„Der Mindestlohn darf kein Armutslohn sein“

Sozialpolitik Susanne Ferschl von der Linken fordert, die EU-Richtlinie für den Mindestlohn umzusetzen. Die geringe Erhöhung habe den Mindestlohn in den Armutsbereich zurückgestoßen, aus dem die Politik ihn mit zwölf Euro gerade herausgeholt hatte.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Susanne Ferschl aus dem bayerischen Ostallgäu, ihrem Bundestagswahlkreis seit 2017, ist Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales, stellvertretende Fraktionsvorsitzenden der Fraktion der Linken und Leiterin des Arbeitskreises Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie. Wer bei dem Gespräch in der Reihe „bwg sitzungswoche Sprechstunde“ in der Berliner StäV auf ihre Perspektive zu den Auseinandersetzungen in der Linken-Fraktion neugierig war, musste lange warten: Moderator Mirco Dragowski, Vorstandsmitglied im mitveranstaltenden OSI-Club, dessen Fragen oft länger waren als die präzisen Antworten der langjährigen Nestlé-Betriebsrätin und als Business Coach sowie als Wirtschaftsmediatorin geschulten Politikerin, hob sich das Thema fast bis zum Ende des einstündigen Gesprächs auf.

Ferschl erklärte, dass die Situation für sie sehr bitter und traurig sei, aber die Fraktion in der kommenden Woche die Auflösung beantragen werde und die verbliebenen Linken-Abgeordneten dann von der Zustimmung zu einer Gruppenbildung abhängig sei. „Die Links-Fraktion ist Geschichte.“ Welche Rechte diese Gruppe dann mehr habe als Einzelabgeordnete, das bestimme ebenfalls das Parlament. Dass Gewerkschaften versuchen könnten, diese Entscheidung zu beeinflussen, lehnte sie ab. Gewerkschaften, so das NGG-Mitglied, sollten zwar politisch aufgestellt sein, sich aber nicht parteipolitisch positionieren. „Wir dürfen uns davon nicht kirre machen lassen und müssen unsere Arbeit weitermachen“, fasste Ferschl ihr Vorhaben für die kommende Zeit im Bundestag zusammen.

Viel Zeit räumte Dragowski, FDP-Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses von 2006 bis 2011, dem Thema Betriebsrat und Mitbestimmung ein. Er wollte von Ferschl wissen, ob Mitbestimmung eher eine Sache der politischen Richtung oder der politischen Vernunft sei. Sicher seien auf der linken Seite mehr Anhänger der Mitbestimmung zu finden als vielleicht in der FDP, antwortete sie, allerdings seien im Ausschuss für Arbeit und Soziales natürlich vorwiegend Leute zu finden, die sich für die Arbeitnehmerseite interessierten.

So seien inzwischen auch Mitglieder des Arbeitnehmerflügels der Union für die Ausrichtung des Mindestlohns an der EU-Richtlinie, die für jedes Land einen Mindestlohn von 60 Prozent des Medians der Verdienste fordert. Ferschl rechnete das für Deutschland auf mindestens 14 Euro in der Stunde um. Da die Kommission zur Findung des Mindestlohns bei der letzten Runde „die Gewerkschaften niedergestimmt“ und den Mindestlohn trotz der Inflation mit der geringen Erhöhung von 41 Cent pro Stunde wieder in den Armutsbereich zurückgestoßen habe, müsse die Politik die von der EU geforderten 60 Prozent jetzt als Mindestgrenze festsetzen, bevor die Lohnfindung wieder der Kommission übergeben werden könne.

Dafür gebe es im Parlament eigentlich eine Mehrheit, leider würden aber Anträge trotz als richtig eingeschätzter Inhalte von anderen Fraktionen abgelehnt, wenn sie von den Faldschen gestellt würden. Deshalb rechnet sie auch damit, dass der Antrag der Linken zum Mindestlohn am nächsten Tag (9. November) keinen Erfolg haben werde.

Zur Gewerkschaft kam Ferschl, die nach ihrer Ausbildung als Chemielaborantin eigentlich Lebensmitteltechnologie studieren wollte und sich im Rückblick als eher unpolitisch bezeichnete, durch die Erfahrung, dass ihre Ausbildung offenbar nicht so gut war wie die der anderen in ihrer Berufsschulklasse. Hilfe von Ausbildungsberatern der Gewerkschaft und der Austausch mit Jugendauszubildendenvertretungen (JAV) in andren Betrieben ließ sie aktiv werden. Von der JAV bis an die Betriebsratsspitze im Nestlé-Werk in Biessenhofen,zur Gesamtbetriebsratsvorsitzenden in Deutschland und Mitglied im europäischen Betriebsrat des Konzerns führte sie ihr Engagement ebenso wie in den NGG-Vorstand. Zur Linken kam sie wegen der Agenda-Gesetze der Regierung von Gerhard Schröder.

Für sie ist es wichtig, mehr Leute, gerade auch Junge, zu eigenen Aktivitäten in Politik und Gesellschaft zu ermutigen, damit auch sie ihre Erfahrung machen: Man kann etwas ändern und Einfluss nehmen, „wenn man sich auf die Hinterbeine stellt“. Menschen, die das erlebten, seien viel immuner gegen populistische Sprüche als diejenigen, "die sich nur ausgeliefert fühlen.“

Für die kommenden Europawahlen 2024 zu motivieren, sei schwieriger als für Wahlen in Deutschland, gab sie zu. Auch wenn ihre Ziele wie mehr einheitliche Sozialstandards und eine gemeinsame Klimapolitik in der EU die Wählerinnen und Wähler direkt betreffen. „Es wird schwierig zu mobilisieren, aber wir müssen es versuchen, das ist unsere Aufgabe.“

________________

Die Veranstaltungsreihe „bwg sitzungswoche – Sprechstunde“ ist eine Kooperation von bwg Berliner Wirtschaftsgespräche, sitzungswoche Unabhängiges Netzwerk für Politik, Wirtschaft und Medien, StäV Ständige Vertretung Berlin, Wöllhaf Gruppe und OSI Club mit Unterstützung von Studio Schiffbauerdamm, Landau Media und berlin bubble.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Susanne Stracke-Neumann

Susanne Stracke-Neumann ist freie Journalistin. Für die meko factory berichtet sie über Veranstaltungen.

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden