aktueller denn je.

„Wir leben heute im Echoland. In einer simultanen, unmittelbar gleichzeitigen Welt – das ist Echoland. Und das ist der Hörraum. Der hat eine ganz besondere Eigenschaft: Er bildet eine perfekte Sphäre, deren Zentrum überall ist und deren Grenzen nirgendwo sind. Er ist total unsichtbar und nicht visualisierbar.“ – Herbert Marshall McLuhan

Was McLuhan hier beschrieb, stellt sich heute als große Herausforderung unserer Lebenswirklichkeit dar. Soziale Medien konstruieren genau diesen universellen Raum, das globale Dorf.

Ein abgesetzter Tweet aus der Provinz Sachsen-Anhalts kann so plötzlich zum medialen Hit in den Vereinigten Staaten von Amerika werden. Ohne soziale Medien, ohne die weltweite Vernetzung von Individuen, wäre dies nicht ohne weiteres möglich. Dieser universelle Raum ist überörtlich.

Soziale Medien als Zeit

Aber nicht nur die räumlichen Ebenen, sondern auch die Zeitebenen geraten näher zueinander. Der Soziologe Hartmut Rosa beschrieb in seinem Buch „Beschleunigung“ vier Zeitebenen. Drei davon machte er in der Alltagszeit, der Lebenszeit sowie der Weltzeit aus. Hartmut Rosa spricht von „unserer Zeit“. Diese setze ich in diesem Beitrag jedoch der Weltzeit gleich. Während die Alltagszeit auf das alltägliche Leben (Tagesablauf) reduzieren lässt, bezieht sich die Lebenszeit auf die Zeit von Geburt bis Tod und die Weltzeit auf die Geschehnisse auf die man als Individuum keinen Einfluss hat.

Für uns als Userinnen und User sozialer Medien, die wir täglich nutzen, kommt es zu einer Synchronisation dieser Ebenen. Gerade soziale Echtzeitmedien wie Twitter tragen hierzu bei. Was jetzt in Syrien passiert, ist in wenigen Sekunden schon als Tweet oder Livestream auf meinem Smartphone. Was Trump jetzt in Washington äußert, folgt sekundenschnell der Nachricht aus Syrien. Diese Tweets erreichen mich während des Zähneputzens. Ich reagiere meinerseits mit einer Kommentierung. Weltzeit und Alltagszeit sind synchron. In diesem Szenario lasse ich die bereits bestehenden Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz, zukünftig eintretende Ereignisse anhand von Wahrscheinlichkeiten vorhersagen zu können, noch außen vor.

Soziale Medien als universelle Raumzeit

Die neue Möglichkeit der Synchronisierung von Raum- und Zeitebenen schafft eine universelle Raumzeit: In ihr kann immer alles überall sein und nie nichts nirgendwo. Dies hilft freilich nicht dabei, den Raum und die Zeit zu beschreiben, in denen wir uns im Digitalen bewegen. Allerdings bietet diese Erklärung Anhaltspunkte zum weiteren Verständnis. Frei nach Kants Beschluss zur praktischen Vernunft könnte es helfen, richtete man den Blick nicht auf das große Ganze, sondern auf das Kleine im Ganzen.

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ – Immanuel Kant

Versuchen wir also nicht mehr, die universelle Raumzeit zu verstehen, sondern die sozialen Handlungen in ihr, dann könnten wir uns über die Wirkungsweisen bewusster werden, die in ihr herrschen. Was also hieraus abgeleitet werden kann, ist, dass sich durch soziale Handlungen digitale Orte auffinden lassen. An dieser Stelle widerspreche ich McLuhan in Teilen, denn der „Hörraum“ ist durch soziale Handlungen im Netz visualisierbar. Über verschiedene Datenanalysen wurden in den letzten Monaten z.B. Verbindungen unter Rechtsextremen sichtbar gemacht, die digitale Meinungshoheit über verschiedene Themen der Öffentlichkeit erlangen wollten. Reconquista Germanica ist hierfür wohl das bekannteste Beispiel.

Wer also im Netz nicht barfuß auf Eis laufen will, sollte reflektieren, in welchem digitalen Ort man sich bewegen will: Reconquista Internet oder Reconquista Germanica?

Fälle wie diese zeigen aber auch, vor welchen Herausforderungen unsere Weltgesellschaft steht. Wir müssen uns also immer wieder die Frage stellen, wie sich Öffentlichkeit zusammensetzt – und wer mit welchen Mitteln und Intentionen daran arbeitet, sie zu dominieren. Das ist sowohl für eine innenpolitische, aber auch außenpolitische Sichtweise unverzichtbar. Denn gerade hier machen sich die Auswirkungen der universellen Raumzeit intensiv bemerkbar – als Beispiel sei hier nur die Einmischung Russlands in die US-Präsidentschaftswahl angeführt.

Öffentlichkeit: Ein stetiger Aushandlungsprozess!

Nun hätte ich tun können, was mir meine Großmutter in den 1990er Jahren nahelegte: Mich lossagen von den Medien und ein befreites, sorgenfreieres Leben fristen können – ganz ohne Mord, Totschlag und Krieg. Doch das wäre keine Lösung gewesen! Eine demokratische, pluralistische Gesellschaft lebt von Einmischung und vom Ringen um die besseren Argumente.

In Zeiten der Digitalisierung gewinnen wir neue Freiheiten, aber übernehmen auch neue Verantwortungen. Als Sender wie auch als Empfänger ist es unsere Aufgabe, am Aushandlungsprozess der Öffentlichkeit teilzunehmen. Auch um die Freiheit nicht denen zu überlassen, die sie nutzen wollen, um sie abzuschaffen.

So möchte ich mit einem Zitat von McLuhan schließen, das uns Ansporn sein sollte, unsere Öffentlichkeit stets neu auszuhandeln, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass morgen die Welt unterginge.

„Statt sich in eine Ecke zu verkriechen und darüber zu jammern, was die Medien mit uns anstellen, sollte man zur Attacke blasen und ihnen in die Elektroden treten.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Krabbes

Blogger & Speaker zu Digitalisierung & Demokratie.twitter: @stefankrabbes

Stefan Krabbes