„Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis“: Von Frauen, die sich nicht brechen lassen
Kriegsgebiet In dem Band „Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis“ versammelt Aurélie Bros Briefe ukrainischer Frauen „an die freie Welt“. Ein Buch von unbändiger Kraft, das die Leser:innen die Würde der Schreiberinnen in jeder Zeile spüren lässt
Wie erklärt man Kindern den Krieg? Woher weiß man, ob man gehen muss oder bleiben kann?
Foto: Dimitar Dilkoff/afp/Getty Images
Es dauerte nur wenige Tage, bis der Krieg in der Ukraine in Deutschland ein Gesicht bekam. Nein, ein Gesicht ist falsch, es waren viele Gesichter, in die man am Berliner Hauptbahnhof und andernorts blicken konnte. Gesichter mit müden, leeren und oft auch angsterfüllten Blicken. Die meisten dieser Gesichter waren weiblich, denn es waren meist Frauen, die mit ihren Müttern und kleinen Kindern aus der Heimat flohen, während die Männer, Väter wie Söhne, die Heimat verteidigen mussten.
Wie ist es diesen Frauen in den Wochen und Monaten nach Kriegsausbruch ergangen? Was haben sie auf ihrer Flucht erlebt? Und was denken sie über den Krieg, der kein Ende finden will? Diese und viele weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der lesenswerten Anthologie Wie ein Lich
Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis, die Briefe von ukrainischen Frauen versammelt.Zusammengestellt hat sie die Journalistin Aurélie Bros, deren Expertise eigentlich in der Geo- und Energiepolitik liegt. Seit März 2022 koordiniert sie ein Hilfsprojekt beim Handelsblatt, mit dem ukrainische Journalist:innen unterstützt werden. Dabei hat sie zahlreiche Menschen und ihre Schicksale kennengelernt. Sie beschloss, die Geschichten von geflüchteten Ukrainerinnen zu sammeln, „um die Bandbreite der schwierigen Entscheidungen, vor denen die Frauen standen, abbilden zu können“, wie sie im Vorwort schreibt. Sie bat zahlreiche Frauen, Briefe an die Nachwelt zu schreiben, in denen das Raum finden konnte, „was sich nicht so leicht in Worte fassen lässt“.Knapp 40 Briefe sind in dem Band abgedruckt, die jüngste Autorin ist zehn Jahre alt, die älteste 72. Neben Schülerinnen melden sich hier Lehrerinnen, Sanitäterinnen, Unternehmerinnen, Medienmacherinnen und Akademikerinnen aus allen Regionen des Landes zu Wort. Sie alle verbindet eine anhaltende Fassungslosigkeit über diesen Krieg, der ihr Leben von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt hat.„Noch gestern früh habe ich mir die Nägel gemacht und die Beine epiliert, ich hatte vor, mit meinem Freund Sex zu haben. Und heute ist alles weg …“, erinnert sich die heute 25-jährige Publizistin Olha Borawljowa an den Morgen des 24. Februar 2022. Sie floh mit ihren drei Kindern nach Deutschland, kehrte im Sommer letzten Jahres aber wieder nach Kiew zurück. Die 43-jährige Kunsttherapeutin Maryna Kamenska notiert: „In meinem Kopf herrscht Chaos. Man weiß nicht, was man tun soll oder wohin man fliehen soll, um das Kind zu retten. Halb sechs Uhr morgens.“Wie erklärt man Kindern den Krieg? Woher weiß man, ob man gehen muss oder bleiben kann? Was ist das Risiko wert? Wie hoch ist überhaupt das Risiko? Andere Fragen, die Autorinnen bewegen: Eltern zurücklassen oder Kinder wegschicken? Den Job kündigen oder aus der Distanz weitermachen? Wie geht es mit der Schule der Kinder oder dem eigenen Unternehmen weiter? Alltägliche und grundsätzliche Dinge gehen wild durcheinander – wohl auch, weil die unmittelbaren Eindrücke des Krieges jede alltägliche Frage zu einer grundsätzlichen machen und umgekehrt. So vermitteln diese Briefe die existenziellen Ängste im Krieg, die schmerzhaften Umstände der Flucht, das Einrichten in einem Leben, das „auf Pause steht“, und die unwiderstehliche Zuversicht, eine bessere Zukunft vor sich zu haben.Jeder Tag kann der letzte seinWie sehr das Leben der Autorinnen immer noch pausiert, lässt sich in diesen Briefen nicht erahnen. Sie alle sind im Sommer 2022 entstanden. Ob sich in einem weiteren Jahr Krieg ihre Ansichten geändert haben, ob sie kriegsmüde geworden oder weiterhin vom Sieg der ukrainischen Armee überzeugt sind, lässt sich ihnen nicht entnehmen. Herauslesen kann man jedoch, wie zerrüttet das Verhältnis zum stets kleingeschriebenen Nachbarstaat und seinen Bewohner:innen ist. „Millionen von Zombies. Kein Wunder, dass sie jetzt den Buchstaben Z so lieben“, heißt es an einer Stelle über die Russen. „Wir wollen sie nicht mehr kennen“ an einer anderen.Viele der Briefe lassen in die verletzten Seelen der ukrainischen Frauen blicken, die, je länger der Krieg dauert, mit der neuen Wirklichkeit umgehen müssen. Das ist nicht immer leicht, wie die 26-jährige Anastasija Hruba einräumt. „Der Krieg ist bald sechs Monate alt. Bis jetzt hatte ich das Glück zu überleben. Viele Ukrainer nicht … Ich hasse mich dafür.“ Die 29-jährige Journalistin Dina Wonh schreibt: „Jeder neue Tag kann mein letzter sein. Ich nehme das ohne Emotionen, kühl und nüchtern hin. Ich verspüre dabei keine Angst, Traurigkeit, Panik oder andere Gefühle. Es ist einfach eine Tatsache. Genauso wie die Tatsache, dass der Weizen gelb, der Himmel blau, bei mir zu Hause Krieg herrscht und Russland ein Terrorstaat ist.“So ist jeder Brief ein Mahnmal der individuellen Erinnerung, führt zurück in die Unmittelbarkeit des Horrors, an den wir uns alle längst viel zu sehr gewöhnt haben. Aber viele blicken auch über den Moment hinaus und zeigen den Lebensmut vieler Frauen, die aus der Alternativlosigkeit eine Tugend gemacht und im Wortsinn ihr Leben in die Hand genommen haben.Begleitet werden die Texte von ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Bildern, die drei ukrainische Fotografinnen von den Autorinnen gemacht haben. In diesen kraftvollen Porträts wird die Erschütterung dieser Frauen sichtbar, aber auch, dass sie sich von ihren Erfahrungen nicht brechen lassen wollen. Frauen, die selbstbewusst und mutig in die Zukunft blicken. Sosehr die Texte belegen, wie viel Unschuld und Hoffnung ihnen dieser Krieg genommen hat, beweisen die Bilder, dass sich diese Frauen eines nicht nehmen lassen: ihre Würde.Ihre Würde als Frauen und ihre Würde als Ukrainerinnen, deren Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, in diesen Briefen ungebrochen ist. Wenn Putin dachte, er könnte mit seinem Krieg das fragile Gebilde der ukrainischen Nation erschüttern, dann hat er sich getäuscht. Auch das erfährt man in diesen Briefen, die neben den individuellen Erlebnissen auch die kollektive Erfahrung aufzeigen, als Gemeinschaft zusammenzuwachsen, die für eine Zukunft in Freiheit kämpft. „In diesem Krieg sind wir ganz allein“, heißt es in einem Brief. „Aber wir sind zusammen.“Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.