Der israelische Friedensaktivist Gershon Baskin veröffentlichte Ende Oktober 2023 einen offenen Brief, in dem er einen Mann anprangert, den er lange als Freund bezeichnet hatte: den hochrangigen Hamas-Funktionär Ghazi Hamad. Gershon Baskin ist ein Architekt des Deals zur Befreiung des israelischen Soldaten Gilad Shalit aus der Gefangenschaft der Hamas 2011. Auf der anderen Seite war Ghazi Hamad an den Shalit-Verhandlungen beteiligt, und er war stellvertretender Außenminister in der Hamas-Regierung von 2012. Vor dem Terrorangriff vom 7. Oktober hatten Hamad und Baskin mehr als anderthalb Jahrzehnte lang regelmäßig miteinander telefoniert und Textnachrichten ausgetauscht. Dabei ging es um Verhandlungen über den Austausch von Gefangenen, auch um die Möglichk
Wer ist die Hamas? Die Zukunft in Nahost entscheidet sich an dieser Frage
Longread Wenn die Hamas zerstört ist, kann in Israel und Palästina der Krieg enden: So denken viele. Leider ist es nicht so einfach. Über die komplexe Geschichte einer Gruppe, die in Gaza fest verwurzelt ist
Foto: Chris McGrath/Getty Images
chkeit eines langfristigen Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas. Sie entwickelten eine herzliche, auf gegenseitigem Vertrauen basierende Arbeitsbeziehung.Nach dem 7. Oktober und dem Beginn der israelischen Bodeninvasion im Gazastreifen bestand Hamad darauf, dass der Angriff der Hamas absolut gerechtfertigt sei. Er bestritt, dass Hamas-Kämpfer bei ihrem Überfall in Israel Gräueltaten verübt hatten. Am 24. Oktober schwor Hamad in einem Interview mit einem libanesischen Fernsehsender, die Operation „Al-Aksa-Flut“, der Name der Hamas für den Angriff am 7. Oktober, werde sich viele Male wiederholen. Der einstige Journalist, der einmal als aufmerksamer Beobachter der palästinensischen Politik galt, erklärte: „Niemand sollte uns die Schuld für das geben, was wir tun – am 7. Oktober, am 10. Oktober, am 1.000.000. Oktober. Alles, was wir tun, ist gerechtfertigt.“Für Gershon Baskin klang das nicht nach dem Mann, den er kennengelernt hatte. Diese Äußerungen Hamads, „der als einer der gemäßigtesten Leute in der Hamas gilt“, wirkten auf Baskin wie Verrat. Der Israeli setzte sich lange Zeit dafür ein, mit der Hamas ein Abkommen über einen befristeten Waffenstillstand zu schließen, im Gegenzug für die Öffnung der seit 2007 andauernden Land-, Luft- und Seeblockade des Gazastreifens. Baskin hatte geglaubt, dass Hamad dazu hätte beitragen können, eine Zustimmung der Hamas zu einer Zwei-Staaten-Lösung zu erreichen. In den Monaten vor dem 7. Oktober hatte Baskin versucht, ein Treffen mit ihm in Europa zu organisieren, um über einen langfristigen Waffenstillstand zu diskutieren.Nach dem 7. Oktober änderte auch Baskin seine Haltung. „Die Hamas hat ihr Recht verwirkt, in irgendeinem Gebiet als Regierung zu existieren, insbesondere in dem Gebiet, das an Israel angrenzt“, schrieb er am 28. Oktober in der Times of Israel. „Die Hamas verdient jetzt voll und ganz ein entschlossenes Vorgehen Israels, das dafür sorgt, dass sie nicht die politische und militärische Instanz bleibt, die den Gazastreifen kontrolliert.“ Baskin hat nicht den Frieden an sich aufgegeben – er bleibt eine feste Größe in den internationalen Medien als einsame, ja verzweifelte israelische Stimme, die ein Ende des Krieges fordert. Er glaubt jedoch nicht mehr, dass die Hamas Teil der Lösung sein kann.Ende Dezember saß ich mit Gershon Baskin im Erdgeschoss seines Hauses in einem ruhigen, grünen Viertel von Jerusalem. Der in New York geborene Israeli ist ein stämmiger, energiegeladener Mann Ende 60. Er öffnete die Tür und trug die silberne Erkennungsmarke mit der Aufschrift „Bring them Home“ (Holt sie zurück), die zum Symbol der Bewegung für die Rückkehr der mehr als 100 israelischen Geiseln geworden ist. Hat sich die Hamas verändert oder hat er die Gruppe die ganze Zeit über falsch eingeschätzt? Baskin glaubt an Ersteres. „In den meisten Jahren vor dem 7. Oktober gab es eine Bereitschaft, Möglichkeiten für einen langfristigen Waffenstillstand auszuloten“, sagte er. „Im Rückblick wurde klar, dass sich etwas geändert hatte – es gab Anzeichen, aber niemand von uns hat sie richtig gelesen: Rund zwei Jahre vor dem 7. Oktober traf die Hamas die Entscheidung, dass eine Existenz zusammen mit Israel ausgeschlossen ist, und begann, Pläne für einen Angriff zu schmieden.“Placeholder image-2Baskin erinnerte sich an seinen letzten Austausch mit Hamad Ende Oktober. „Als ich am Anfang des Krieges hörte, dass sein Haus bombardiert wurde, und nicht wusste, dass er sich nicht mehr in Gaza aufhielt, sagte ich zu ihm: Ghazi, wenn sie hinter dir her sind, ist niemand in der Hamas sicher. Er antwortete mir: Wir sind für viele Überraschungen gut, und wir werden viele Israelis töten.“ Dann veröffentlichte Baskin seinen offenen Brief an Hamad in den sozialen Medien. „Es tut mir leid zu sagen, dass du jemand warst, dem ich tatsächlich vertraute. Ich dachte, dass wir dazu beitragen könnten, eine bessere Zukunft für die Bevölkerung unserer Länder zu erreichen. Aber du und deine Freunde habt die Sache der Palästinenser um 75 Jahre zurückgeworfen“, schreibt er. „Ich denke, dass du den Verstand verloren hast, und deinen Moralkodex.“ Damit kappte Baskin ihre Verbindung.Islamistisch oder antikolonial?Seit Beginn des brutalen Kriegs Israels im Gazastreifen sind mehr als 30.000 Palästinenser getötet worden. Zwei Millionen Palästinenser wurden vertrieben. Viele von ihnen müssen in Rafah im Süden von Gaza in Zelten leben. Im Norden sind weite Teile dem Erdboden gleichgemacht worden. Internationale Experten warnen vor einer unmittelbar bevorstehenden Hungersnot. Einige Kinder sind bereits verhungert.Inmitten dieses Kriegs ist das Verständnis des Wesens der Hamas ein zentraler Faktor. Das Ende der Beziehung zwischen Gershon Baskin und Ghazi Hamad spiegelt eine größere Debatte wider, die nur noch dringlicher geworden ist: Wer ist die Hamas? Ist sie eine nationalistische Gruppe mit islamistischem Zug, die ein konstruktiver Akteur in einem Friedensprozess sein könnte? Ist sie eine radikale, fundamentalistische Gruppe, deren Feindschaft gegenüber Israel so unerschütterlich ist, dass sie nur die Rolle einer gewaltsamen Opposition ausfüllen kann?Sieht man in der Hamas eine Organisation, die sich durch gewalttätige Feindseligkeit gegen den Staat Israel definiert, wie westliche Antiterrorismus-Experten und US-amerikanische und israelische Sicherheitsanalysten dies tun, so geschah am 7. Oktober nichts Überraschendes. Vielmehr wurde laut Matthew Levitt, einem früheren Mitarbeiter der US-Regierung Bush und Autor eines Buches über die Hamas aus dem Jahr 2007, „auf brutalste Art und Weise demonstriert, dass die Hamas letztlich vorrangig die Zerstörung Israels und die Schaffung eines islamistischen palästinensischen Staates an seiner Stelle anstrebt“. Die Vertreter dieser Richtung verweisen auf die riesige Tunnelinfrastruktur der Hamas als Beweis dafür, dass die Gruppe ihre eigenen Kämpfer schützt, während sie die Zivilisten sich selbst überlässt.Dem gegenüber steht ein Lager aus Akademikern und Thinktanks, viele von ihnen Palästinenser, das die Hamas als einen vielseitigen, komplexen politischen Akteur sieht, der zwischen radikalen und gemäßigten Tendenzen gespalten ist. Sie argumentieren, die Hamas sei das Produkt der Realität, in der die Palästinenser leben: brutale Besatzung und Blockade. Umgekehrt würde sie auch auf Veränderungen dieser Bedingungen reagieren. Der größte Irrtum über die Hamas sei die Vorstellung, dass „Israel keine Probleme mit den Palästinensern mehr hat, sobald die Bedrohung der Sicherheit durch die Hamas aufgehört habe“, sagt der palästinensische Wissenschaftler Tareq Baconi. Wenn „die Hamas morgen verschwinden würde“, würden sowohl die israelische Blockade des Gazastreifens als auch die militärische Besatzung der Westbank bestehen bleiben. „Es gibt eine Tendenz, zu suggerieren, der aktuelle Krieg finde zwischen Israel und der Hamas statt und nicht zwischen Israel und den Palästinensern. Das trennt die Hamas von den Palästinensern ab“, so Baconi, was „von der Unfähigkeit“ zeuge, sich mit den politischen Antriebskräften der Palästinenser auseinanderzusetzen.Ähnlich sieht es Khaled Elgindy, ein früherer Berater der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) zu den Verhandlungen mit Israel, heute leitender Mitarbeiter der Denkfabrik Middle East Institute. „Es ist genau diese Idee: ,Wir schließen mit dieser Gruppe von Palästinensern Frieden, während wir gegen diese andere Gruppe von Palästinensern Krieg führen‘“, so Khaled Elgindy, die als Begründung für das ökonomische Abwürgen und die regelmäßige Bombardierung des Gazastreifens diente. „Die Hamas ist eine Tatsache im politischen Leben in Gaza und der palästinensischen Szene generell, heute aktueller als je zuvor.“ Die Hamas müsse Teil einer Nachkriegslösung sein, insistiert Elgindy in der US-Fachzeitschrift Foreign Affairs. Das Ziel sollte darin bestehen, die Hamas in die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) einzugliedern, die Dachorganisation, die von der säkular-nationalistischen Fatah-Partei dominiert wird und als einzige offizielle Vertretung des palästinensischen Volkes auf der Weltbühne anerkannt ist. Langfristig könne die Integration der Hamas in die PLO ein Schritt dahin sein, die anhaltende Spaltung in der palästinensischen nationalen Bewegung zu heilen.Derzeit ist es jedoch höchst unwahrscheinlich, dass Hamas-Anführer bereit wären, einem solchen Programm zuzustimmen. Anfang März trafen sich Vertreter der Hamas, der Fatah und anderer palästinensischer Gruppierungen in Moskau zu Einigungsgesprächen. Seit dem Hamas-Fatah-Krieg 2007 fanden mehr als ein Dutzend ähnliche, von einer Reihe arabischer und muslimisch angeführter Regierungen finanzierte Versöhnungsversuche statt. Keiner brachte ein haltbares Ergebnis.So erweist sich eine palästinensische Einheit unter Einbeziehung der Hamas als schwer vorstellbar. Eine Zukunft ohne die militante Organisation ist aber ebenso unwahrscheinlich. „Viele Leute glauben, dass der Frieden wahrscheinlicher wird, wenn wir die Hamas zerstören oder zumindest marginalisieren“, sagt Elgindy. Diese Position rechtfertige derzeit Israels verheerende Angriffe auf Gaza – sie sei jedoch falsch, strategisch wie auch moralisch.1987: Die erste IntifadaDie Hamas wurde von Mitgliedern des palästinensischen Zweigs der Muslimbruderschaft im Rahmen der ersten Intifada gegründet. Dieser palästinensische Volksaufstand wurde 1987 ausgelöst, als ein israelischer Lastwagen vier palästinensische Arbeiter im Flüchtlingslager Dschabaliya in Gaza tötete. Der Name der Organisation, der „Begeisterung“ oder auch „Kampfgeist“ bedeutet, ist ein Akronym von Harakat al-Muqawamah al-Islamiyyah: Islamische Widerstandsbewegung. Historisch neigten die palästinensischen Islamisten eigentlich zu politischem Quietismus, dem religiös motivierten Rückzug aus der Politik. Dahinter steht der Glaube, dass die palästinensische Gesellschaft islamisiert werden müsse, wenn der Kampf gegen Israel erfolgreich sein soll.Die Hamas-Gründungsmitglieder waren zum größten Teil Flüchtlinge, geboren in dem Gebiet, in dem sich heute Israel befindet, und durch die Vertreibung von rund 700.000 Palästinensern im Krieg von 1948 gezwungen, in den Gazastreifen zu fliehen. Scheich Ahmad Yasin, einer der Gründer und spirituelle Führer der Gruppe, wurde 1936 in einem Dorf in der Nähe von Aschkelon geboren, im Süden des heutigen Israel. Der kleine und leise sprechende Yasin, der ein weißes Kopftuch trug und aufgrund eines Unfalls in seiner Kindheit an einen Rollstuhl gefesselt war, schien das Leiden seines Volkes zu verkörpern. 2004 tötete das israelische Militär Yasin gezielt, wie später noch viele andere Hamas-Führer: Hubschrauber schossen auf ihn, als er nach dem Gebet eine Moschee verließ.Die Gründungscharta der Hamas von 1988 ist eine Mischung aus Zitaten aus dem Koran, Abhandlungen über die islamische Lehre, nationalistischen Erklärungen und verschwörungstheoretischem Antisemitismus. Das Dokument definierte das Land Palästina als einen Waqf, einen islamischen Treuhandfonds, „künftigen muslimischen Generationen geweiht bis zum Tag des Jüngsten Gerichts“, von dem kein Zentimeter aufgegeben werden dürfe. Es wirft den Zionisten vor, die Französische und die bolschewistischen Revolutionen angestiftet zu haben, und bezeichnet Gruppen wie die Freimaurer oder den Rotary Club als „zerstörerische Spionageorganisationen“, die den „Nazismus der Juden“ förderten. Der palästinensische Nationalkampf wird als Religionskrieg gesehen. Mit anderen Worten: Es war nicht gerade eine erwartbare Satzung für eine Bewegung, die sich innerhalb eines Jahrzehnts um die Vertretung der palästinensischen Sache bewerben würde, die zuvor von erklärtermaßen säkularen Gruppen angeführt worden war.Die Frage, ob die islamische Radikalisierung der Gründungscharta die Ideologie der Hamas repräsentiert, wird seit ihrer Gründung diskutiert. Stehen nicht doch nationalistische Ziele im Mittelpunkt der Hamas? Mitte der 1990er formulierte die Gruppe ein neues Dokument mit dem Titel „This Is What We Struggle For“. Hier heißt es, die Hamas sei „eine palästinensische Befreiungsbewegung, die für die Befreiung der besetzten palästinensischen Gebiete kämpft und für die Anerkennung der rechtmäßigen Palästinenserrechte“. Die Diskrepanz zwischen diesen zwei rhetorischen Darstellungsformen ist offenkundig. Wie muss man die Hamas verstehen? Als kompromisslosem Dschihad oder als antikolonialen Widerstand? Fundamentalistisch oder politisch-pragmatisch?Placeholder image-3„Es gibt nicht die eine Hamas“, schreibt Tareq Baconi: „Der Versuch, die Bewegung als monolithischen Akteur darzustellen, ist nicht nur sinnlos, sondern auch grundlegend unzutreffend und reduktionistisch.“ Es gebe innerhalb der Organisation Hardliner und Pragmatiker, religiös Konservative und vergleichsweise Gemäßigte; jene, die den bewaffneten Kampf gegen Israel priorisieren und jene, die – zumindest bis vor Kurzem – versuchten, mit politischen Mitteln Fortschritte zu erreichen.Auch wenn sich die Führung der Hamas nicht immer in ihrer Vision einig war, gab die israelische Besatzung der Westbank und des Gazastreifens der Gruppe ein gemeinsames Ziel. Als 1993 die PLO, angeführt von Yasser Arafat, mit der Unterzeichnung des ersten Osloer Abkommens den Staat Israel anerkannte, war es fortan die Hamas, die den bewaffneten Widerstand und des Strebens nach Befreiung des historischen Palästinas verkörperte.2001: Erste Raketen aus GazaIn einem vorausschauenden Essay von 1993 nannte der palästinensische Intellektuelle Edward Said die Oslo-Abkommen „ein Instrument der palästinensischen Kapitulation, ein palästinensisches Versailles“. Arafat habe zugestimmt, den bewaffneten Kampf gegen Israel aufzugeben, und den „einseitigen und international anerkannten Anspruch der Palästinenser auf das Westjordanland und den Gazastreifen zum Rabattpreis abgegeben“, schrieb Said. Dagegen habe „Israel keinerlei Zugeständnisse gemacht“.Unerbittlich gegen den Friedensprozess des Osloer Abkommens eingestellt, intensivierte die Hamas während der 1990er Jahre ihren Kampf gegen Israel. In den Anfangsjahren waren die Angriffe auf Beschuss mit Handfeuerwaffen, Bomben am Straßenrand mit geringer Sprengkraft und Versuche beschränkt, israelische Soldaten zu entführen. Das änderte sich am 6. April 1994, als sich ein Palästinenser, vom bewaffneten Flügel der Hamas beauftragt, an einer Bushaltestelle in der nordisraelischen Stadt Afula in die Luft sprengte und dabei acht Israelis tötete. Es war ein Racheakt für das Massaker an 29 Betenden in der Ibrahimi-Moschee in Hebron, das zwei Monate zuvor ein israelischer Extremist in der Hoffnung verübt hatte, die Friedensgespräche zwischen der israelischen Regierung und der PLO zum Scheitern zu bringen. Das Selbstmordattentat war Ausdruck einer neuen militärischen Strategie der Hamas. Die Anführer hielten den Tod von Zivilisten für Israels Schwachstelle. Ziel wurde es, das israelische Gefühl von persönlicher Sicherheit zu unterhöhlen.Das Scheitern der Camp-David-Verhandlungen im Jahr 2000 und der Ausbruch der zweiten Intifada markierten die Transformation der Hamas in eine echte Herausforderin der PLO und der kurz zuvor gegründeten Palästinensischen Autonomiebehörde. Je stärker Israel den Siedlungsbau vorantrieb und den militärischen Besatzungsapparat durch Checkpoints und Mauern ausbaute, umso mehr wirkte es, als hätte die Fatah kapituliert, und umso attraktiver erschien die Hamas mit ihrer kompromisslosen Position. Während die Gruppe in den 2000er Jahren Selbstmordattacken organisierte, baute sie ihr Waffenarsenal aus. 2001 feuerte die Hamas ihre ersten Raketen aus dem Gazastreifen ab.Diese Gewaltstrategie schien sich aus Sicht der Hamas-Anführer bewährt zu haben, als Israel im August 2005 begann, sein Militär und mehr als 8.000 Siedler aus Gaza zurückzuziehen – für den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon war dies eher ein taktischer Schritt, der darauf abzielte, künftige Friedensverhandlungen zu sabotieren. „Heute verlasst ihr Gaza gedemütigt“, verkündete Mohammed Deif, Kommandant der Qassam-Brigaden, in einer Videobotschaft. „Die Hamas wird ihre Waffen nicht abgeben. Sie wird den Kampf gegen Israel fortführen, bis es von der Landkarte verschwunden ist.“Hatte die Hamas Wahlen lange Zeit mit der Begründung boykottiert, dass eine Teilnahme die Anerkennung des Osloer Abkommens bedeutet hätte, wechselte sie nach dem Rückzug Israels überraschend ihren Kurs: Im Januar 2006 trat sie bei den Parlamentswahlen an, mit einem Programm gegen Korruption und für Recht und Ordnung. Sie gewann die absolute Mehrheit, was viele in der PA, in Israel und der US-Regierung schockierte. „Die Frage ist, warum das niemand hat kommen sehen“, sagte die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice. Schon im Vorfeld der Parlamentswahlen hatte die Hamas, die damals von Chaled Maschal angeführt wurde, die Kairoer Erklärung von 2005 unterzeichnet. Darin wird die PLO als „einzige legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes“ bestätigt und die Gründung eines palästinensischen Staates gefordert.„Die Hamas stimmte zwischen 2005 und 2007 faktisch einem politischen Programm zu, das – mit der richtigen Hebelwirkung eingesetzt – zur Gründung eines Palästinenserstaates neben Israel und zur Aufhebung der Besetzung hätte führen können“, schrieb Baconi noch 2023 in der Foreign Policy. Aber ob die Hamas ihr Mandat dafür genutzt hätte, einen palästinensischen Staat neben Israel anzustreben, oder ob sie die Palästinensische Autonomiebehörde zu einem bewaffneten Konflikt getrieben hätte, wie die israelische Führung befürchtete, werden wir niemals erfahren. „Das Glücksspiel der Hamas“ – ihre Beteiligung an der Palästinensischen Autonomiebehörde und ihre Billigung eines palästinensischen Staates auf Grundlage der Grenzen von 1967 – „zahlte sich aus“, schreibt Baconi in Hamas Contained, „in dem Sinne, dass es nie als Bluff aufgeflogen ist“.In Reaktion auf den Wahlsieg der Hamas 2006 weigerten sich die Vertreter der Fatah, mit der von der Hamas geführten Regierung eine Koalition zu bilden. Israel verschärfte die Abriegelung des Gazastreifens. Bald darauf stellten die USA und die Europäische Union ihre Hilfe ein. Schon im Herbst des Wahljahres töteten Gruppen sowohl der Fatah und als auch der Hamas gezielt Anhänger der anderen Seite, entführten und folterten sie, auch wenn Mahmoud Abbas als Anführer der Fatah weiter mit Chalid Maschal über eine Vereinigung verhandelte. Am 14. Juni 2007, nach fünf Tagen heftiger Feuergefechte im Gazastreifen, vertrieb die Hamas die Palästinensische Autonomiebehörde – und fand sich plötzlich in einer völlig neuen Rolle wieder. Sie war nun für das tägliche Leben in Gaza verantwortlich.Scheich Yasin behauptete einmal, er habe während der ersten Intifada ein Angebot Israels abgelehnt, Gaza zu übernehmen. „Es wäre verrückt von uns gewesen, zuzustimmen, die Stellvertreter für die israelische Regierung zu sein“, erklärte er. Aber jetzt sah sich die Hamas mit der Aufgabe konfrontiert, ein Gebiet zu verwalten, das aus der Luft, zu Lande und zu Wasser von der Außenwelt abgeschnitten ist und immer wieder von Israel bombardiert wird. Nach und nach konsolidierte sie ihre Regierung über die Enklave an der Küste.Manchen schien es so, als hätte die Hamas sich von einer militanten Gruppe in eine Pseudo-Staat-Regierungsmacht entwickelt. Ein Viertel des ersten gewählten Ministerkabinetts konnte einen US-amerikanischen Studienabschluss vorweisen. „Sie waren nie demokratisch oder gemäßigt autoritär, wie es in mancher Analyse heißt“, wendet aber der in Gaza geborene Friedensaktivist Khalil Sayegh ein. „Sie waren sehr autoritär, aber clever genug, den Westen darüber zu täuschen, wie sie mit der Situation umgingen.“ Nachdem sie die Fatah vertrieben hatten, machte sich die Hamas daran, die konkurrierende Macht der in Gaza herrschenden Clans einzuschränken. Um abweichende Meinungen zu unterdrücken, setzte die Hamas laut Sayegh auf Methoden, die von öffentlicher Bloßstellung bis hin zu Erpressung und Folter reichten.Netanjahus heimliche PartnerObwohl einige Hardliner darauf drängten, führte die Hamas nie die Scharia ein, aber sie versuchte, eher unsystematisch, die öffentliche Moral zu regulieren. „Islamisierende Maßnahmen werden zaghaft vorgeschlagen und dann wieder zurückgenommen, wenn die Bürger Einspruch erheben“, heißt es in einem Bericht der Crisis Group von 2011. Gleichzeitig wurde die Hamas von radikaleren salafistischen Gruppen kritisiert, weil sie kein strenges islamisches Gesetz durchgesetzt hatte. Als 2009 mit al-Qaida verbündete Salafisten im südlichen Gazastreifen einen Islamischen Staat ausriefen, wurden sie von Hamas-Truppen gewaltsam niedergeschlagen.Die Hamas entwickelte ihr ausgeklügeltes Tunnelsystem, um die harten Bedingungen der Blockade zu umgehen und ihre Kämpfer vor israelischen Luftangriffen zu schützen. Insbesondere die Tunnel, die den Gazastreifen mit Ägypten verbinden, wurden zur wirtschaftlichen Lebensader des belagerten Gebiets und zu einem Haupttransportweg für den Waffenschmuggel. Laut einer Schätzung brachten die Einnahmen aus den Tunneln der Hamas rund 750 Millionen US-Dollar im Jahr. Doch während in den ersten Jahren unter der Hamas-Regierung ökonomisches Wachstum zu verzeichnen war, ging zwischen 2007 und 2022 das reale Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 2,5 Prozent jährlich zurück, bei wachsender Bevölkerung. Vertreter der UN warnten wiederholt davor, dass Gaza am Rand einer humanitären Krise stehe.Placeholder image-1Während dieser Jahre entwickelten die Hamas und Israel einen Modus des Umgangs, den Baconi als „Equilibrium der Kriegsführung“ bezeichnet. Raketenbeschuss durch die Hamas diente als Mittel, um mit Israel zu verhandeln. Im Gegenzug für eine Feuerpause forderte die Hamas Blockade-Erleichterungen oder Arbeitserlaubnisse für Palästinenser, die nach Israel einreisen wollten, um zu arbeiten. Israel erwiderte die Raketen der Hamas mit Luftangriffen – „das Gras mähen“, wie es die Militärstrategen mit einem menschenverachtenden Euphemismus bezeichneten. Israel beendete den Beschuss, wenn es behaupten konnte, die Hamas hinreichend „abgeschreckt“ zu haben – bis zur unvermeidlichen nächsten Runde.Für Israel wurde die Hamas als funktionale Regierung Gazas nützlich, da sie dafür verantwortlich war, die belagerte Bevölkerung des Gazastreifens zu versorgen und andere militante Gruppen einzugrenzen, ähnlich wie die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland. Für Premierminister Benjamin Netanjahu hatte dieses Arrangement einen zusätzlichen Vorteil: Die von der Autonomiebehörde regierte Westbank und der von der Hamas regierte Gazastreifen hielten auch die palästinensische Nationalbewegung gespalten, und für Israel daher leichter zu managen. Über ein Jahrzehnt hinweg unterstützte die israelische Regierung die Hamas-Regierung, indem sie den Transfer von Milliarden von Dollar aus Katar an die islamistische Gruppe ermöglichte. „Netanjahu und die Hamas hatten immer schon eine starke, unausgesprochene Partnerschaft. Für ihn war die Hamas von unschätzbar hohem Wert, was die Verhinderung der Schaffung eines palästinensischen Staates angeht“, schrieb mir Hussein Ibish, leitender Wissenschaftler am Arab Gulf States Institute. „Seine zynische Teile-und-herrsche-Strategie, die er noch immer nicht vollständig aufgegeben zu haben scheint, führte unerbittlich und praktisch unausweichlich auf den 7. Oktober hin.“In israelischen Verteidigungskreisen gilt das gesammelte Versagen am 7. Oktober als Beweis dafür, dass die Regierungen unter Netanjahu die Hamas völlig falsch eingeschätzt hatten. „Wir dachten, durch die Bestechung der Gruppe mit Geld und der Möglichkeit, die Wirtschaft zu entwickeln, würde sie eine verantwortungsvollere und verlässliche Herrscherin werden“, erklärte Kobi Michael, leitender Forscher bei der Denkfabrik Institute for National Security Studies, das enge Beziehungen zum israelischen Militär unterhält. „Aber das ist eine Illusion.“ Denn aus Innensicht der Hamas sieht die Sache anders aus. „2008 – 2009, 2012, 2014, 2021 – es ist ein andauernder Krieg“, sagt Azzam Tamimi, Autor von Hamas: Unwritten Chapters, am Telefon aus Istanbul. „Die Hamas ist nicht befriedet. Sie hat immer weitergekämpft, mit Pausen zwischen dem Kämpfen.“ Sie habe nie aufgehört, sich auf Operationen gegen Israel vorzubereiten. „Die Vorbereitungen für den 7. Oktober sind nichts, was sich über Nacht auf die Beine stellen lässt.“Ende der Zwei-Staaten-LösungKobi Michael wirft der israelischen Führung Versagen vor. Sie hätte erkennen müssen, dass die Hamas eine „messianische“ Organisation sei, die sich nicht managen lasse. „Ihre Denkweise ist sehr religiös, also irrational. Es war bequem für uns, zu denken, sie seien uns ähnlich.“Während der Krieg in Gaza sich hinzieht, argumentieren israelische Politikexperten zunehmend, dass die Absicht der Hamas, Israel zu zerstören, wörtlich genommen werden sollte. „Ich habe die Schriften der anderen Seite in ihrer Originalsprache gelesen und ich glaube, was da steht, ich glaube es einfach“, erklärte der frühere israelische Geheimdienstmitarbeiter Michael Milshtein über die in Arabisch verfassten Veröffentlichungen der Hamas. Für ihn ist ein zentraler Grund für das monumentale Versagen des israelischen Militärs am 7. Oktober, dass der Geheimdienst und die politischen Anführer des Landes die zahlreichen Drohungen durch Hamas-Anführer nicht ernst nahmen, dass eine massive bewaffnete Operation gegen Israel bevorstehe.Viele Israelis können sich Frieden nur dann vorstellen, wenn die Hamas nicht mehr existiert. Eine im Dezember durchgeführte Umfrage des palästinensischen Meinungsforschungsinstituts Khalil Shikaki ergab jedoch, dass 72 Prozent der Palästinenser in Gaza und der Westbank den Angriff der Hamas vom 7. Oktober befürworteten – trotz der durch Israel entfesselten Zerstörung. „Wenn die Unterdrückung zunimmt“, sagte 1998 Scheich Yasin gegenüber dem mittlerweile verstorbenen Guardian-Journalisten Ian Black, „machen sich die Leute auf die Suche nach Gott“.Als ich im März mit Gershon Baskin sprach, erzählte er mir, dass er und Ghazi Hamad wieder in Verbindung stehen. Die Wiederaufnahme des Kontakts war gegenseitig. „Das erste Gespräch war vor zwei Monaten und ein unerfreulicher Austausch. Die Kernfrage ist, ob wir eine konstruktive Rolle dabei übernehmen können, heimlich eine inoffizielle Nebendiplomatie aufzubauen. Das ist noch nicht geklärt.“Wäre die Hamas wieder in die Strukturen der palästinensischen Politik einzugliedern? Vertreter dieser These argumentieren, dass die Anführer der Gruppe schon einmal ernsthaft die Interimslösung von einem Palästinenserstaat verfolgten, der nur einen Teil des historischen Palästina umfasst. Daher könnten die Hamas-Anführer unter den richtigen Bedingungen wieder dazu bereit sein. „Sie war real“, sagt der Nahostexperte Hugh Lovatt, Senior Fellow für Politik an der Denkfabrik European Council on Foreign Relations, über die Offenheit der Hamas für eine Zwei-Staaten-Lösung. Sie sei in der überarbeiteten Charta der Hamas von 2017 ausgedrückt. „Es gibt eindeutig einen politischen und relativ gemäßigten Flügel in der Hamas. Die Frage ist, was mit seinen Vertretern passiert? Trennen sie sich von der Bewegung ab? Werden sie von den Hardlinern überrollt? Oder gelingt es ihnen, die Bewegung zurück auf ein politisches Gleis zu lenken?“„Die Einbeziehung der Hamas ist eine Voraussetzung für eine palästinensische Führung, die für die Bevölkerung repräsentativ ist“, sagt auch Baconi am Telefon, „unabhängig davon, was wir von ihren Taktiken oder ihrer Ideologie halten.“Auf meine Frage nach den Aussichten für eine Rückkehr zum Zwei-Staaten-Paradigma nach dem Krieg zeigte sich Baconi allerdings nicht optimistisch: „Wenn es einen politischen Prozess gäbe, der zu einem palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 führen würde – wobei es den meiner Ansicht nach nie geben wird, wenn man von einem echt souveränen Staat spricht –, aber wenn es ihn gäbe, glaube ich, dass die Hamas politisch und strategisch daran mitwirken würde. Ich bin überzeugt, dass die Hamas dazu bewegt werden könnte, das Potenzial eines solchen diplomatischen Prozesses anzuerkennen.“ Aber vor dem Hintergrund der totalen Verwüstung des Gazastreifens sei die Rede von einem Zwei-Staaten-Prozess hauptsächlich ein Ablenkungsmanöver. „Ich sehe nicht, dass aus diesem alten Diskurs, der uns in die 1990er und frühen Nullerjahre zurückversetzt, ein effektiver politischer Prozess hervorgeht.“Was kommt nach Krieg?Sehr wahrscheinlich wird die Bereitschaft der Hamas-Führung, sich auf den politischen Pfad zurückzubegeben, gar nicht erst an der Realität gemessen werden. Nach den Angriffen vom 7. Oktober rutschte die israelische öffentliche Meinung noch weiter nach rechts als zuvor. Benjamin Netanjahus Popularität ist eingebrochen, aber sein Nachfolger wird sicher kein Friedensaktivist sein. Zwar stimmte der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin Ende der 1980er und Anfang der 1990er Gesprächen mit der PLO und Jassir Arafat zu, den die meisten Israelis für einen reuelosen Terroristen hielten. Aber die Unterzeichnung der Oslo-Abkommen war erst möglich, nachdem die PLO bereit war, eine Reihe von Vorbedingungen zu erfüllen. Kein Hamas-Anführer könnte je den bewaffneten Kampf aufgeben oder einer formalen Anerkennung Israels zustimmen.Es besteht die Tendenz, die Ereignisse am 7. Oktober und den anhaltenden Krieg als Umbruch zu betrachten. Tod und Zerstörung in einem so enormen Ausmaß scheinen einen Paradigmenwechsel zu signalisieren, den Beginn einer neuen Phase. Aber Israels Fortsetzung des aktuellen Kriegs ist auch deswegen so erschreckend, weil selbst nach mehr als 30.000 getöteten Palästinensern und 1.200 von der Hamas getöteten Israelis das grundlegende politische Gebilde Israel/Palästina am Tag nach dem Krieg genauso aussehen könnte wie am 6. Oktober.Placeholder authorbio-1
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