Das Dröhnen des Windes

Griechenland Der Küstenort Mati wurde von einem Brandinferno zerstört. Viele der Überlebenden verloren ihr Heim, ihre Freunde, ihre Liebsten
Ausgabe 31/2018
Das Dröhnen des Windes

Fotos: Justin Sullivan/Getty Images, Angelos Tzortzinis/AFP/Getty Images (klein)

Während die Todeszahlen der schlimmsten Waldbrände, die Griechenland in letzter Zeit erlebt hat, noch in der Woche danach weiter steigen, beschreiben Überlebende in Athens größtem Krankenhaus, dem Evangelismos-Krankenhaus, was ihnen widerfahren ist. Was zu den größten Zerstörungen in der jüngeren Geschichte ihres Landes geführt hat. Den Betroffenen wird erst langsam das Ausmaß der Katastrophe bewusst. Sie erfahren, dass noch immer Menschen vermisst werden, die man weder in ihren Häusern noch in deren Umgebung finden konnte. Zu Beginn dieser Woche haben Rettungsmannschaften das Katastrophengebiet erneut durchkämmt. Konsequenz: Die Zahl der Toten musste nach oben korrigiert werden. 91 Menschen hat die Feuerwalze nach dem letzten Stand das Leben gekostet.

„Der Schmerz, der Schmerz … Wir leiden alle, aber wie, das wird sich nie jemand vorstellen können“, seufzt die 67-jährige Maria Dionysioti, die innerhalb von Stunden ihren kleinen Enkelsohn, zwei ihrer Cousinen, einen Cousin und dessen Familie, dazu all ihre weltliche Habe verloren hat, während die Tochter Margarita noch immer mit dem Tode ringt. „Mein Enkel war erst sechs Monate alt, er war noch nicht einmal getauft. Er starb in Margaritas Armen, und jetzt liegt sie auf der Intensivstation nebenan“, seufzt Maria, umgeben von Freunden und Verwandten im Krankenhaus. „Man fand die beiden fünf Stunden, nachdem das Feuer über Mati hereingebrochen war, am Strand. Sie wollten sich wahrscheinlich ins Meer retten.“

Es gab am Abend des Infernos Sturmböen rings um den Küstenort, die jede Minute die Richtung änderten, mit Geschwindigkeiten von bis zu 130 Stundenkilometern, sodass die Flammen durch die 25 Kilometer östlich von Athen gelegene Gemeinde gepeitscht wurden. Darum haben es viele Bewohner, die sich am Strand in Sicherheit bringen wollten, einfach nicht mehr bis dorthin geschafft. „Gott, gib uns nicht die Worte, um das zu beschreiben, was wir erlebt haben. Gib sie uns nicht, denn es ist besser so“, bettelt Maria Dionysioti. „Mein Haus ist niedergebrannt, auch das meiner Tochter besteht nur noch aus Schutt und Asche. Was ist übrig geblieben?“ Sie schwenkt einen kleinen schwarzen Fächer. „Weniger als nichts. Die Tochter meines Cousins Grigoris, ein 13-jähriges Mädchen, ist von einer Klippe gesprungen und hat überlebt. Mein anderer Cousin Michalis verbrannte mit Frau und Tochter in seinem Wagen. Sagen Sie mir, kann die menschliche Seele so etwas aufnehmen und verkraften?“ Sie klagt und lässt ihren Tränen freien Lauf, als würde sie ihren Schmerz zur Ader lassen.

Eng umschlungen in den Tod

Am Morgen nach dem Inferno wurden die Überreste von 26 Männern, Frauen und Kindern auf einem offenen Grundstück in der Nähe von Poseidonos bei Mati gefunden. Fast alle schienen sich umarmt zu haben, als sie starben. Man fand die Leichen von Frauen, die Kinder eng umschlungen hielten, eine letzte Hilflosigkeit, bevor die Flammen sie umschlossen. Rettungskräfte, die zu rekonstruieren versuchten, was geschehen war, gingen davon aus, dass die Menschen sich dort in Sicherheit bringen wollten, weil der Ort so nah am Wasser liegt. Dann aber mussten sie in Rauch und Hitze feststellen, dass es von den Klippen keinen Zugang zum darunterliegenden Strand gibt, man nur noch in einen tödlichen Abgrund springen konnte. Viele hatten geglaubt, das Meer könne sie vor den Flammen retten – es brachte stattdessen den Tod.

Verkohlte Körper wurden aus dem Wasser gezogen oder am Strand gefunden. Nikos Stavrinidis, einer der Überlebenden, die von einer Flotte der Küstenwache aus Fischerbooten und Segelyachten gerettet wurde, erzählt, der Wind habe die Flammen so sehr angefacht und die See so stark aufgepeitscht, dass diejenigen, die ins Wasser geflohen waren, vollkommen die Orientierung verloren. „Wir waren im Meer und brannten im Meer, um mich herum verloren die Menschen das Bewusstsein. Es ist schrecklich zu sehen, wie neben dir jemand untergeht und ertrinkt, und du kannst ihm nicht helfen.“ Er selbst sei ein guter Schwimmer und habe zwei Stunden darum gekämpft, sich über Wasser zu halten, bevor ein ägyptisches Fischerboot ihn rettete. Vorläufig lasse ihn der Klang des Windes nicht mehr los – dieses laute Dröhnen, das die Menschen erfahren hätten wie eine Heimsuchung. „Es ging alles so wahnsinnig schnell. Zuerst war das Feuer noch weit weg, dann erreichten uns erste Funken, und plötzlich waren die Feuerwände überall um uns herum. Der Wind trieb ein tödliches Spiel. Es war unglaublich“, erinnert sich Stavrinidis.

Der Schrecken, der von einer der tödlichsten Feuersbrünste in diesem Jahrhundert ausging, wird noch jahrelang nachwirken, auch wenn die Griechen mit Haltung und Widerstandskraft auf das Inferno reagieren. Im Angesicht der Tragödie rücken sie einmal mehr zu einem Tross der Solidarität zusammen. „Lassen Sie mich eine Bitte äußern“, sagt Vangelis Bournous, Bürgermeister von Rafina-Pikermi, der Hafenstadt, die dem Schreckensort Mati am nächsten liegt. „Bitte schickt uns keine Nahrungsmittel, keine Medikamente und keine Kleidungsstücke mehr. Wir haben so viel, dass wir bald nicht mehr wissen, was wir damit anfangen sollen.“

Die Rettungsdienste berichten, sie seien anfangs mit Anfragen nach vermissten Personen überschwemmt worden. Ilias Psinakis, der Bürgermeister von Marathonas, zu dessen Bezirk Mati gehört, sagt dazu: „Als ich am Tag nach der Katastrophe das Rathaus verließ, waren noch 40 Personen vermisst. Dann hat sich manches geklärt, Menschen tauchten wieder auf oder wurden tot geborgen. Im Augenblick sind es noch fünf, von denen wir nicht wissen, was mit ihnen passiert ist.“ Die Angst ist groß, dass die Zahl der Opfer noch wächst und so die Schreckensbilanz von 2007 deutlich übersteigt, als Waldbrände weite Teile der westlichen Peloponnes verwüsteten und 77 Menschen den Tod fanden.

Er wisse bereits, so Bürgermeister Psinakis, dass in seinem Bezirk mindestens ein Drittel der Häuser völlig ausgebrannt oder schwer beschädigt sei. „Sie ähneln verrußten Gerippen. In Mati selbst sind von gut 1.900 Gebäuden zwei Drittel derart beschädigt, dass man sie nicht mehr bewohnen kann. Unsere Gegend lässt sich eigentlich nur mit Syrien am Tag nach einem schweren Bombardement vergleichen.“ Die Straßen sind mit schwarzen Ästen übersät. Das Schwarz von Mati hat alle anderen Farben ausgelöscht, auch wenn die nicht gänzlich verschwunden sind.

„Wie kann es sein, dass in einer derart kleinen Stadt am Meer so viele Menschen sterben?“, fragt ein Arzt, der in Mati lebt. „Irgendetwas muss hier schrecklich schiefgegangen sein.“ Manche Bewohner sagen, sie hätten sich Abfallcontainer und anderes Equipment nicht leisten können, um ihre Grundstücke von Unrat, Gestrüpp und Tannenzapfen zu befreien – ausnahmslos brennbares Material, das im Sommer eine von Wald umgebenen Landschaft leicht zum Pulverfass werden lässt. „Das ist das Griechenland der Sparprogramme und verarmten Menschen“, sagt Cleopatra Fotopoulou, die ins Evangelismos gekommen ist, um Frau Dionysioti beizustehen. „Ich kenne so viele, die Geldsorgen plagen und die es sich nicht leisten können, ihre Grundstücke sauber zu halten. Ich glaube, deshalb hat sich so viel Holz angesammelt, das schnell Feuer gefangen hat.“ Fotopoulou, eine ehemalige Grafikdesignerin, sagt, sie gehöre zu einer Gruppe befreundeter Nachbarn, die in ihrem eigenen, nicht weit von Mati entfernten Dorf jede Nacht Wachen aufstellen würden, um nach Brandherden Ausschau zu halten. „Wie durch ein Wunder ist unser Ort bisher verschont geblieben.“

„Ich hatte Glück. Ich lebe noch“

Die Regierung hat erklärt, sie werde den betroffenen Regionen 40 Millionen Euro Soforthilfe zukommen lassen. Ende vergangener Woche beschloss das Parlament, zusätzlich zehn Millionen an diejenigen auszuzahlen, die ihre Häuser und Fahrzeuge verloren haben. Das sei „die selbstverständliche Unterstützung und Solidarität für Hunderte von Mitbürgern, die von unsagbaren Verlusten betroffen sind“, erklärt Parlamentspräsident Nikos Voutsis von der Syriza-Partei.

Ungeachtet dessen sieht sich das Kabinett von Premier Tsipras wachsender Kritik wegen seiner Rettungsmaßnahmen ausgesetzt. Einwohner der betroffenen Gebiete beschweren sich darüber, dass keine Löschflugzeuge eingesetzt wurden, als das Feuer in den Badeort eindrang.

Unter denen, die das Gefühl haben, dem Tod ein Schnippchen geschlagen zu haben, ist der pensionierte Hochsee-Kapitän Cleanthis Rorris. Der 81-jährige frühere Seemann lebt seit einem halben Jahrhundert in Mati. Im Garten des zweistöckigen Hauses in der Stefanou-Straße, das er seinen Kindern vererben will, hat er sich eine Atelierwohnung gebaut, die er „mein Königreich“ genannt hat. In der Nacht zum 24. Juli hat sich das gesamte Anwesen von Cleanthis Rorris in einen großen Haufen Asche verwandelt – nur sein Atelier blieb als einziges verschont und intakt.

„Als die Flammen anfingen, über die Straße zu schlagen, rannte ich so schnell zu meinem Wagen, dass ich dabei meine Schuhe verloren habe“, erinnert er sich, während er vor den verkohlten Resten seines Hauses steht. Ein aufrechter Mann, der selbst in dieser dunklen Stunden Optimismus ausstrahlt. Ist er nicht wütend, wie heimtückisch und bösartig die Natur sein kann? „Ich habe letzte Woche Tag für Tag über die Elemente nachgedacht. Ich habe die Hälfte meines Leben auf dem Meer verbracht, den Rest hier auf diesem Stück Land, und nun, nach diesem schrecklichen Feuer, wird mir klar, dass ich wieder zum Ausgangspunkt zurückgekehrt bin“, glaubt er. „Ich habe alle Elemente erfahren, und ich hatte Glück. Ich lebe noch.“

Helena Smith ist Guardian-Korrespondentin in Griechenland

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Helena Smith | The Guardian

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