Nach den großen Gesten

Willkommenskultur Die Hilfsbereitschaft der Deutschen gegenüber den Geflüchteten ist groß. Aber die Politik ist weit davon entfernt, auf die Herausforderungen angemessen zu reagieren
Ausgabe 38/2015
Schein oder Sein: Zwischen Merkels schönen Worten und ihrer realen Politik gibt es eine große Diskrepanz
Schein oder Sein: Zwischen Merkels schönen Worten und ihrer realen Politik gibt es eine große Diskrepanz

Foto: Sean Gallup/AFP/Getty Images

Bei einer Diskussionsveranstaltung zum Thema Flüchtlinge stand dieser Tage jemand aus dem Publikum auf und sagte in etwa dies: Diese ganze Begeisterung über die neue deutsche Willkommenskultur sei doch nichts anderes als eine Inszenierung von Angela Merkel und ihren willigen Helfern bei den Medien. In Wahrheit sei Deutschland so dunkel wie eh und je, und genau das wolle die Bundeskanzlerin verschleiern. Aber man werde es schon noch merken, wenn die scheinbar flächendeckende „Wir sind die Guten“-Bewegung sich wieder verlaufen habe.

Man kann sagen: Der Mann lief zwar in eine gedankliche Falle, aber so ganz unrecht hatte er auch nicht. Die gedankliche Falle ist diese: Wer den Applaus für die erschöpft in Deutschland ankommenden Flüchtlinge, das gesellschaftliche Engagement bei ihrer Aufnahme und Versorgung nur als Ausfluss einer manipulativen Strategie beurteilt, diskreditiert ungewollt auch diejenigen, die keine Kanzlerin oder Bild-Zeitung brauchen, um das Wort Willkommen zu buchstabieren. Ja, er droht auch diejenigen zu diskreditieren, die seit Jahren mit politischem Hintergrund und politischen Zielen Flüchtlingsarbeit machen – meistens gerade gegen die Politik der Regierung Merkel – und sich nun plötzlich für einen Moment und ohne eigene Schuld im Mainstream der Willkommenskultur wiederfinden.

Allerdings: So wenig es weiterhilft, den verdächtig einheitlichen Stimmungswandel im Land pauschal als verlogen abzuqualifizieren, so unangemessen wäre es auch, in ungeteilte Begeisterung zu verfallen. Denn in einem hatte der Mann aus dem Publikum recht: Dem Bekehrungserlebnis der Kanzlerin und ihrer Verwandlung zur Hoffnungsträgerin der Flüchtenden mangelt es tatsächlich an Glaubwürdigkeit, ganz anders als dem Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger.

Nicht dass die neue Offenheit und Aufnahmebereitschaft, die die deutsche Politik derzeit zelebriert und praktiziert, zu verwerfen wären. Aber sie brechen sich in zumindest zweifacher Hinsicht an der Realität. Zum einen steht die Politik der großen Koalition in Deutschland noch lange nicht im angemessenen Verhältnis zu den Bekundungen der Kanzlerin – das hat die Wiedereinführung der Grenzkontrollen am vergangenen Wochenende auch dem Letzten bewiesen. Zum anderen hat sich das rassistische und fremdenfeindliche Potenzial in der Gesellschaft noch lange nicht verflüchtigt, nur weil es derzeit nicht die Stimmung beherrscht.

Bruch mit der Realität

Da ist also zunächst die Politik. Eine belgische Zeitung hat vor ein paar Tagen geschrieben, Europa müsse sich zwischen Angela Merkel und dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbàn entscheiden. Gemeint war: zwischen gut (Merkel) und Orbàn (böse). Und ähnlich klingt es in Europa immer häufiger. Ein Leitartikel über das neue, helle Deutschland als moralische Führungsmacht Europas jagt den anderen.

Es ist richtig und gut, dass die Kanzlerin wenigstens an den Resten des längst eingeschränkten Asyl-Grundrechts in der Verfassung nichts ändern will. Ebenso gut und richtig war die spontane Aufnahme von Flüchtlingen aus Ungarn. Aber insgesamt gilt: Wenn Merkels Politik wirklich die einzige Alternative zur offenen und zynischen Flüchtlingsbekämpfung à la Ungarn wäre, dann wäre noch nicht viel gewonnen. Vom derzeit häufig vermittelten Eindruck, hier werde die Flüchtlingsfrage in ihrer Dimension erkannt und entschlossen angepackt, ist die Wirklichkeit weit entfernt. Es bedarf nur weniger Beispiele für die reale Politik der Bundesregierung, um diesen Befund zu belegen.

Erstens: Die Grenzen mehr oder weniger dichtzumachen, um andere EU-Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen zu zwingen, stellt nichts anderes dar als genau das, was Deutschland an anderen kritisiert: nationalen Egoismus. Wer will, dass nicht alle nach Deutschland kommen, wird auf europäischer Ebene gegen nationale Abwehrstrategien und für gemeinsame Standards bei Aufnahme und Versorgung eintreten müssen. Und wer in Haushaltsfragen jeden Widerstand zu brechen vermag, sollte sich auch in Asylfragen durchsetzen können. Zur europäischen Lösung würde übrigens auch ein europäischer Verteilungsschlüssel für die Finanzierung der Aufnahme gehören. Egal in welchem EU-Land die Menschen bleiben, die Kosten würden fair verteilt.

Zweitens: Die Aufnahme der in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge durch Deutschland sah zwar aus wie die faktische Anerkennung der Tatsache, dass das untaugliche Dublin-System gescheitert ist. Nach den Dublin-Regeln müssen Asylbewerber bekanntlich dort registriert werden, wo sie erstmals den Boden der EU betreten, und das wäre in diesem Fall Ungarn gewesen. Aber grundsätzlich hält Deutschland stur an den Dublin-Regeln fest, die den EU-Randstaaten seit Jahren die höchsten Lasten aufgebürdet haben.

Offenbar hat Merkel die Hoffnung, auf diese Weise auch künftig Flüchtlinge von Deutschland fernzuhalten, immer noch nicht aufgegeben. Oder aber – noch plausibler – sie benutzt Dublin als Faustpfand, um andere EU-Staaten zur Aufnahme größerer Flüchtlingszahlen in einem künftigen Quotensystem zu zwingen. Als könnte man in dieser Weise mit dem Schicksal von Menschen spielen, die man, kaum haben sie Europa erreicht, auf eine zweite Odyssee quer über den Kontinent zwingt.

Drittens: Niemand sollte vergessen, dass der Weg nach Europa nach wie vor lebensgefährlich ist – weil deutsche und europäische Politik sich bis heute weigert, den Menschen aus den arabischen und afrikanischen Krisenregionen einen legalen und sicheren Weg ins Asylverfahren zu ebnen.

In diesem Zusammenhang ist übrigens das Verhalten der ungarischen Regierung nicht nur menschenverachtend; das ist es auch. Aber es hat zugleich eine Ursache darin, dass Ungarn bisher zu den von Dublin besonders belasteten Ländern gehörte, nicht zuletzt zur Entlastung Deutschlands. Was Orbàn seine Hetze heute erheblich erleichtert.

Viertens: Sechs Milliarden Euro, das ist eine große Zahl. Aber angesichts der Flüchtlingszahlen dürfte die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft recht haben mit der Vorhersage, dass dieses von Berlin zugesagte Geld nicht reicht. Notwendig wäre es, ohne willkürliche Obergrenzen das bereitzustellen, was für Versorgung, Spracherwerb und erste Integrationsmaßnahmen gebraucht wird – etwa in Form eines Durchschnittsbetrages pro Asylbewerber, wie von den Grünen und auch von SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi gefordert.

Fünftens: Es fällt auf, dass im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsthema zwei sehr schöne Begriffe zweckentfremdet werden: Solidarität und Umverteilung. Solidarität wird zum Synonym für das Bedürfnis Deutschlands, möglichst bald wieder möglichst viele Flüchtlinge an andere, „solidarische“ EU-Staaten abzugeben. Und Umverteilung steht dann für das Verschiebesystem, das Asylbewerber ohne Rücksicht auf ihre Wünsche und ihre individuelle Lage quer durch Europa schickt, um irgendeiner Quote zu genügen.

Soll der Begriff Solidarität einen Sinn haben, dann müsste es um die gerechte Verteilung finanzieller Lasten gehen, und zwar in doppelter Hinsicht. Einmal wären nicht Menschen, sondern Kosten unter den EU-Mitgliedern je nach Leistungskraft aufzuteilen. Und außerdem müssten Deutschland und die EU endlich aufhören so zu tun, als könnten sie die notwendigen Mittel dazu aus der Portokasse nehmen, statt die Finanzierung durch eine gerechte Besteuerung am oberen Ende strukturell zu sichern. Das ist es, was man landläufig und mit Recht Umverteilung nennt.

Sich aus einem wegen guter Konjunktur gut gefüllten Etat zu bedienen, wie Deutschland es jetzt tun will, ist dagegen riskant. Niemand sollte vergessen, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble schon angedeutet hat, was er bei Bedarf für seine schwarze Null zu tun gedenkt: Wenn das überschüssige Geld für die Flüchtlinge nicht reiche, müsse eben anderswo im Etat gespart werden. Wer auf diese Weise eine Debatte „Schulen oder Flüchtlingsheime“ provoziert, wird erleben, wie sich die derzeit so freundliche Stimmung ändert.

Sechstens: Ein weiterer Beleg für die Diskrepanz zwischen Merkels schönen Worten und ihrer realen Politik ist die Weigerung, die Zuwanderung vom Balkan zu regeln. Hier bedient sie sich stattdessen der alten Abschottungsmethoden: Das individuelle Recht auf Asyl, das auch zu gelten hätte, wenn unter den Zugewanderten auch nur ein Einziger es beanspruchen könnte, wird durch das pauschale Erklären von Staaten zu „sicheren Herkunftsländern“ durchlöchert. Und ein Einwanderungsgesetz, das andere legale Wege böte, wird zugleich verweigert.

Aber wie gesagt: Nicht nur zur Regierungspolitik steht Angela Merkels neue Rolle als Königin des hellen Deutschlands im Widerspruch, sondern sicher auch zur Wirklichkeit in der Gesellschaft. Ja, dieses Deutschland zeigt sich offener, liberaler und auch weniger ängstlich als noch kurz nach der Vereinigung. Aber es wäre fatal, nun plötzlich das Angst- und Abwehrpotenzial zu unterschätzen, das es selbstredend immer noch gibt.

Zeit, offen zu reden

Es kann schon erstaunen, wie schnell auch viele Medien die Brandanschläge und Hassattacken vergessen haben, für die Namen wie Heidenau und Tröglitz stehen, aber auch mancher Ort im Westen. Dabei müsste jeder wissen: Die Gesellschaft ist nicht geschlossen eine offene. Und es ist wahrscheinlich nicht nur das leicht identifizier- und ausgrenzbare „Pack“, das mit dem momentanen Mainstream der allgemeinen Gutwilligkeit wenig anfangen kann.

Wo einigermaßen offen geredet wird, kann man im Alltag auch unter Wohlgesonnenen Ängste spüren, etwa vor dem Einschleusen von Terroristen unter dem Schutz der Fluchtbewegungen. Es wäre dumm, das Ansprechen solcher Befürchtungen einem Rechtsaußen wie Hans-Peter Friedrich von der CSU zu überlassen, der sie gezielt schürt, um die Aufnahmebereitschaft zu senken.

Wollte Merkel diese Aufnahmebereitschaft auf Dauer fördern, dann müsste sie es sein, die darüber spricht – und den Menschen sagt, dass an unserer Abschottungspolitik schon jetzt mehr Menschen gestorben sind, als nach menschlichem Ermessen je einem Terroranschlag zum Opfer fallen werden. Sie könnte sagen: Ja, dass unter den Zuwanderern nicht ausschließlich gute und ehrliche Menschen sind, ist anzunehmen – auch wenn es trotz allem wahrscheinlicher bleiben dürfte, zu Hause von der Leiter zu fallen und sich das Genick zu brechen, als Opfer eines Anschlags zu werden. Aber Abschottung ist auch schon deshalb nicht die Alternative, weil diejenigen, die über kriminelle Energie verfügen, am ehesten auch illegale Wege zu uns finden.

All das also könnte Angela Merkel sagen und tun. Dass das geschieht, ist außerordentlich unwahrscheinlich. Und deshalb sollte der kritische Teil der Gesellschaft ihr die neue Rolle als Königin der Guten in Europa nicht so einfach durchgehen lassen.

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