Im August gaben Pakistans drei Zensurbehörden den preisgekrönten Film Joyland von Saim Sadiq zur Veröffentlichung frei. Der in Lahore gedrehte Streifen handelt von einem jungen verheirateten Mann aus einer konservativen Familie, der Arbeit in einem Tanztheater findet und sich in eine Transfrau verliebt, die um ihre Chance auf der Bühne kämpft. Joyland war der erste pakistanische Film, der in Cannes gezeigt wurde. Er erhielt den Un Certain Regard-Preis und fast zehn Minuten langen Premierenapplaus. In Pakistan dagegen wurde dem Film vorgeworfen, eine LGTBQ+-Agenda zu verfolgen und die pakistanische Kultur falsch darzustellen. Daher wurde er mehrfach zensiert. Erst im November kam er in die pakistanischen Kinos. Malala Yousafzai zeichnete sich als leitende Produzenti
Superhelden, Jazz, queere Kunst: Wie Pakistans Popkultur die Welt erobert
Gender Ob Film, Musik, Malerei oder TV: Vom Schatten des 11. September befreit, können Pakistans zeitgenössische Künstler:innen auf ein reiches Erbe aufbauen. Mit großem internationalem Erfolg
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Fatima Bhutto
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The Guardian

Das pakistanische Kino feiert internationale Erfolge
Foto: Imago / Everett Collection
e sich als leitende Produzentin verantwortlich.Eingebetteter MedieninhaltWas auch immer in Pakistan passiert (die Zensurbehörde im Punjab hat noch einmal umgeschwenkt und den Film wieder verboten), die nächste Reise des Films geht Richtung Oscars, als Pakistans Wettbewerbsbeitrag in der Kategorie bester ausländischer Film. Pakistanis haben ihr Erbe schon immer als kulturell reich und grenzüberschreitend begriffen: von der Romantik der Urdu-Sprache, die von Dichtern und an den Königshöfen gesprochen wurde, über verschiedene Qawwali-Sänger:innen wie Nusrat Fateh Ali Khan and Abida Parveen bis hin zu Fernsehfilmen und Literatur.Künstler wie Iqbal Bano sangen Lieder gegen Diktatoren. TV-Sendungen im staatlichen Fernsehen enthielten so raffinierte Satire über Militärjuntas, dass nicht einmal Armeezensoren die Macher:innen festnageln konnten. 1969 strahlte das pakistanische Staatsfernsehen Khuda Ki Basti (deutsch: Siedlung Gottes) aus, eine Serie, die in einem Slum von Karatschi in den bewegten Tagen nach der Unabhängigkeit spielt und auf einem Urdu-Roman-Klassiker basiert. Um sicherzustellen, dass das Drama dem Roman treu blieb, berief das pakistanische Staatsfernsehen ein Gremium von Intellektuellen ein, das die Drehbücher überwachte, darunter Faiz Ahmed Faiz, einen der beliebtesten Dichter des Landes. Heute erhalten pakistanische Künstler internationale Aufmerksamkeit, indem sie dieses Erbe fortsetzen und sich mit sich selbst und ihrer Gesellschaft auseinandersetzen, wobei sie Religion, Sexualität und Klassenhierarchien hinterfragen.Pakistans Kino-Renaissance„Die Leute sagen, ,Oh, sie erzählen die Geschichten von armen Leuten und Underdogs‘“, erklärt Sarmad Khoosat, „aber ich glaube, dort liegt eben die Wahrheit.” Khoosat produzierte Joyland und seine Produktionsfirma Khoosat ist die Lokomotive von Pakistans Kino-Renaissance. Khosaat sorgte für Furore, als sein Film Zindagi Tamasha 2021 zensiert wurde. Neben den von ihm produzierten Filmen spielte The Legend of Maula Jatt, das Remake eines Films aus dem Jahr 1979, rund zehn Millionen Euro an den Kinokassen ein. Der Kurzfilm Sandstorm der in London lebenden Filmemacherin Seemab Gul, die ursprünglich aus Karatschi stammt, wurde bei den Filmfestspielen in Venedig für den besten Kurzfilm nominiert und sorgte für einigen Oscar-Rummel. In Pakistan spielt auch Jemima Khans Debüt als Drehbuchautorin What’s Love Got to Do With It? mit Emma Thompson, der in Großbritannien im Februar in die Kinos kommt.Placeholder image-2Leute, die meinen, Joylands heikles Thema ziele auf ein ausländisches Publikum, verstehen Pakistan laut Khoosat nicht. „Sie realisieren nicht, dass Religion und Trans-Personen und sozioökonomische Spaltung unsere Realitäten hier sind. Es sind unsere Geschichten.“ Die Vorwürfe gegen seinen Film will Sadiq nicht stehen lassen: „Ich halte es für eins der empathischsten Porträts der Menschen in Pakistan, die je auf der Leinwand zu sehen waren“, erklärt er. „Es ist tatsächlich ein sehr empathisches Porträt konservativer Pakistanis.“ Und die angebliche Förderung einer gefährlichen LGBTQ+-Agenda, so Sadiq weiter, ist „offen gesagt Blödsinn“. Die als „Khwaja sira“ bezeichneten Trans-Personen hatten am Hof der Moguln einflussreiche Positionen inne und galten nicht nur als treue Wächter und Beschützer, sondern erhielten auch zeremonielle Bedeutung. In Cannes erlebten der Regisseur und seine Produzenten einen surrealen Moment: Ein voller Filmsaal mit über tausend Zuschauer:innen jubelte und klatschte, als Alina Khan, die Biba spielt, endlich die Bühne für ihre große Gesangs- und Tanznummer betritt. Beim Abspann des Films musste Sadiq weinen und drehte sich zu Khoosat um, dem ebenfalls die Tränen herunterliefen. Es weinten der Schnittverantwortliche, die Schauspieler:innen, die Crew, das Publikum.Kunst versus KommerzPakistan hatte nie das Geld oder die Ausrüstung, um in einem Ausmaß Kunst zu produzieren wie das Nachbarland Indien und Bollywood. Vielleicht ist dies der Grund, warum es so lange dauerte, bis die Welt auf Pakistans Kultur aufmerksam wurde. Der Unterschied ist: Kunst und Kommerz. Obwohl kommerziell nicht in der Lage, mit Bollywood zu konkurrieren, sind Filme, Fernsehproduktionen und Musik aus Pakistan wohl anspruchsvoller und gewagter. Während die Bollywood-Filme früherer Jahrzehnte Ungerechtigkeit, Feudalismus und politische Unterdrückung thematisierten, ist die Branche heute kaum mehr als ein Sprachrohr für Indiens nahezu faschistische rechtsgerichtete Regierung, die besessen davon ist, das Image ihres Premierministers Narendra Modi aufzupolieren. Jüngste Filme wie Swachh Bharat oder Clean Up India (deutsch: Indien sauber machen) waren kaum mehr als Lobeshymnen der Regierung. Wenn sie keine Modi-Initiativen mehr haben, um die sie die Filme herumbauen können, richten die Bollywood-Produzenten den Blick auf Militäroperationen, bei denen Action-Helden mit eingeölten, gewellten Eight-Packs basierend auf modernen oder revisionistischen historische Figuren auf dem Schlachtfeld Muslime töten.Da sie keine paranoiden Regierungen zufriedenstellen, keine Kinokassen-Ergebnisse steigern oder einem Publikum von einer Milliarde Menschen gefallen mussten, konnten pakistanische Künstler:innen bei ihrer Arbeit mehr Risiken eingehen. Das Land hat sich erst relativ kürzlich hin zum Konservatismus entwickelt. Es ist die Folge der vom CIA unterstützten fundamentalistischen Diktatur von Muhammad Zia-ul-Haq, die das Land zwischen 1977 und 1989 zerstörte. Aber selbst damals, in den dunkelsten Tagen der Militärherrschaft blühte die Kunst trotz und im Widerstand gegen die Junta.Am 75. Jahrestag der Unabhängigkeit im August dieses Jahres wies Modi die indische Bevölkerung an, an ihren Häusern die indische Trikolore-Fahne zu hissen. In den sozialen Medien waren viele berühmte Inder, darunter auch der bekannte Schauspieler und Filmproduzent Shah Rukh Khan, zu sehen, die vor der Flagge posierten und sagten, wie schön es sei, in der größten Demokratie der Welt zu leben.Es ist schwer vorstellbar, dass Pakistanis, die während eines Großteils ihrer Geschichte unter autoritären Regimen lebten, solchen Vorgaben höflich und enthusiastisch nachkommen würden. Schließlich veröffentlichte der für den Booker-Preis nominierte Autor Mohammed Hanif unter Präsident Pervez Musharaffs Diktatur sein Romandebüt Eine Kiste explodierender Mangos, in dem das Flugzeug eines anderen pakistanischen Diktators in die Luft gesprengt wird. Pakistan hörte niemals auf, Kultur zu produzieren – nicht während der vier Staatstreiche und auch nicht während innerer und externer Konflikte . Aber erst heute findet eine Welle progressiver und provokativer Arbeiten weit über die Grenzen des Landes hinaus Anerkennung.Musik und visuelle KunstGute Nachrichten sind derzeit in Pakistan willkommener denn je. Das Land wurde dieses Jahr von einer extremen Flut zerstört, die 50 Millionen Menschen vertrieb, die Ernte kaputt machte und eine Gesundheits- und Hungerkrise hervorvorrief, deren Ende nicht abzusehen ist. „Wir hatten wirklich harte Zeiten nach dem 11. September“, erklärt die in Brooklyn lebende Sängerin und Musikproduzentin Arooj Aftab. Sie ist die erste Grammy-Gewinnerin aus Pakistan und gewann 2022 in der Kategorie der besten Weltmusik-Performance. Aftabs Album Vulture Prince entwickelt Ghazal weiter. Es sind melancholische Lieder und Liebesgedichte aus der arabischen und persischen literarischen Tradition. „Pakistan leidet unter einer Menge Islamfeindlichkeit und schlechtem Marketing, es sind die Assoziationen mit Terrorismus und Chaos durch die Nähe zu Afghanistan. Dagegen ist das Narrativ zu vielen anderen südasiatischen Ländern: ,Oh mein Gott! Schönheit! Exotische Landschaften! Yoga!‘ Und der Westen liebt diesen Quatsch.“Placeholder image-1Ob nun erschöpft von orientalistischen Bildern über Südasien, Tragödienpornos oder dem Rassismus der Trump-Jahre, der Westen scheint sich heute mit großer Geschwindigkeit der Kultur zu öffnen. Pasoori, Ali Sethis und Shae Gils Song-Hit über eine komplizierte Liebe, die von der Trennung Indiens und Pakistans handelt, ist der erste pakistanische Song, der die Charts von Spotify anführte. Er war der am häufigsten gegoogelte Song des Jahres 2022 und ließ dabei globale Giganten wie die südkoreanische Boygroup BTS hinter sich. Der Titel des in Punjabi geschriebenen Songs bedeutet „Schwierigkeit“ und hatte mehr als 440 Millionen Views auf YouTube. Es ist das erfolgreichste Lied aus Pakistans berühmtem Musik-Inkubator Coke Studios, der seit 2008 mit großem Erfolg zeitgenössische Sänger:innen mit traditionellen Musiker:innen zusammenbringt.Die Londoner Online-Radiostation Boiler Room sendete im Sommer ein Pakistan-Special, in dem sie per Stream Sänger:innen, DJs und sogar traditionelle belutschiche Musiker:innen vorstellte. „Es ging komplett durch die Decke“, sagte Natasha Noorani, eine der von Boiler Room präsentierten Künstler:innen. Und diese Erschütterung hallt nach, weil pakistanische Musiker:innen „ihre Identität auf eine Art und Weise ausloten, die nicht weißgewaschen ist oder sich an eine globale Ausrichtung anpasst, bei der einem gesagt wird, man müsse auf Englisch singen oder Fusion anstreben oder sich englisch kleiden“.Bevor etwas global Erfolg haben kann, muss es zuhause einen Nerv treffen, meint Noorani. Während der Corona-Wellen schufen Musiker:innen im Lockdown zuhause in ihren Schlafzimmern auf Handys und Laptops Musik-Alben. In den vergangenen Monaten wurden die zeitgenössischen pakistanischen Künstler:innen Shahzia Sikander und Salman Toor begeistert im US-amerikanischen Magazin The New Yorker vorgestellt; Toors Four Friends (deutsch: Vier Freunde) wurde kürzlich bei einer Sotheby’s-Auktion für 1,2 Millionen US-Dollar (1,1 Millionen Euro) gekauft. Seine Gemälde werden für ihre Darstellung queerer Intimität und die Neuinterpretation klassischer Meisterwerke von Caravaggio bis Édouard Manet gefeiert. „Meine spontane Reaktion war, dass dieser Künstler alles malen könnte und ich es ihm glauben würde“, schrieb Kunstkritiker Calvin Tomkins im New Yorker.Placeholder image-3TV-Produktionen feiern die DiasporaDerweil erleben Fernsehproduktionen der pakistanischen Diaspora einen Triumphmoment. Serien von Filmschaffenden pakistanischen Ursprung wie Bilal Baig sind radikal und erfrischend kompliziert. Der US-amerikanische Video-on-Demand-Dienstleister HBO Max zeigt Sort Of. Erzählt wird die Geschichte von Sabi Mehboob, einem/r genderfluiden Kanadier:in mit pakistanischen Wurzeln, der/die als Kinderbetreuer:in für eine Familie arbeiten, die in der Krise steckt, während Sabi, damit kämpft, das eigene zerbröckelnde Leben zusammenzuhalten. Die Fernsehproduktion ist ironisch und geistreich. Alle Standard-Bilder von südasiatischen Familien werden unterlaufen. Sabis Schwester Aqsa beschützt Sabi, während Sabi versucht, das eigene chaotische Liebesleben auf die Reihe zu kriegen. Derweil hat die Mutter mehr Probleme damit, Sabis Berufswahl zu verstehen – „wie Mary Poppins? Du sagst mir, du bist eine Bedienstete?“ –, als Sabis schwankende Genderzugehörigkeit.Klasse und Hierarchie waren in der Vorstellungswelt des Subkontinents schon immer ein größeres Problem als Geschlecht. Vor der prüden Intervention der Briten, die das indische Leben in enge Kästchen ordneten und organisierten, war der südasiatische Umgang mit Sexualität fließend, ein Erbe, das Sort of, Joyland und sogar Khoosats Zindagi Tamasha aufgegriffen haben. Obwohl Sort Of um eine zweite Staffel verlängert wurde, ist Ms. Marvel, die erste muslimische Superheldin aus der pakistanischen Diaspora im Marvel-Universum (MCU), vielleicht noch bekannter.Die Serie Ms Marvel handelt von Kamala Khan, deren Eltern, ehemals aus Karachi und jetzt aus New Jersey, keine Karikaturen von Einwanderereltern sind. Sie sind witzig und charmant, dabei peinlich, wie es alle Eltern sind, während ihre jugendliche Tochter die Demütigungen von Teenagern überall auf der Welt erleidet. Das Autor:innenteam kennt die Regeln und Codes des pakistanischen Lebens nur zu gut und hat sie perfekt in dieses Disney-Märchen einfließen lassen. Kamala hat einen Bruder, der ständig betet (jede pakistanische Familie hat einen Fundamentalisten zuhause), ihr Vater zitiert beim Abendessen Gedichte und ihrer Hijab tragenden besten Freundin Nakia werden vor der Moschee die Schuhe gestohlen – ein zeitloser Initiationsritus für alle Muslim:innen, die die Moschee besuchen.Muslimin als SuperheldinZum Team hinter Ms. Marvel gehören einige von Pakistans besten Kreativen: von den Regisseuren, darunter der zweimalige Oscar-Gewinner Sharmeen Obaid-Chinoy, über die Musik von Coke Studios bis zu den Schauspieler:innen, darunter die renommierte Theaterschauspielerin Nimra Buch und Herzensbrecher Fawad Khan. Ms. Marvel wurde schnell zur bestbesprochenen Serie im Marvel-Kanon. Dennoch zeigen erste Berichte, dass die Serie deutlich weniger Zuschauer:innen anzieht als andere Marvel-Blockbuster. Sie hatte weniger als die Hälfte der Zuschauer:innen als die erste Fernsehserie aus dem Marvel-Universum WandaVision in der ersten Woche.Placeholder image-4Einige Kritiker:innen vermuteten freundlicherweise, die Zahlen könnten damit zu tun haben, dass Ms. Marvel eine neue Figur ist und die Schauspieler:innen in den USA relativ unbekannt sind. Aber in einem Land, dessen politischer Diskurs in den letzten zwei Jahrzehnten ausgesprochen islamfeindlich war, könnte eine aus Pakistan stammende Muslimin als Superheldin auch zu viel für das herkömmliche Publikum sein. Wie alle, die fernsehen und aus Pakistan kommen, bejubelte ich die Serie. Aber es ließ mich doch innehalten, dass Kamalas Held Captain Marvel ist, ein ehemaliger Elite-Kampfpilot der US-Airforce, genau der Abteilung des US-Militärs, die für die MQ1 Predator- und MQ9 Reaper-Drohnen verantwortlich ist, die Afghanistan und Pakistan seit dem 11. September terrorisieren.Heute bereisen pakistanische Künstler:innen die ganze Welt. Vorbei sind die dunklen Jahre der Rechtfertigung und Reue. „Wir sind es wirklich leid, so etwas zu hören wie: ,Können Sie bitte eine sehr traurige Dokumentation über Pakistan schreiben?‘“, erklärte Aftab. „Ich reagiere dann mit: auf gar keinen Fall. Ich mache das nicht. Weiße Leute lieben es, schwarze oder braune Tragödien zu sehen und davon gerührt zu werden. Sie können uns einfach nicht glücklich sehen, und das ist wirklich abgrundtief und abgefuckt. Es ist nicht interessant für sie, uns Freude erleben zu sehen. Als jemand, der Kunst macht, Musik, ist es meine Verantwortung zu sagen: ,Das kriegt ihr von mir nicht. Ich gebe euch etwas anderes, wirklich Schönes, das Jazz ist. Ich werde etwas machen, das unbestreitbar schön ist und euch bewegen wird, und ich werde mich dafür einsetzen, weil ihr so nervig seid.‘“
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