Keine Selfies aus Kiew: Viktor Orbán bleibt der EU einen Trip nach Kiew schuldig
Ungarn Früher die „lustigste Baracke“ im Ostblock, ist das Land unter Viktor Orbán heute gleichermaßen auf Abstand zu Moskau, wie zu Brüssel bedacht. Auch von massiver Kritik lässt sich hier niemand beirren
EU-Ratspräsident Charles Michel versucht beim Brüsseler Gipfel im Februar, Viktor Orbán und Wolodymyr Selenskyj ins Gespräch zu bringen
Foto: Virginia Mayo/AP/dpa
„Wir haben unser Vaterland mit Blut verteidigt! Ruhm und Ehre der Armee! Russlands Herrlichkeit wird nie vergehen!“, schmettert der Chor des Budapester Opernhauses fortissimo zu triumphalen, klangvollen Orchesterakkorden. Die Worte sind nicht auf den Krieg in der Ukraine bezogen. Sie stammen aus der Oper Krieg und Frieden nach Leo Tolstois Roman über die napoleonische Invasion in Russland 1812. Anfang der 1940er Jahre adaptierte der sowjetische Komponist Sergej Prokofjew den Stoff unter dem Eindruck des deutschen Einmarschs in die Sowjetunion und der Verteidigung des Landes gegen die Nazi-Wehrmacht.
Ungarns Staatsoper, die eine Neuinszenierung des Werkes präsentiert, bemüht sich zu betonen, dass dieses Projekt lange vor Wladimir Putins Befehl zum Einmarsch in der
m Einmarsch in der Ukraine geplant war. Dennoch haben die bombastische Musik und das patriotische Libretto auf Russisch eine für manchen irritierenden Beiklang zum ersten Jahrestag des Krieges. Verstärkt wird der Eindruck durch die Aufführung in einer Stadt, die gut eine Stunde Autofahrt von der ukrainischen Grenze entfernt ist. Zweifellos hat sich Budapest seit dem 24. Februar 2022 als die EU-Hauptstadt mit der freundlichsten Haltung gegenüber Russland gezeigt. Hier flattern vor Regierungsgebäuden keine ukrainischen Fahnen, stattdessen blockiert Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán den Transit von Waffen durch Ungarn und liefert selbst keine. Stattdessen fordert er stets von Neuem Friedensverhandlungen. Selfies aus dem ZugVor dem Opernhaus und überall im Zentrum von Budapest steht auf großen Plakatwänden: „Die Ungarn haben entschieden: 97 Prozent sagen NEIN zu den Sanktionen.“ Auf diese Weise abgebildet wird das Ergebnis von Befragungen im Auftrag der Regierung. Bisher unterzeichnet Orbán die Brüsseler Sanktionspakete zwar, kritisierte sie jedoch oft als kontraproduktiv. Und während andere EU-Regierungschefs Selfies aus dem Zug nach Kiew posten und darum wetteifern, sich als größte Verbündete Kiews darzustellen, waren weder Orbán noch sein Außenminister Péter Szijjártó seit Kriegsbeginn in der Ukraine. Dagegen besuchte Letzterer im Juli Moskau. Ungarn verhalte sich neutral, erklärt Orbán unentwegt, auch wenn Kritiker in seinem Verhalten stillschweigenden Beistand für Wladimir Putin zu erkennen glauben. Für einen NATO-Verbündeten sei das befremdlich. „Es ist nicht der Zeitpunkt, neutral zu sein, besonders in diesem Teil der Welt, wenn man zur NATO und EU zählt. Nicht Partei zu ergreifen, das bedeute, Putin zu unterstützen“, empört sich ein Diplomat in Budapest. Viktor Orbán, der im Frühjahr 2022 seine vierte Amtszeit in Folge antrat, profitiert seit Langem von den kritischen Tönen aus dem Ausland. Stolz spricht er davon, eine „illiberale Demokratie“ aufbauen zu wollen, im Gegensatz zu dem, was er als den degenerierten, „woken“, aus konservativer Sicht übermäßig politisch korrekten Westen betrachtet. Trotzdem sind einige von Orbáns konservativen Weggefährten besorgt über das Umwerben Russlands, insbesondere weil dadurch die bisher guten Beziehungen zu Polen Schaden genommen haben. Beide Länder hatten sich in der Vergangenheit bei Vorwürfen aus Brüssel wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit gegenseitig gestützt, doch ist Polen zu einem der führenden Unterstützer der Ukraine geworden.Nach Meinung von Sławomir Dębski, Direktor des regierungsnahen Instituts für Internationale Angelegenheiten in Warschau, belaste Orbáns Haltung zu Russland die bilateralen Beziehungen. Davon betroffen seien auch die Aktivitäten der Visegrád-Gruppe, ein seit 1991 bestehender Zusammenschluss aus Polen, Ungarn und damals noch der Tschechoslowakei, bevor die sich in die Staaten Tschechien und Slowakei auflöste. In der Vergangenheit lag diese Assoziation häufig auf einer Linie. „Nun will niemand mehr mit den Ungarn reden. Wenn heute ein Treffen heranrückt, fragen sich alle in Warschau, Bratislava und Prag: Was sollen wir tun?“ Laut Sławomir Dębski sei es ein Problem, dass Orbán seinen Dissens mit diversen EU-Positionen stets öffentlich vertrete. „Nehmen Sie Österreich, dort teilt man vielleicht manche der ungarischen Auffassungen, aber man hält sich zurück und gerät nicht ins Scheinwerferlicht.“ Den jüngsten Wirbel löste der US-Konservative und Orbán-Cheerleader Rod Dreher mit einem Blog über ein Treffen ausländischer Gesandter des rechten Lagers mit dem ungarischen Premierminister aus. Darin zitierte er Orbán mit der Äußerung, Russland habe die Ukraine in ein „unregierbares Wrack“ verwandelt, das man mit Afghanistan vergleichen könne. Das löste in der Ukraine Empörung aus und führte dazu, dass der ungarische Botschafter in Kiew ins Außenministerium einbestellt wurde. Der Bürgermeister von Dnipro, Boris Filatow, regierte mit drastischen Worten: „Man muss moralisch vollkommen degeneriert sein, um sich unter dem Schirm der EU und der NATO zu verstecken und zugleich auf alles zu schießen. Kommt hervor, und wir werden euch Wichser in drei Tagen fertigmachen“, so die bemerkenswerte Ansage. Orbáns deutlich artikulierte Distanz zur Ukraine wird als Weg gedeutet, seine Loyalität gegenüber Moskau zu zeigen, in den Genuss vorteilhafter Investitionen russischer Firmen in Ungarn zu kommen und für den Fall eines russischen Kriegsgewinns in Moskau gepunktet zu haben. Das könnte Ungarns Vorgehen erklären, mehrere russische Unternehmer von der EU-Sanktionsliste zu streichen. „In Orbáns Umfeld sind viele davon überzeugt, dass es einen Weg zurück zum Status quo vor dem Krieg gibt. Schlecht über die Ukraine zu sprechen, wird als Gelegenheit gesehen, Russland zu gefallen“, glaubt András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Es gab freilich noch andere Zeichen der Ehrerbietung. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern lehnt es die ungarische Regierung bis heute ab, wegen des Krieges russische Diplomaten auszuweisen. Das Land hat daher derzeit eine der größten russischen Botschaften in Europa. Es gibt in diesem Zusammenhang Befürchtungen, dass die offenen Grenzen der Schengen-Zone Russland dazu einladen könnte, Budapest als Basis für Spionageoperationen in ganz Europa zu nutzen. Im November verhafteten ukrainische Sicherheitskräfte einen früheren Beamten aus Kiew an der ungarischen Grenze. Sie warfen ihm vor, geheime Informationen über ukrainisches Militär und Geheimdienstmitarbeiter auf einem Speichermedium bei sich getragen zu haben. Laut ukrainischer Darstellung plante der Mann, das Material in die russische Botschaft in Budapest zu bringen. Stehende OvationenIn jüngster Zeit wächst zudem die Besorgnis über ein Gesetz, das es dem ungarischen Verteidigungsminister erlaubt, über 45-jährige Armeeoffiziere zu entlassen. Das könnte zu einem massiven Austausch von Führungskräften in der Armee führen. Laut Regierung zielt der Schritt auf eine Verjüngung des Offizierskorps, nur fehlt es bisher an jeder öffentlichen Diskussion dieses Vorhabens. „Es ist höchst ungewöhnlich, dass ein NATO-Staat in einer derart angespannten Lage wie im Augenblick eine solche Konversion beschließt, während andere Bündnisländer ihre Streitkräfte aufstocken“, findet András Rácz. Ágnes Vadaiwies, heute Oppositionsabgeordnete für die Sozialistische Partei (USP), früher Vizeverteidigungsministerin, merkt an, dass Offiziere mit langjähriger Erfahrung in der NATO und Verbindungen zu deren Strukturen entlassen würden. „Das ist für alle eine Überraschung. Und es fällt schwer, darin keine Verbindung zur Außenpolitik des Ministerpräsidenten zu sehen.“ Bisher findet Orbáns Haltung zum Krieg innenpolitisch viel Rückhalt, unterstützt durch Medien, die meist der Regierung nahestehen und häufig das russische Narrativ zum Krieg bedienen. Umfragen offenbaren, dass die Mehrheit der Ungarn die Ukraine negativ sieht. Zudem gelingt es der Regierung, die rekordverdächtige Inflation und vorhandene ökonomische Probleme als Konsequenz der EU-Sanktionen zu verkaufen. Am Premierenabend im Opernhaus war denn auch kein sichtbares Unbehagen an den Stellen des Librettos zu spüren, an denen davon gesungen wird, dass die russische Armee „fremden Heuschrecken“ zusetzt und den Feind „ohne Haut und ohne Gesicht“ dastehen lässt. Am Ende des vierstündigen Musik-Marathons gab es stehende Ovationen. Placeholder authorbio-1
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