Vielleicht ist Deborah Feldman nach Anne Frank die bekannteste Jüdin weltweit. Die 1986 in New York geborene Autorin lebte als Kind bei ihren Großeltern in der streng religiösen Satmarer-Gemeinde im New Yorker Stadtteil Williamsburg, besuchte eine religiöse Schule und wurde mit 17 Jahren in eine arrangierte Ehe gezwungen. In ihrem Weltbestseller Unorthodox beschrieb sie ihr Aufwachsen in der ultraorthodoxen Gemeinschaft, die Qualen ihrer Ehe und ihren wachsenden Hunger nach Freiheit und Leben inmitten einer frauen- und kulturfeindlichen Umgebung. Heimlich begann sie ein Studium, knüpfte Kontakte zu Nicht-Juden und floh im Alter von 23 Jahren mit ihrem dreijährigen Sohn aus dieser religiösen Parallelwelt.
Ihre autobiografische Geschichte verkaufte sich mill
Sohn aus dieser religiösen Parallelwelt.Ihre autobiografische Geschichte verkaufte sich millionenfach, in den USA war das Buch zwischenzeitlich sogar vergriffen. Maria Schrader verfilmte den Roman als vierteilige Miniserie für Netflix (2020). Die Flucht aus Williamsburg führte Feldman nach Berlin, wo sie seit 2014 mit ihrem Sohn lebt. Ihren jahrelangen Kampf um eine freie, selbstbestimmte Existenz sowie ihre jüdische Identität abseits der Orthodoxie hielt sie in dem Memoir Überbitten fest.Wer darf Jude sein?Wenn eine öffentliche Jüdin wie Feldman nun ein Buch mit einem Titel wie Judenfetisch schreibt, wirft das Fragen auf. Der Begriff sei zwar gemein, räumt sie ein, in ihren Bekanntenkreisen aber gängig. Er beschreibe das gestörte Verhältnis der Deutschen zum Judentum, das keine Neutralität zulasse. „Damit zu spielen und davon zu profitieren, haben viele Juden wie Nicht-Juden gelernt, und das Ergebnis ist ein permanent aufgeführtes Varieté, das mit dem echten jüdischen Leben in diesem Land nichts zu tun hat und dennoch als spöttisches Zerrbild dessen dient.“Es ist unmöglich, bei solchen Zeilen nicht an die Affäre um Fabian Wolff zu denken. Der Journalist hatte sich jahrelang als Jude ausgegeben und unter Rückgriff auf seine vermeintliche jüdische Identität Israel deutlich kritisiert. Vor wenigen Wochen räumte der „Beste aller Juden“ (FAZ) und „Vorzeige-Jude der Linken“ (NZZ) ein, dass er gar keine jüdischen Wurzeln habe, was recht bittere und zum Teil hämische Reaktionen auslöste. Feldmans Buch bietet hier eine wichtige Erweiterung des Debattenhorizonts, weil sie die Empörung links liegen lässt und auf ein viel grundsätzlicheres Problem im Streit um jüdische Identitäten hinweist.Die Frage, wer sich mit welchem Recht als jüdisch bezeichnen darf, wird in Deutschland schon länger diskutiert. So musste sich der Berliner Autor Max Czollek von Mirna Funk und Maxim Biller vorwerfen lassen, nach reiner Lehre kein echter Jude zu sein, da sein jüdischer Großvater nicht ausreiche, um eine jüdische Identität zu reklamieren. An Universitäten, in Gemeinden und in der Community tobt der Streit um die Stellung und Bedeutung von Konvertiten. Feldman hat diese Debatten immer wieder erlebt und zeigt sich in ihrem Buch gelinde gesagt erstaunt darüber, wie sich öffentliche Juden „jeweils vorwerfen, der andere würde gar kein echter Jude sein“. Derlei identitäre Grabenkämpfe seien Ausdruck einer Obsession, die mit dem Judentum und Israel zusammenhänge.„Die Säkulären könnten in Israel bald schon zur kaum geduldeten Minderheit werden“Feldman will deren Hintergründe erhellen und die fatalen Folgen dieses „Judenfetischs“ im deutschen Verhältnis zu Israel aufzeigen. Dafür berichtet sie von innerjüdischen Auseinandersetzungen auf Berliner Balkonen, spricht über die undankbare Rolle öffentlicher jüdischer Personen, denkt über die deutsch-israelische Erinnerungspolitik nach, wie auch Max Czollek, zeigt die jüdischen Realitäten in Israel auf und spricht über die hiesige Unfähigkeit, sich kritisch zu diesen zu äußern. Die hiesigen Debatten führten an der jüdischen Wirklichkeit vorbei, so Feldman. Vom lebenden Judentum hätten deutsche Juden, deren jüdischer Hintergrund oft nur fragmentiert oder partiell vorhanden sei, meist keine Ahnung. Stattdessen seien sie in kulturhistorischen Fragen bewandert, dozierten über Antisemitismus und stünden in blinder Loyalität zu Israel. „Dieses Israel ist kein Land als Fläche oder Gesellschaft, es ist Israel als Fata Morgana: es darf nicht näher betrachtet werden.“ Israel würde immer mit Bezug zur deutschen Verantwortung für den Holocaust betrachtet, unbequeme Wahrheiten würden ausgeblendet. „Ich frage mich, wie sehr sich jemand an die Vergangenheit klammern muss, um damit die Gegenwart so wirksam ausblenden zu können.“Und diese Gegenwart ist mit Blick auf die politische Wirklichkeit in Israel fatal. Dort besetzen religiöse Hardliner längst die entscheidenden Machtpositionen. Die Gewalt, die von rechten Siedlern und Ultraorthodoxen ausgehe, sei nur eine politische Strategie, so Feldman. Die Religiösen lenkten vom Kurs ab, „die demographischen Verhältnisse in der israelischen Bevölkerung so zu verschieben, dass die Säkularen schon bald zur kaum geduldeten Minderheit werden“.Wie die seit Monaten anhaltenden Proteste gegen die Justizreform zeigen, ist die Befürchtung, dass die einzige Demokratie im Nahen Osten zur Theokratie wird, kein Hirngespinst. Aktuell geht es um die Unabhängigkeit der Justiz. Ist diese erst einmal ausgehebelt, könnten bald schon Grund- und Minderheitenrechte den religiösen Gesetzen geopfert werden. Bis die reine Lehre das Maß aller Dinge ist.„Was wird es bedeuten, kulturell jüdisch zu sein, wenn das Judentum im Licht des radikalen Fundamentalismus stehen und keine anderen Assoziationen mehr erlauben wird? Wie wird man sich im Judentum finden können, wenn man dafür auf seine liberalen Werte wird vollständig verzichten müssen?“ Antworten auf diese unbequemen Fragen hat Deborah Feldman nicht. Aber sie hat die Chuzpe, ihre Dringlichkeit mit aller Konsequenz vor Augen zu führen. Die aufgescheuchte Debatte über jüdische Identitäten und Deutschlands Verhältnis zu Israel können davon nur profitieren.