Kritik und nochmals Kritik

Literatur Essay zum Tode von Marcel Reich-Ranicki und dem Vergleich zwischen ihm und dem anderen großen Kritiker Alfred Kerr.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wie in vielen Dingen, so gibt es auch in der Literaturkritik jeweils ganz, ganz große Persönlichkeiten. Zwei Männer waren es aber, die die deutsche Literaturkritik im 20. Jahrhundert stark prägten: In der ersten Hälfte- von ca. 1900 bis ca. 1945- war dies Aufgabe von Alfred Kerr (1867 bis 1948), vor allem als Theaterkritiker, aber bisweilen auch als Literaturkritiker war er die gefürchteste Feder der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Ohne Internet, Fernsehen, Radio, musste Kerr auf seine Kraft als Autor hoffen und konnte diese vor allem nur in Zeitungen und einigen Büchern anwenden. Nach dem Krieg hatte es sein Nachfolger Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) da wesentlich leichter: er konnte das neue Medium Fernsehen nutzen, um mit seinem Literarischen Quartett einem Massenpublikum gute oder schlechte Literatur nahezubringen. Kerr konnte das nicht und doch, die Nazis hassten ihn ebenso wie Reich-Ranicki und das war wohl auch das, was beide bis heute eint: die Verfolgungen durch das Dritte Reich. Kerrs Bücher wurden von den Nazis mit Genuss ins Feuer geworfen, mit dem Ausruf "Gegen Verhunzung der deutschen Sprache, für das kostbarste Gut unseres Volkes- ich übergebe dem Feuer die Schriften von Alfred Kerr" brannten auch Kerrs Bücher lichterloh. Kerr musste fliehen und verbrachte seither den Rest des Lebens im Exil u.a. nach Tschechien, später in London.

Reich-Ranicki und Kerr in einer Sendung, dass wäre was gewesen
Auch Reich-Ranicki wurde verfolgt, nicht weil er, wie Kerr, ein radikaler Demokrat war, sondern weil er Jude war. Er kämpfte im berühmten Warschauer Ghetto und ihm gelang mit seiner Frau die Flucht vor den Nazis. Der unglückselige Kerr beging 1948 Selbstmord und ist seither fast vergessen, denn der neue Star am Himmel hieß Marcel Reich-Ranicki. Über die FAZ kam er zum Fernsehen und wurde gerne- so von Hape Kerkeling- parodiert, da seine eigentümliche Art zu sprechen und die Art, wie er über Autoren und Bücher sprach, in dieser Form einzigartig waren. Ja, man könnte meinen, Reich-Ranicki war so etwas wie eine Art Popstar der Literatur. Viele junge Menschen kannten ihn, viele auch, die in ihrem Leben niemals ein Buch gelesen hatten, geschweige- (außer der mit den vier Buchstaben) eine ordentliche Zeitung. Reich-Ranicki war auch Gesellschaftskritiker und einer der schärfsten, den dieses Land je gesehen hat. Er nahm kein Blatt vor den Mund und man konnte noch vor ein paar Jahren sehen, dass sich Reich-Ranicki nicht der Massenkultur anbiederte. Reich-Ranicki war hart, sehr hart. Unvergessen der Roman von Martin Walser "Tod eines Kritikers" der darin seinen Hass auf Marcel Reich-Ranicki freien Lauf gelassen hat. Viele Autoren, ganze Verlage waren von seinen Gnaden abhängig. Er konnte mit einem Federstrich- wenn das wollte- Menschen zerstören. Und tat es doch nicht. Schade, dass es in Weimarer Zeit kein Fernsehen gegeben hat oder das Alfred Kerr heute nicht mehr lebt: die beiden in einer Literatursendung, zwei Stunden lang auf Arte oder 3 Sat diskutierend, es wäre einer der Höhepunkte im schlechten deutschen Fernsehen der letzten Jahre gewesen. Was hätte der Radikaldemokrat Kerr zu unserer heutigen Welt gesagt? Was zu Abhörmechanismen, fehlendem Mindestlohn, Umweltveschmutzung, öbszöner Armut, Verfall an allen Ecken? Sicher hätte er wieder nach seiner Feder gegriffen und in der Frankfurter Zeitung einen spöttischen Artikel geschrieben oder ein literarisches Werk kritisiert, dass sich mit den oben genannten Thematiken auseinandersetzt. Und Reich-Ranicki hätte bei einer guten Flasche Bordeaux sicher geantwortet: "Lieber Herr Kollege Kerr, mit diesem Buch werden Sie nicht glücklich werden!" Auf Wiedersehen, Herr Reich-Ranicki. Die Literaturkritik ist nicht verstummt, ihre wichtigste Stimme aber schon.
18.09.2013
Anmerkung: Auf meiner Facebook-Seite hatte ich das Essay auch veröffentlicht, es kam dort gut an.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden