Eine Frage des Wollens

#ZeroCovid Manche wollen beim Kampf gegen SARS-Cov-2 nicht übertreiben, andere schon. Ein Beitrag gegen Maß und Mitte

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Wer nur auf seine eigenen Befindlichkeiten bedacht ist, übersieht Millionen Arbeitnehmer mit Vorerkrankungen, die jeden Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach wie vor  in überfüllte Büros zu fahren haben
Wer nur auf seine eigenen Befindlichkeiten bedacht ist, übersieht Millionen Arbeitnehmer mit Vorerkrankungen, die jeden Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach wie vor in überfüllte Büros zu fahren haben

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Seit vergangenem Donnerstag gibt es in Deutschland neben Unterstützern der Coronamaßnahmen der Regierung und einer diffus-wirren, von Neoliberalen und den Rechtsradikalen angeführten Opposition zu ebendiesen Maßnahmen eine dritten Gruppe: diejenigen, die der Meinung sind, dass die Regierung die Pandemie nicht entschlossen genug bekämpft. Der dazugehörige Aufruf ist bei aller Überparteilichkeit dezidiert links und wurde neben Wissenschaftlern, Medizinern und Kulturschaffenden auch von zahlreichen linken Politikern initiiert.

Dass die rechtsradikale Zeitschrift Compact, das rechtskonservative Online-Medium Tichys Einblick oder Welt-Chef Ulf Poschardt dagegen wettern, ist wenig überraschend. Der Aufruf war gar nicht darauf ausgelegt, die Vertretung des wildgewordenen Kleinbürgertums mitzunehmen. Kritik aus der Linken selbst bedarf hingegen einer Antwort. Einer der führenden marxistischen Sozialwissenschaftler in Deutschland, Alex Demirović, hat in analyse und kritik eine solche Kritik formuliert.

Demirovićs Reaktion auf #ZeroCovid hat sieben Kapitel:

  1. Ein europäischer Lockdown ist nicht realistisch.
  2. Ein Ende der Pandemie ist nicht möglich.
  3. Ein harter Lockdown kann nur polizeilich durchgesetzt werden.
  4. Die geforderte Solidarität ist zwiespältig.
  5. Die Kapitalinteressen sind vielschichtiger, als der Aufruf behauptet.
  6. Die Gefahren für die Demokratie fallen unter den Tisch.
  7. Der Verweis auf die Wissenschaft ersetzt keine Politik.

Die Frage der Machbarkeit ist ein guter Anfang. Die EU ist notorisch vielstimmig und kriegt sich selbst bei Beschlüssen über solidarische Unterstützung an besonders betroffene Länder in die Haare. Die Pandemie ist eine Angelegenheit, bei der alle mitmachen müssten. Nur: Wann hat die Unwahrscheinlichkeit eines Sieges die Linke je davon abgeschreckt, sich Ziele zu setzen? Es ist zum Beispiel unwahrscheinlich, dass die Menschheit die Erderwärmung unter 2 Grad Celsius gedrückt bekommt. Ein einzelnes Land, ein einzelnes Bundesland, eine einzelne Kommune kann nicht im Alleingang den Klimawandel stoppen, wohl aber die eigene Wirtschaft vor die Wand fahren.

Christian Lindner hat recht, wenn er sagt, dass man die Welt nicht rettet, indem man Deutschland in ein Land der veganen Radfahrer verwandelt. Trotzdem muss man auch den unmöglichen Kampf anpacken, weil die Alternative eben grauenvoll ist. Wenn man liest, dass die Lungen von den asymptomatischen Covid-Infizierten schlimmer aussehen als nach lebenslangem Kettenrauchen, dann muss man jede Erkrankung verhindern wollen.

Natürlich ist es grundsätzlich möglich, dass die Länder der EU eine ZeroCovid-Strategie beschließen. Sie können, wie in China, jeden Einreisenden einer Quarantänepflicht unterwerfen. Sie können Flughäfen schließen, sie können Ländern, die aus der gemeinsamen Strategie ausscheren, aus dem Schengener Raum ausschließen. Die Kulturpraxis der Grenzkontrollen ist nicht verloren gegangen, das weiß jeder Geflüchtete. Wenn es die von Lenin geschätzte Deutsche Post vorübergehend nicht gäbe, wäre es unvorstellbar, für 1,10 Euro ein Blatt Papier einem Menschen in Japan zustellen lassen zu können. Es gibt die Post, weil die Menschheit es sinnvoll findet, dass es sie gibt. Es ist keine bloße bürokratische Machtfantasie, wenn man etwas vorher unvorstellbar Geglaubtes auch umsetzen möchte.

Gebt den Arbeitern eine Chance!

Auf den Einwand im dritten Abschnitt – ein ernsthafter Lockdown müsse autoritär, polizeilich, staatlich organisiert werden – lässt sich erwidern, dass auch etwas so harmloses wie das Tempolimit von 30 km/h innerorts polizeilich durchgesetzt werden muss. So ist es nun mal mit dem staatlichen Handeln. Demirović gesteht zu, dass der Aufruf selbst nicht etwa Razzien in Privatwohnungen oder eine lückenlose Handyüberwachung fordert. Die eine Maßnahme, die verlangt wird, ist dass die Fabriken, Versicherungsbüros und Callcenter endlich schließen. Das muss freilich polizeilich durchgesetzt werden und das ist auch okay so. Wenn das Kapital seine Arbeiter alle der Pandemie zum Fraß vorwerfen will, kann man ihm auch ruhig in den Arm fallen.

In allen Epochen, in denen die Menschheit Epidemien eindämmen musste, hatte sie den Kranken die Quarantäne nicht empfohlen, sondern zwangsweise angeordnet. Das war nie angenehm für diejenigen, die diese Maßnahme über sich ergehen lassen mussten, wohl aber zum Schutz der anderen unumgänglich. Eine Gesellschaft die nicht willens ist, Einzelnen eine oder zwei Wochen Isolation zu verordnen, kann eine Seuche vermutlich schlecht eindämmen, also wäre es sinnvoll, genau das zu tun.

Allein fordert der Aufruf nichts derart Weitgehendes. Was man verlangt, ist viel bescheidener: Gebt den Arbeitern überhaupt erst die Möglichkeit, social distancing zu üben! Befreit sie vom Arbeitszwang! Ist das getan, kann man ganz liberal auf die Vernunft der Menschen bauen, auch wenn ich persönlich auch mit polizeilichen Einschränkungen, organisierter Isolation und ja, auch einer Impfpflicht gut leben könnte. Überhaupt leben wir in Zeiten eines historisch beispiellosen Überwachungsapparats, der in Teilen privatisiert ist und nicht dadurch verschwinden wird, dass wir seine Existenz nicht gut finden. Angesichts der Enthüllungen von Edward Snowden und der gewaltigen Datensammlungen im Silicon Valley erscheint die Angst vor einer Tür- und Toröffnung durch irgendwelche erweiterten Befugnisse der Gesundheitsämter ähnlich kleinkariert wie die Sorge um die 15 Mark in der eigenen Spardose bei einer Währungsreform im Zuge einer Hyperinflation.

Nicht zu verwechseln mit Freiheit

Der vierte Abschnitt zur zwiespältigen Solidarität ist merkwürdig. Demirović stellt fest, dass die Rechte an die unmittelbaren Affekten der Menschen appelliert – an die natürliche Empörung dagegen, dass man plötzlich nicht mehr ins Stadion und in die Kneipe kann, während die Linke zur Vernunft mahnt. Er bedauert offenbar, dass „Radau, illegale Partys“ und allerlei sonstige Triebabfuhr nunmehr zum Metier der Rechtsradikalen geworden ist. Das ist aber nicht neu: Der Faschismus war seit jeher ein Vermittler orgiastischer Enthemmung, die man nicht unbedingt mit der Befreiung des Menschen verwechseln sollte. Zugleich kapriziert man sich durch eine solche Sicht allein auf den Ärger und die Verzweiflung eines Clubgängers, der seinen Partyspaß nicht haben kann und übersieht dabei die Verzweiflung eines lungenkranken Vaters, der seine Kinder in die Schule schicken muss, oder auch nur der Millionen Arbeitnehmer mit Vorerkrankungen, die jeden Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in überfüllte Büros zu fahren haben. Zu ihren Gefühlen sprach bisher weder die Radau-Rechte, noch die mitten in einer tödlichen Pandemie vornehmlich um die Prärogativen der Parlamente besorgte Linke.

#ZeroCovid spricht zu diesen Leuten. Sie sind nicht wenige und sie verdienen eine demokratische Vertretung in der Öffentlichkeit. Die durch den Aufruf erfolgte Artikulation dieser gesellschaftlich vorhandenen Position ist für sich ein Dienst an der Demokratie, wie er in Demirovićs sechstem Punkt angemahnt wird. Menschen, die endlich einen seriöseren Kampf gegen diese Krankheit wollen, sehen die Erfindung und Erprobung „neuartiger Repräsentations- und Delegationsverfahren“ nicht als die höchste Priorität des Tages. Das kann man angehen, wenn die Gefahr, sich auf der Arbeit eine coronabedingte chronische Herzmuskelentzündung einzuhandeln, gebannt ist. Im Moment wollen wir, die den Aufruf unterzeichnet haben, vor allem das, was in dem Aufruf steht. Auch das gilt es zu respektieren. Es gibt, wie Demirović am Ende sagt, eine politische Güterabwägung, in die auch „kapitalistische Gewinne“ und allerlei andere Faktoren reinspielen. Wir bestehen auf dem Gut unseres Lebens, unserer Gesundheit. Das ist eine politische Position. Wer ihr Profitinteresse und Feierlaune gegenüberstellen mag, kann das tun. Dann sind wir eben verschiedener Meinung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Anton Stortchilov

Ein Linker aus Hessen.

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