Nachruf Shane MacGowan behauptete nie, ein Poet der Arbeiterklasse zu sein. In die Unterschicht der Ausgestoßenen, über die er schrieb, konnte man aus jeder Klasse rutschen
Als 19-Jähriger hat Shane MacGowan für das Punkrock-Magazin Bondage geschrieben
Foto: Sydney O'Meara/Getty Images
In Here Comes Everybody, James Fearnleys Memoiren über seine Zeit als Akkordeonist bei den Pogues, wird die erste Headliner-Tour der Band durch Irland beschrieben, insbesondere ein Auftritt in Carlow, bei dem eine Massenschlägerei im Publikum ausbricht. Fearnley ist danach sowohl über das Verhalten des Publikums als auch über die Reaktion von Frontmann Shane MacGowan entsetzt, der auf seine Bandkollegen losgeht und ihnen einen Vortrag über die menschliche Natur hält.
„Die Menschen sind nur so weit davon entfernt, sich gegenseitig zu ermorden, so weit davon entfernt, zu vergewaltigen, so weit davon entfernt, sich abzustechen, zu erschießen, zu massakrieren, zu erdrosseln ... Egal, wo man hinschaut ... Es ist das, was sie tun wollen, und wenn es das is
st das, was sie tun wollen, und wenn es das ist, was sie tun wollen, werden sie es sowieso tun, egal, wie sehr ihr herumheult.“Der abwegige WeihnachtshitFearnley ist baff: Wie, so fragt er sich, kann jemand, der so denkt, gleichzeitig „Lieder von solch klarer Schönheit schreiben, voller Selbstmitleid angesichts der Conditio Humana“? Er hat recht: Die Lieder, die zwischen 1984 und 1987 aus MacGowan herauszusprudeln schienen – dem Zeitraum, in dem die ersten drei Pogues-Alben entstanden und der Großteil der Musik, auf der sein Ruf beruht – waren außergewöhnlich.Er schrieb Songs wie The Sick Bed of Cúchulainn, das 1985 das Album Rum Sodomy & the Lash eröffnete – eine packende, chaotische Phantasmagorie, die kaum drei Minuten dauert, aber es schafft, die vorchristliche irische Mythologie, einen behinderten Verbrecher aus dem 18. Jahrhundert, den österreichischen Tenor Richard Tauber und die Sage von Frank Ryan zu streifen, einem irischen Republikaner, der zum Nazi-Kollaborateur wurde. Und er konnte Lieder wie Streams of Whiskey oder Sally MacLennane schreiben, die, zumindest solange sie liefen, ein Leben unter ständiger alkoholischer Betäubung attraktiv erscheinen ließen.Er konnte auch wütende politische Lieder über die Troubles schreiben, allen voran Birmingham Six von 1988, das als Medley mit dem gemäßigteren Streets of Sorrow seines Bandkollegen Terry Woods aufgenommen wurde. Und er konnte extrem witzige Lieder schreiben, darunter The Body of an American, das eine irisch-amerikanische Totenwache schildert: „The men all started telling jokes and the women they got frisky / By five o’clock in the evening every bastard there was pissky.“Aber seine eigentliche Spezialität waren Lieder, die zerstörte Biografien ins Licht rückten, angefangen mit der Debütsingle Dark Streets of London von 1984, als die Band noch Pogue Mahone (gälisch für „kiss my arse“) hieß. Pubs und Buchmacher spielen eine Rolle und MacGowans eigene Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen – er hatte als Teenager einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik verbracht. „Jedes Mal, wenn ich den ersten Sommertag anschaue“, singt er, „bin ich zurück an dem Ort, an dem sie mir eine Elektroschocktherapie verpasst haben / Und die zugedröhnten Psychos mit dem Tod in ihren Augen ... Ich bin verdammt und habe keinen Penny“.Mythologie war das Geschäft der PoguesWettbüros, Kneipen, Drogen, Geisteskrankheit, Armut, die Tristesse Londons: Das war das Milieu, in das Shane MacGowan immer wieder zurückkehrte, die Welt, die im Hintergrund selbst seiner süßesten Texte zu lauern scheint, darunter das wunderschöne Liebeslied A Rainy Night in Soho. Pedanten werfen MacGowan gerne vor, dass er dieselbe Vorschule in Tunbridge Wells wie der adrette Schauspieler Dan Stevens besucht hat und kurzzeitig auch die renommierte Westminster School, aber das geht völlig am Thema vorbei. Er hat sich nie als Poet der Arbeiterklasse ausgegeben:Worüber er immer wieder schrieb, war eine Art Unterschicht der Ausgestoßenen, ein Teilbereich der Gesellschaft, in dem Menschen jeder Klasse landen können. Er schrieb über ihre Bewohner mit einer verblüffenden Empathie und Zärtlichkeit, die den Zuhörer in ihre Geschichten hineinzieht: der sterbende Stricher in The Old Main Drag, der „angeschissen und angespuckt und vergewaltigt und missbraucht“ wurde; der Betrunkene, der in A Pair of Brown Eyes seine Geschichte von verlorener Liebe und Krieg ausspuckt; das zügellose, streitende Paar im unsterblichen Fairytale of New York – das wohl abwegigste Thema aller Zeiten für einen Weihnachtshit. „Ich habe einfach Glück“, sagte er einmal. „Denn ich bin nicht anders als sie. Ich darf mich nur vor 24.000 Leuten so benehmen wie sie, das ist alles.“MacGowan vertonte seine Texte mit Melodien, die so klangen, als habe es sie schon immer gegeben. Zumindest musikalisch war es oft schwer, die Originale der Pogues von dem traditionellen Material zu unterscheiden, das sie in einem so rasanten Tempo vortrugen, dass einige in Irland meinten, sie würden die Musik entweihen, anstatt sie aufzuführen.Wie er all das machte, bleibt ein Rätsel. Fearnley erzählt, wie MacGowan nach dem Ende seines Rockabilly-Punk-Quartetts The Nips verzweifelt nach Ideen für eine neue Band sucht. Am Tiefpunkt schlug er vor, als römische Gladiatoren verkleidet „kretische Musik“ zu spielen. Im nächsten Moment reichte er Fearnley eine Kassette mit einer Auswahl von Songs, die zu Pogues-Hymnen werden sollten.Shane MacGowan im Duett mit Sinéad O’ConnorIn den folgenden Jahren schrieb MacGowan einen großartigen Song nach dem anderen, bis sich sein Lebensstil auf seine Kreativität auszuwirken begann. Dem Vernehmen nach ergänzte er seinen enormen Alkoholkonsum durch ebenso große Mengen LSD und härtere Drogen. Auf den letzten beiden Alben, die er mit den Pogues aufnahm, gibt es noch fantastische Stücke aus MacGowans Feder – White City auf Peace and Love (1989) und Summer in Siam auf Hell’s Ditch (1990) – aber es ist schwer zu überhören, dass die Highlights auf dem ersten Album von seinen Bandkollegen stammen und MacGowans Gesang auf dem zweiten ein weitgehend unverständlicher Brei ist: Produzent Joe Strummer musste ihn Silbe für Silbe zusammenschneiden, sodass man sich fragt, wie er ursprünglich geklungen hat. Die Pogues feuerten MacGowan dann auf Tour.Er schien sich lange genug zusammenzureißen für ein weiteres fantastisches Album mit seiner neuen Band The Popes, auf dem er im Duett mit Sinéad O’Connor den Eindruck erweckte, er könne Stadion-Rockhymnen schreiben, wenn er nur wollte. Doch mit dem Nachfolgealbum The Crock of Gold, auf dem MacGowan erschöpft klang, war auch das dann vorbei. Fortan schwankte MacGowan zwischen lukrativen Reunion-Tourneen mit den Pogues, sporadischen Solo-Live-Auftritten und Gastauftritten, gelegentlich mit Bands, die die Musik der Pogues irgendwo in ihrer DNA hatten: Der amerikanischen „Celtic Punk“-Band Dropkick Murphys oder dem irischen „Folk Metal“-Quintett Cruachan. Noch sporadischer drohte er damit, ein neues Album aufzunehmen, das jedoch nie zustande kam.Er gab auch gelegentlich Interviews, allesamt mürrisch oder cholerisch – Julien Temples Dokumentarfilm Crock of Gold: A Few Rounds with Shane MacGowan von 2020 vermittelte einer breiten Öffentlichkeit einen Eindruck davon, wie mürrisch und cholerisch er sein konnte. Keines dieser Gespräche war erhellend, was den Prozess oder die Inspiration hinter dem unglaublichen Ausbruch an Kreativität betraf, den er Mitte der 80er-Jahre erlebte.Hinter dem cartoonhaften, populären Image verbarg sich etwas Unbekanntes – und genau so wollte Shane MacGowan es ganz offensichtlich. Schließlich war das Geschäft der Pogues schon immer die Mythologie: vom Image des Anzugträgers – halb Brendan Behan, halb irischer Opa, so MacGowan – über die irischen Legenden, die seine Texte in die Hinterhöfe und Pubs von Nord-London verlegten, bis hin zur hartnäckigen Rock’n’Roll-Fabel vom verdammten, schönen Verlierer. Es war nur logisch, dass ihr Frontmann selbst zu einer mythischen Figur wurde.Eingebetteter Medieninhalt
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