Die aus dem Regenmantel kamen

Salzburg (2) Die Wiener Philharmoniker spielen Brahms' "Symphonie Nr. 1 c-Moll op.68", wie man sie nicht alle Tage hört und "La Boheme" macht trotz des Elends oben denen unten Appetit

So hört man Brahms’ Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 nicht alle Tage wie von den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Mariss Jansons. Da wird nicht aufgetrumpft und nichts verschmiert, da werden die kompositorischen Strukturen glasklar herausgearbeitet bis hin zum hymnischen Thema des vierten Satzes, das seinen feierlichen Charakter weniger durch Lautstärke als durch den sich steigernden Gestus einer Entschiedenheit erhält. Nichts an dieser Interpretation schielt nach dem äußerlichen Effekt. Sie ist durch schlechtere Orchester und dümmere Dirigenten ebenso wenig zu ersetzen – Klassikverächtern sei dieser Vergleich angeboten –, wie ein Konzert von Bruce Springsteen (Tickets von 85 bis 199 Euro!) durch einen Auftritt von Andrea Berg.

Dr. Helga Rabl-Stadler, die Präsidentin der Salzburger Festspiele, die alle Intendanten und Skandale überlebt hat und die meistfotografierte Roter-Teppich-Abschreiterin ist, begrüßt es, wenn „die Leute neben dem Kunstgenuss den Festspielbesuch auch als Gesamtkunstwerk sehen, indem sie sich gut anziehen“. „Ich leide immer, wenn ich in den USA in die Oper gehe und die Leute neben mir während der Ouverture raschelnd den Regenmantel ausziehen und es manchmal riecht wie nach nassen Hunden“, teilt die weitgereiste Dame ihren Lesern mit, die hoffentlich ihr Verständnis darüber teilen, womit man „gut angezogen“ ist, und sich so zum Teil eines Gesamtkunstwerks machen. Ja, ja, ja, sie haben recht, die Freunde, die das Drumherum unerträglich finden. Aber wie entgeht man dem Dilemma, wenn man jene Kunst liebt, die die Bourgeoisie für sich gepachtet hat? Wie vermeidet man die Selbstdarsteller, deren während der Vorstellung aufleuchtende Handys penetranter stören als Regenmäntel, wenn man nicht zugleich auf Musik, Theater, Oper von nicht immer, aber oft beachtlicher Qualität verzichten möchte? Sollen wir nassen Hunde das Terrain kampflos preisgeben?

Und so delektiert sich denn ein wohlriechendes, gut angezogenes, gerafftes und aufgespritztes Publikum am Elend der schwindsüchtigen, rollenbedingt eher schlicht gekleideten Mimi, deren letzter Wunsch ein Muff ist, damit dies eiskalte Händchen im schlecht geheizten Asyl Rodolfos und seiner Freunde nicht frieren muss. Der schönste Tod der Operngeschichte, mit dem nur noch der der Traviata konkurrieren kann, greift ans Herz und rührt zu Tränen, weil er eine überwältigende Liebe beendet.

Das melodramatische Muster verfehlt seine Wirkung nicht. Den Rest erledigt nach wie vor Puccinis ebenso bekannte wie raffiniert-sentimentale Musik. Und wenn die Inszenierung andeutet, dass es die Armut, von der La Bohème handelt, heute noch gibt, dann trösten sich die gut gekleideten Damen und Herren mit der festspielwürdigen Besetzung, mit den prachtvollen Stimmen, die Anna Netrebko (Foto) bis in Mimis Tod und Piotr Beczala bis in Rodolfos Verzweiflung nicht verlassen. „Nie hast du den abgewetzten Rücken vor Reichen und Mächtigen gebeugt“, singt Colline seinen Mantel an. Das ist oben auf der Bühne. Unten, im wirklichen Leben, freut man sich auf das beste Rinderfilet weit und breit.

Und doch, um nicht dem Klischee zu verfallen: Es gibt auch ein Publikum, das aus Liebe zur Kunst zu den Festspielen kommt, nicht nur zur Bohème, und auf Plätze, deren Preise für Opern bei 25 Euro, für Sprechtheater und Konzerte bei 10 Euro beginnen. Nicht immer speist sich die Verachtung für Salzburg aus Klassenbewusstsein. Manchmal ist es bloß Desinteresse.

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