Meister des Un(ter)bewussten: Zum 75. Geburtstag von Haruki Murakami
Alterswerk Haruki Murakami hat einen neuen Roman geschrieben. Sollte sein Frauenbild tatsächlich der Grund sein, warum er beim Nobelkomitee stets durchfällt? Sicher ist, „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ ist eine leuchtende Liebesgeschichte
Licht, das keine Schatten erzeuge, sei kein richtiges Licht, meint Haruki Murakami
Foto: Max Slobodda
„Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt“, hat Jorge Luis Borges einmal gesagt. Folgerichtig spielen Bucharchive in seinem Werk eine zentrale Rolle. Es ist nicht übermittelt, ob der 1986 in Genf verstorbene Argentinier in seinen letzten Lebensjahren Notiz von einem jungen japanischen Autor namens Haruki Murakami genommen hat. Wenn doch, wäre es interessant zu erfahren, ob der Meister der Fantastik damals eine Ahnung hatte, dass sich eben jener Murakami im fernen Japan aufmacht, seine Nachfolge anzutreten.
Pünktlich zu Murakamis 75. Geburtstag erscheint nun ein neuer Roman in deutscher Übersetzung. Die Stadt und ihre ungewisse Mauer führt in drei Teilen in eine geheimnisvolle Bibliothek, in der nicht das Wissen der Welt, sonder
en der Welt, sondern menschliche Träume aufbewahrt werden. Um diese zu interpretieren, braucht es einen Traumleser, der sich voll und ganz in den Dienst dieses seltsamen Archivs stellt.Eine weltweite FangemeindeDer erste Teil des Romans basiert auf einer Kurzgeschichte, die 1980 in einer japanischen Literaturzeitschrift erschien. „Aus verschiedenen Gründen hatte ich das Gefühl, sie vorzeitig in die Welt gesetzt zu haben“, räumt der Bestsellerautor im Nachwort ein. 40 Jahre später hat er den Text zu einem beeindruckenden Alterswerk ausgebaut, in dem er alles zum Leuchten bringt, was seine Literatur ausmacht.Haruki Murakami debütierte 1979 im Alter von 30 Jahren mit der preisgekrönten Geschichte Wenn der Wind singt. Zahlreiche Romane folgten, darunter Wilde Schafsjagd, Hard-boiled Wonderland, Naokos Lächeln, Die Chroniken des Aufziehvogels oder Kafka am Strand, die den ehemaligen Jazz-Bar-Betreiber zum national wie international erfolgreichsten Autor seines Landes machten. Mit einem Mix aus japanischer Tradition und westlicher Moderne, Musik und Literatur, magischem Realismus und existenzieller Philosophie hat er sich eine weltweite Fangemeinde geschaffen. Filmemacher haben einige seiner Texte mit großem Erfolg für die Leinwand adaptiert. Lee Chang-dongs Burning gewann 2018 in Cannes den Kritikerpreis, Ryusuke Hamaguchis Verfilmung von Drive My Car erhielt im vergangenen Jahr den Oscar als bester internationaler Film.Schreibend beweist sich Murakami seit Jahrzehnten als Meister des Unbewussten, sprachlich seziert er die menschliche Psyche. In Romanen wie Tanz mit dem Schafsmann oder Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki legt er die Ängste und Begierden seiner Figuren frei, in der spekulativen Dystopie IQ84 oder dem Künstlerroman Die Ermordung des Commendatore konfrontiert er sie mit der Rätselhaftigkeit der Welt. Einsamkeit, Verlust und Isolation spielen in seinen gleichermaßen surrealen wie universellen Geschichten eine ebenso zentrale Rolle wie die labyrinthische Struktur, der man sich schwer entziehen kann.Murakamis jüngster Roman setzt mit einem Spaziergang zweier Teenager ein, die sich über „die Stadt“ und ihre Beschaffenheit unterhalten. „Schulter an Schulter sitzen wir im schwindenden Licht des Sommerabends und blicken auf die Stadt“, schildert der namenlose Ich-Erzähler. Schon hier weiß man nicht, ob da von einer echten Stadt oder einem Wolkenkuckucksheim die Rede ist. Das wird nicht besser, als die jüngere Geliebte dem Erzähler eröffnet, dass ihr „wahres Ich“ in dieser Stadt leben würde, während das Wesen an seiner Seite nur ein „wandernder Schatten“ sei.Murakami erzählt hier eine Liebesgeschichte, wie sie nur große Autoren schreiben können. Frei von Kitsch zeichnet er einen Sehnsuchtsort, an dem Liebende nicht sie selbst bleiben, sondern andere werden. „Derjenige, der aus dem Sandsturm kommt, ist nicht mehr derjenige, der durch ihn durchgegangen ist“, heißt es in Kafka am Strand.In der wirklichen Welt haben sich der Erzähler und seine Freundin bei einem Schreibwettbewerb kennengelernt, seither stehen sie in Briefkontakt. Als Antworten auf seine Briefe ausbleiben, macht sich der Erzähler auf die Suche. Seine Reise führt ihn vor die Mauern der Stadt, in deren Bibliothek eine Stelle als Traumleser auf ihn wartet. Um in die Stadt zu gelangen, muss er sich von seinem Schatten lossagen.Mauern und Schatten sind wiederkehrende Motive in Murakamis Welten. Während die „ungewissen Mauern“ die (durchlässigen) Grenzen zwischen unterschiedlichen Daseinsebenen markieren, symbolisieren Schatten die dunkle Seite der Seele. Das Neben- und Ineinander von echter Welt und fiktiver Stadt betont die Gleichzeitigkeit von Körper und Seele, Außen und Innen, Bewusstem und Unbewusstem. „Licht, das keine Schatten erzeugt, ist kein richtiges Licht“, erklärte Murakami, als er 2016 den dänischen Hans-Christian-Andersen-Literaturpreis erhielt. Die zweigeteilte Existenz greift der 75-Jährige nicht nur strukturell in der Doppelhelix vieler seiner Romane auf, er spielt auch erzählerisch damit. Zum Beispiel, wenn in Kafka am Strand ein Mann im Frauenkörper erklärt, dass neben der Welt, in der wir leben, stets eine andere existiert, „die wir bis zu einem gewissen Punkt betreten, und aus der wir dennoch wieder heil zurückgelangen können. Doch wenn eine gewisse Grenze überschritten ist, gibt es kein Zurück mehr“. Vor der Herausforderung einer unbeschadeten Rückkehr steht auch der namenlose Ich-Erzähler im vorliegenden Roman.Im zweiten Teil des Romans verlässt der Ich-Erzähler das echte Tokio, um in einem Örtchen in den Bergen die Stadtbücherei zu leiten. Aber auch diese Bibliothek birgt Geheimnisse. Vor eines der größten Rätsel stellt ihn der bisherige Leiter, ein Mann ohne Schatten, wie die Bewohner der mysteriösen Stadt. Ein anderes rankt sich um einen Jungen, der jeden Tag in die Bücherei kommt, um sich in die Fiktionen von Kafka oder Marquez zu flüchten. Zugleich entwickelt der Erzähler zärtliche Gefühle für die Inhaberin des lokalen Coffeeshops.Murakamis Kritiker monieren, dass er Frauen oft nur als kriselnde Sidekicks der männlichen Protagonisten zeichnet oder auf die Rolle eines sexuellen Objekts reduziert. Das Literarische Quartett hatte sich deshalb über seinen Roman Gefährliche Geliebte heillos zerstritten. Manche meinen, dies sei der Grund, warum der japanische Star-Autor seit Jahren beim Nobelkomitee durchfällt. Wenn dem so ist, wird auch der neue Roman nicht zur Auszeichnung führen. Die Frauen darin tragen Züge von Trauma und Depression, ihre Geschichten verebben lautlos.„Wir Menschen brauchen Geheimnisse, um auf dieser Welt zu überleben“, erklärt der Erzähler. Das ist gewiss ein Grund, warum sich Murakami dem Rätselhaften verschrieben hat. In seinen Texten öffnet sich immer wieder unvermittelt der Boden, durch den seine realistisch grundierten Erzählungen auf die andere Seite der Wirklichkeit fallen. „Fakten und Wahrheit sind zwei verschiedene Dinge“, heißt es im dritten Teil, der sich wieder der Stadt und ihrer ungewissen Mauer zuwendet.Weil bei Murakami kleine sprachliche Verschiebungen ganze Welten versetzen, ist die Übersetzung von enormer Bedeutung. Dabei ist eher Zurückhaltung gefragt, um die Dinge im Vagen zu lassen. Sätze wie „Etwas verband sich mit etwas“ wirken auf den ersten Blick nichtssagend, tatsächlich legen sie den Zugang zu Murakamis Multiversen frei. Man kann deshalb die Arbeit von Ursula Gräfe gar nicht genug loben, die seit über 20 Jahren dieses vieldeutige Werk direkt aus dem Japanischen gewissenhaft ins Deutsche überträgt.Die Lösung eines Rätsels sei immer weniger interessant als das Rätsel selbst, heißt es bei Borges, weil Rätsel etwas Übernatürliches und Göttliches hätten, die Lösung aber immer nur Handwerk sei. In dem Sinne ist Murakamis quasireligiöse Literatur dem Mysterium des Lebens gewidmet. Seine Leser dürfen sich als Handwerker des Daseins an ihrer Entschlüsselung versuchen. Dass dabei die unbewussten Mauern in Köpfen und Herzen ins Wanken gebracht werden, ist so sicher wie das Amen in der Kirche.Placeholder infobox-1
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