Gefangenenaufstand in Gaza

Palästina Israelische Besatzungsoldaten töten über 15 Palästinenser und verletzen über 1500 weitere: und die westliche Welt solidarisiert sich einmal wieder mit Massenmördern

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Im palästinensischen Gaza-Streifen, mit 1,8 Millionen Insassen das größte Freiluftgefängnis der Welt, kam es am Oster-/Pessachwochenende zu einem angekündigten Gefangenenaufstand, bei dem mindestens 15 Häftlinge durch schwerbewaffnete israelische Gefängniswärter getötet und über 1500 verletzt wurden. Den anfänglich friedlichen Protest der Gefangengenommenen gegen die unmenschlichen Haftbedingungen und illegale Freiheitsberaubung durch Israel sowie für das Recht auf Rückkehr anlässlich des diesjährigen „Land Day“ (Tag des Bodens, der an sechs unbewaffnete Palästinenser erinnert, die 1976 bei Protesten gegen die illegale Expropriation palästinensischer Gebiete von israelischen „Sicherheits“kräften getötet wurden), beantwortete die Besatzungsmacht mit traditioneller unverhältnismäßiger Härte: Allein der Einsatz scharfer Munition gegen unbewaffnete Insassen stellt eine eklatante Verletzung internationalen Rechts dar, so die israelisch-palästinensische Menschenrechtsorganisation Adalah, die juristische Interessenvertretung von einer Million arabischstämmiger Israelis. Die Gewalt konstituiert die blutigsten Tage in der Gefängnisenklave Gaza in Friedenszeiten.

Mit selektiver Berichterstattung und suggestiver Bildwahl verlor die unkritisch pro-israelische deutsche Medienarchitektur von Tagesschau bis Tagesspiegel, die in Sachen Palästina schon seit Jahrzehnten kollektiv Fake News verbreitet (lange bevor dieser Neologismus überhaupt auftauchte und durch Donald Trump salonfähig gemacht wurde), keine Zeit damit, ihre traditionelle Maschinerie der (Übel)Täter-Opfer-Verkehrung in Gang zu setzen. Kadavergehorsam schob sie die Schuld für die Eskalation durch auf die Zähne bewaffnete israelische Soldaten (samt Scharfschützen!, die nicht erst einbestellt wurden, nachdem die Lage eskaliert ist, sondern gezielt für den angekündigten Aufstand eingeplant und abgestellt wurden) sofort auf die palästinensischen Demonstranten. Somit stellte sie sich mutwillig - wie auch die Bundesregierung und dessen westliche Verbündete - auf die Seite von kaltblütigen Mördern statt auf die der Aufständischen, die sich einmal wieder nur mit Steinen und anderen Behelfsgegenständen gegen einen hochmilitarisierten Goliath zur Wehr zu setzen versuchte.

Die unerträgliche Berichterstattung folgt auch diesmal einem bekannten relitätsverfremdendem Muster: Gezielte Tötungen von Unbewaffneten werden zu „Zusammenstößen“ umgeschrieben, als stünden sich gleichwertig mächtige Parteien auf Augenhöhe mit paritätischer moralischer Legitimität gegenüber, und nicht Besatzer und Besetzte, Wärter und unschuldig Eingekerkerte. Statt Bilder von gewalttätigen israelischen Soldaten werden ausschließlich Frames von wütenden palästinensischen Männern gezeigt, Close-ups wie Panoramaeinstellungen, Hauptsache wütend und toxisch-maskulin, also inhärent gewaltbereit (so dass der hiesige besorgte Bürger a.k.a. Rassist sich auch ja in seinen anti-muslimischen, anti-arabischen Vorurteilen bestätigt fühlen kann), ohne die legitime Wut und reaktive Gewalt der Palästinenser zu kontextualiseren: eine billige und einseitig konstruierte Bilderflut, dessen einzige Funktion eine emotive ist, statt eine sachliche und aufklärerische.

Mit einer solch beabsichtigten Fahrlässigkeit arbeitet die von den Rechten leider zurecht als Lügenpresse verunglimpfte vermeintlich freie und faire Presse nicht nur hierzulande, sondern auch anderswo in der schneeweißdominierten westlichen Welt, von der New York Times bis zur britischen BBC. Kein Wort darüber, dass von den 15 von Israelis getöteten Palästinensern (Stand Samstag) die meisten Opfer Schusswunden im Oberkörperbereich aufweisen, wie der britische Guardian zu berichten wagte, was eine Tötungsabsicht zweifellos nahelegt: shoot to kill statt finaler Rettungsschuss nach Ausschöpfen aller anderen Möglichkeiten der Gefahrenabwehr. Und wer stellt hier eigentlich eine Gefahr da: unbewaffnete Demonstranten oder schießfreudige Soldaten? Würde in Kreuzberg bei der alljährlichen Revolutionären 1. Mai Demo oder in der Friedrichshainer Liebigstraße die Polizei antifaschistische Pflasterstein- und Flaschenschmeißer durch Scharfschützen niederballern lassen? Wohl kaum. Aber in der selbsternannten „einzigen Demokratie des Nahen Ostens“ hat man bekanntlich eine andere Auffassung von Rechtsstaatlichkeit.

Gaza ist nicht nur das weltweit einzige Gefängnis dieser Größenordnung, in dem Männer, Frauen und Kinder gemeinsam untergebracht sind, sondern auch das einzige, das vom brutalen Militär einer Besatzungsmacht - wenn auch in absentia - fremdverwaltet wird und bei dem autochtone Bewohner eines Gebietes auf ihrem eigenen Land eingekerkert werden (ein Freiheitsberaubungssystem, das nicht minder verwerflich ist als die westpazifische Gefängnisinsel Nauru, wo Australien - neben Israel ein weiterer Staat, dessen Gründung auf der Vertreibung, Landnahme, Ermordung und Entrechtung der angestammten Bevölkerung basiert - Geflüchtete aus Drittstatten auf dem angeblich souveränen Gebiet eine Viertstaates einkerkert: ein „Flüchtlingsabkommen“, das den fiesen EU-Türkei-Deal geradezu menschlich aussehen lässt, und Mama Merkel wie Mutter Theresa).

Bewacht von rassistischen israelischen Wärtern und ihren ägyptischen Erfüllungsgehilfen, sind die anderthalb Millionen ohne Gerichtsverhandlung in Gaza Gefangengehaltenen im Alltag sich selbst überlassen. Für Ruhe und Ordnung sorgt daher die islamistische Hamas, die das 365 Quadratkilometer große Freiluftgefängnis regiert und dessen nachvollziehbarer paramilitärischer Widerstand gegen die hypermilitärische Besatzung palästinensischer Gebiete durch ein siedlerkolonialistisches Israel bereits dreimal mit Angriffskriegen zu Luft und Boden auf Gaza beantwortet wurde. (Auch wenn Ideologie und Methode der Hamas in vielen - nicht in allen - Bereichen fragwürdig bis verachtenswert sind und sie immer weniger Rückhalt unter den Gefangenen Gazas hat, sind Erstere moralisch nicht verwerflicher als Ideologie und Methodik einer - dank der großzügigen Militärsubventionen der Schutzmacht USA - kampfmittelbevorteilten, revisionistisch-zionistischen israelischen Okkupationsmacht, die soviel Blut an ihren Händen hat, wie alle Widerstandsgruppen gegen die israelische Besatzung zusammen, von Hamas bis Hezbollah, nie auch nur annähernd haben werden.)

Auch beim jüngsten Gefangenenaufstand an diesem Oster-/Pessachwochenende ist unmissverständlich klar, wer die Situation hat eskalieren lassen: die israelischen Gefängniswärter. Doch aufgrund der ungemein starken westlichen Israel-Lobby, mittlerweile noch gestärkter durch die neue geostrategische Allianz zwischen dem rechtsnationalistischen Israel und einem anderen Kriegsverbrecher und Iranfeind, dem ultraorthodoxen wahabischen Gottesstaat und mutmaßlichenTerrorismusunterstützer Saudi Arabien (wie der Zufall so will, hat am Gründonnerstag ein US-Bundesrichter einen Antrag Saudi Arabiens, eine anhängige Zivilklage gegen das Land wegen dessen vermeintlicher Mittäterschaft bei den Anschlägen vom 11. September 2001 fallen zu lassen, abgewiesen), schweigt die internationale Staatengemeinschaft einmal wieder zu diesen jüngsten von Israel begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Darüber hinaus sprechen immer mehr Menschen wegen der seit Jahrzehnten andauernden systematischen Gewalt, Landnahme, Vertreibung, Enteignung und Entrechtung von Palästinensern, die innerhalb des de-jure Staatsgebietes Palästinas auf die beiden Freiluftgefängnisse Gaza und das Westjordanland (wo ein offenerer Vollzug herrscht und die gemäßigte Fatah das Scheinsagen hat) verteilt sind und die beide diesen Staat, den man nicht zulässt, in seiner Vollständigkeit konstituieren, schon seit längerem von einem schleichenden Völkermord.

Doch das Glück ist auf israelischer Seite: wegen des an den europäischen Juden begangenen Genozids durch die Deutschen, welcher 1948 nach ethnischen Säuberungen, Terrorismus und der Vertreibung der angestammten palästinensischen Bevölkerung zur Staatsgründung Israels führte, setzt dieser in diesem ewigen Nahostpoker wiederholt seinen strategischen Dauer-Holocaustjoker ein, um sich immer wieder westliche Solidarität zu erheischen. Und besudelt somit immer wieder aufs Neue das Andenken an die eigene tragische Geschichte von Verfolgung und Völkermord.

Somit kann Israel sein barbarisches Spiel inklusive des „end game“ der vollständigen Einnahme Palästinas ungehindert weiterspielen. Und, wie am diesjährigen Tag des Bodens, straffrei weitermorden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Al-Farooq

Freier Journalist aus Berlin in London・IG: @talrooq

Timo Al-Farooq

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