Sechs Monate nach Beginn des mörderischen Krieges Israels gegen den Gazastreifen verbringe ich meine Tage in Ramallah damit, die Nachrichten zu lesen. Ich fühle mich hilflos und untröstlich. Doch eines Morgens schlug ich das Buch von Lyndsey Stonebridge über Hannah Arendt auf und las die Worte: „Wenn die Erfahrung der Machtlosigkeit am krassesten ist, und die Geschichte am düstersten erscheint, dann ist die Entscheidung, wie ein Mensch zu denken, kreativ, mutig und kompliziert, am wichtigsten.“ Ich frage mich, ob diejenigen in Israel, die sich ohnmächtig gegenüber der Mehrheit fühlen, die die Fortsetzung des scheinbar endlosen Krieges will, oder ob wir Palästinenser, die Opfer der vollen Wucht der Macht und der expansionistischen Age
Agenda Israels sind, irgendwie darin Erfolg haben, so zu denken: wie ein Mensch. Bislang deutet nichts darauf hin.Inzwischen sind mehrere Dinge klar geworden. Eines ist das Wiedererstarken der jüdischen Ultrarechten in Israel, der Siedler und der jüdischen Rassisten. Es scheint, als ob diese streitbare Gruppe nur auf eine Gelegenheit gewartet hat, um ihre kolonialen Ziele noch schneller zu verfolgen. Schon jetzt hat sich nicht nur der Gazastreifen verändert, sondern auch das Westjordanland, das durch Straßensperren und verschlossene Eisentore, die den Zugang zu den Dörfern einschränken, zersplittert ist, und durch Siedler, die die Palästinenser weiterhin von ihrem Land vertreiben. Was Gaza betrifft, so werden bereits Pläne für die Besiedlung des Nordens durch israelische Juden vorbereitet.Seit 75 Jahren fordern wir Palästinenser die Anerkennung, wenn nicht gar eine Entschuldigung und Wiedergutmachung Israels für die Gräueltaten, die während der ersten Nakba von 1948 an uns begangen wurden, als mehr als 700 000 Menschen aus ihren Häusern im heutigen Israel vertrieben wurden. Jetzt hat sich die Tragödie noch einmal fortgesetzt. Das gibt mir das Gefühl, dass ich die letzten 50 Jahre damit verbracht habe, mich an den Verlust des Palästinas meiner Eltern zu gewöhnen; und dass ich die verbleibenden Jahre meines Lebens damit verbringen könnte, mich an den Verlust Palästinas in seiner Gesamtheit zu gewöhnen.Die Schwäche der israelischen Friedens-FraktionDieser Krieg hat die tiefe Schwäche der säkularen Liberalen in Israel offenbart, die sich fast vollständig hinter die vermeintliche Macht der israelischen Armee stellen, ohne die langfristigen Folgen der mörderischen Exzesse ihrer Armee zu bedenken. Unter der jüdischen Bevölkerung Israels herrscht ein beunruhigender Mangel an Bereitschaft, sich um Frieden mit den Nachbarn zu bemühen, und eine fast unwidersprochene Festlegung, mit Gewalt der Palästinenser Herr zu werden, ohne Rücksicht auf die menschlichen Kosten. Ein israelischer Freund sagte mir verzweifelt: „Ich bin eine Minderheit in einer Minderheit einer Minderheit“.Die israelische Armee hat im Gazastreifen bereits mehr als 33.000 Menschen getötet. Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung akzeptiert offensichtlich auch die politische Linie der Regierung, dass es sich bei den Mitgliedern der Hamas um „menschliche Tiere“ handelt, und ist fest davon überzeugt, dass die Welt die Zerstörung einer ganzen Zivilbevölkerung in Gaza entschuldigen würde, wenn sie zuerst die Bilder der Verbrechen gegen israelische Zivilisten vorzeigen. Anschuldigungen wie das Verstecken von Munition in Krankenhäusern und der Einsatz von Zivilisten als menschliche Schutzschilde werden wiederholt, ohne sich bewusst zu sein, dass Israel, wie der israelische Kolumnist B. Michael hervorgehoben hat, dieselben Taktiken in seinem Krieg gegen Großbritannien und später gegen die Palästinenser angewandt hat, als Waffen im Hadassah-Krankenhaus versteckt und zivile Siedlungen strategisch platziert wurden.Die israelischen Verbrechen in Gaza sind beispiellos und unermesslich größer als das, was wir zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit erlebt haben. Ich habe meinen israelischen Freund gefragt, wo heute die Stimmen der Vernunft und des Mitgefühls sind, die nach dem Massaker von Sabra und Schatila im Libanon 1982 auf die Straße gingen. Seine Antwort war, dass Israel damals ein anderes Land war.Der Krieg hat auch das Versagen der Hamas offenbart, Israels Reaktion vorwegzunehmen und die Zivilbevölkerung darauf vorzubereiten. Der Organisation ist es gelungen, eine komplexe Militäroperation durchzuführen, bei der aber wahllos israelische Zivilisten unter Verletzung des humanitären Völkerrechts getötet wurden. Außerdem hat sie ihre eigene Bevölkerung einem ungebremsten Rachefeldzug des Gegners ausgesetzt. Da die palästinensische Bevölkerung im nördlichen Gazastreifen hungert, könnte die Wut auf die Hamas zunehmen.Der Krieg wird irgendwann enden. Mir graut davorDie unerschütterliche Unterstützung Israels durch die USA hat sich ebenfalls bestätigt. Obwohl ein ehemaliger hochrangiger UN-Beamter die wahrscheinlich höchste Tötungsrate „seit dem Völkermord in Ruanda 1994“ festgestellt hat, hält der Zustrom von Waffen an Israel von seinen Verbündeten unvermindert an.Der Gaza-Krieg wird irgendwann enden. Mir graut vor der Vorstellung, wie viele weitere Tote zu den Zehntausenden, die bereits zu beklagen sind, hinzukommen werden, wenn es endlich so weit ist; ebenso graut mir davor, noch mehr Bilder der Verwüstung in Gaza zu sehen, wenn der Landstrich für Journalisten geöffnet wird. Hinzu kommt die Bitterkeit, die die israelischen Geiseln und ihre Familien sicherlich empfinden werden, unabhängig davon, ob sie am Leben bleiben oder nicht. Mit all dem werden wir rechnen müssen. Wie werden wir Palästinenser und Israelis nach solchen Schrecken in diesem Stückchen Land, das wir beide unser Zuhause nennen, zusammenleben können?Während im Gazastreifen ein monströser Krieg tobt, findet im Westjordanland eine andere Art von Krieg statt. In der 57 Jahre währenden israelischen Besatzung des Gebiets wurden palästinensische Bauern großteils ihres Landes und ihres Wassers beraubt. Die Landwirtschaft hat sich zu einer Dienstleistungswirtschaft gewandelt, die stark von der Beschäftigung in Israel abhängig ist. Doch seit Beginn des Krieges ist es den meisten palästinensischen Arbeitern nicht mehr möglich, dorthin zurückzukehren, mit Ausnahme derer, die in israelischen Siedlungen im Westjordanland arbeiten. Viele sind verarmt, weil sie keine Arbeit haben.In Ramallah, wie auch in anderen Städten des Westjordanlandes, sind die Grundstückspreise in die Höhe geschnellt, weil es an Grund und Boden mangelt und das Wachstum durch israelische Planungsprogramme eingeschränkt wird. Da die Stadt auf einen kleinen Raum beschränkt ist, muss jedes Grundstück optimal genutzt werden. Die einzige Möglichkeit, die bleibt, ist die vertikale Expansion. Und so lebe ich mit dem ständigen Geräusch von Baggerarbeiten. Die Bewohner des Gazastreifens können nicht mit der israelischen Luftwaffe konkurrieren, also müssen sie sich schützen und ihre Kämpfe von unterirdischen Tunneln aus führen. An den meisten Tagen wird der Himmel von Jets beherrscht, die auf dem Weg nach Gaza sind, um weitere verheerende Angriffe auf die Zivilbevölkerung auszuführen.Ich frage mich, wann wir aus unseren Schützengräben wieder herausklettern werden. Wann wird, um Siegfried Sassoon zu paraphrasieren, „die Hoffnung, mit verstohlenen Augen und packenden Fäusten, [nicht mehr] im Schlamm stecken bleiben“? Erst dann werden wir aus der Tiefe unseres Elends auftauchen und wieder in der Lage sein, in dieser geschichtsbefrachteten Region zu gedeihen.
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