Adorno und Gehlen, Marcuse und Freyer: Die Kritische Theorie und ihre Freunde
Essay Konsens auf der Couch: Die Vertreter der Kritischen Theorie und ihre liberalkonservativen Gegner waren öfter „per Du“ als bekannt, weiß unser Autor
In den 1950er Jahren war Jürgen Habermas ein paar Mal für Theaterbesuche in der DDR, dann erst wieder 1988
Foto: Steve Pyke/Getty Images
Habermas zu lesen ist eine Herausforderung. Insbesondere dann, wenn man sein Soziologiestudium gerade erst begonnen hat. Die Erstlektüre von Erkenntnis und Interesse brach ich damals mitten im zweiten Kapitel ab. Fast jeder zweite Satz schien mir mutmaßlich so wichtig, dass ich ihn sauber mit dem Lineal unterstrich. Dabei habe ich kaum etwas verstanden. Hegels Kantkritik war mir unzugänglich und die Namen Peirce und Dilthey hatte ich nie gehört. Doch schon bald kam die Erlösung. Die nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin Anke Brunn kündigte an, die gesamte Philosophische Fakultät der RWTH Aachen als eigenständige Fakultät komplett aufzulösen, und das galt es zu verhindern.
Die nächsten Monate waren turbulent, Vorlesungen wu
ent, Vorlesungen wurde gesprengt, Demonstrationen organisiert und ein großer Teil der Aachener Stadtbewohnerschaft, einschließlich der Geschäftswelt und eines großen Teils der reichlich vorhandenen Studentenverbindungen, solidarisierte sich. Die Studentenrevolte von 1968 lag bereits 20 Jahre zurück, aber für einen Moment schien ihr Geist zurückgekehrt. Schließlich lenkte das Ministerium ein und Habermas’ abstrakter Begriff vom kommunikativen Handeln war neues Leben eingehaucht worden und seine Idee des herrschaftsfreien Diskurses hatte es mir nun angetan: Um uns als Menschen überhaupt miteinander verständigen zu können, so der Grundgedanke, müssen wir davon ausgehen, es mit gleichwertigen, vernünftigen und aufrichtigen Gegenübern zu tun zu haben. Im Akt des Sprechens selber werde eine „ideale Sprechsituation“ unterstellt, in der nicht Macht und Einfluss, sondern allein der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ zum Zuge komme. Die Frage, ob die „Bedingungen für die, sei es auch annähernde, Verwirklichung einer idealen Lebensform praktisch herbeigeführt werden können“, ließ er zunächst offen. Das, so stellt der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch in seinem gerade erschienenen Essay Der Philosoph. Habermas und wir (Ullstein) heraus, war ein Einfallstor für die liberalkonservativen Gegner des schon damals prominentesten noch lebenden Schülers Max Horkheimers und Theodor W. Adornos. Man warf ihm vor, weltfremden Ideen anzuhängen und die harte politische Wirklichkeit mit den Gepflogenheiten in Uniseminaren zu verwechseln.Ähnliches hatte der Anarchist, der ich damals war, seit der Schulzeit zuweilen zu hören bekommen. Es war der Anspruch, Herrschaftsverhältnisse zu überwinden, die mein Interesse an den Autoren der Kritischen Theorie überhaupt geweckt hatte. In ihrem von der US-Militäradministration finanziell unterstützten Frankfurter Institut für Sozialforschung wollten die aus dem amerikanischen Exil in das zerbombte Deutschland zurückgekehrten Freunde Horkheimer und Adorno die Soziologie nicht als eine reine Fachwissenschaft betreiben, sondern mit einer übergreifenden Theorie der Gesellschaft verbinden, die letztlich auf eine Überwindung des Kapitalismus zielte.Ich wurde enttäuscht. Statt zu erkunden, wie eine herrschaftsfreie Gesellschaft beschaffen sein muss und auf welchem Weg sie ins Werk zu setzen sei, schien Habermas nicht mehr im Sinn zu haben, als das ohnehin bestehende liberale System philosophisch besser zu begründen. „Die Kritische Theorie“, schreibt Alex Demirović in seinem 2023 bei Mandelbaum neu aufgelegten, sehr lesenwerten Buch Der nonkonformistische Intellektuelle, „trug dazu bei, dass die bürgerliche Gesellschaft begann, sich auf sich selbst anders zu beziehen: sozialwissenschaftlicher, rationaler, widerspruchsbereiter, dynamischer, offener“.Bei Habermas in StarnbergFelschs Buch zeigt eindrücklich, wie sehr sich die kulturellen Gepflogenheiten im Westen des Landes seit den 1950ern verändert haben. Als Habermas gegenüber dem Beatles-Fan Peter Handke in den 1960ern zugab, die Popgruppe nicht zu kennen, soll der Jungstar unter den deutschen Schriftstellern handgreiflich geworden sein. Erst später in den 80ern soll das machistische Raufgebaren unter den Autoren der Suhrkamp-Kultur aus der Mode gekommen sein. Als Felsch den Philosophen im Juni 2022 zum ersten Mal besucht, findet er ihn in demselben Bungalow am Starnberger See vor, den er in den 70er-Jahren mit seiner Frau bezogen hat. Das ist von Frankfurt und noch mehr von Berlin aus gesehen die tiefste bundesrepublikanische Provinz und passt zu einer vergangenen Epoche, in der sich die westdeutschen Eliten als Randfiguren des Weltgeschehens empfanden und sich die meisten linken Intellektuellen mit der deutschen Teilung abgefunden hatten. Habermas ist auch in dieser Hinsicht repräsentativ für die Bundesrepublik. „Anfang der 1950er-Jahre“, erzählt er Felsch auf der Wohnzimmercouch, „sei er ein paarmal im Theater am Schiffbauerdamm gewesen, um sich Brecht-Inszenierungen anzusehen, und später habe er mit dem Filmclub der Universität Bonn von einer FDJ-Stelle in Ost-Berlin DEFA-Filme ausgeliehen. Das nächste Mal sei er erst im Sommer 1988 wieder in die DDR gereist, um auf Einladung eines dortigen Kollegen im überfüllten Audimax der Martin-Luther-Universität in Halle einen Vortrag zu halten“.Seit einigen Jahren wird die These, dass es in erster Linie die Köpfe der Frankfurter Schule waren, welche die Liberalisierung und Modernisierung der bundesdeutschen Gesellschaft vorangebracht hätten, neu beleuchtet. Der Politikwissenschaftler Jens Hacke hat in verschiedenen ideengeschichtlichen Publikationen gezeigt, dass der diesbezügliche Beitrag einiger ihrer hartnäckigsten liberalkonservativen Gegner, vornehmlich solche aus der sogenannten Ritter-Schule, nicht unterschätzt werden darf. Autoren wie Odo Marquard, Hermann Lübbe, Robert Spaemann oder Ernst-Wolfgang Böckenförde komme das Verdienst zu, die in demokratietheoretischer Hinsicht in Teilen toxischen Theorien rechtsgerichteter Denker wie Arnold Gehlen und Carl Schmitt entgiftet und auf diese Weise für die Legitimation der Demokratie nutzbar gemacht zu haben. Man denke nur daran, wie gewitzt Odo Marquard einen der bekanntesten Aussprüche des Staatsrechtlers Schmitt ironisch verwandelte. Aus „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ machte er: „Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet“. Was die Verteidigung der liberalen parlamentarischen Demokratie und die Westbindung betraf, das lässt sich im Rückblick sagen, standen Habermas und einige seiner profiliertesten Gegner schon in den 80er-Jahren auf derselben Seite. Sie agierten wie der gemäßigt linke und der gemäßigt konservative Flügel ein und derselben Partei einer gleichsam übergeordneten politischen Vernunft: Man zankte sich zuweilen heftig und machte das gemeinsame Projekt der Bundesrepublik vielleicht gerade dadurch stark.Interessanterweise gab es aber, das zeigt Demirović in seinem Buch, auch auf Seiten der Kritischen Theorie Berührungspunkte zu Autoren, die von ganz weit rechts kamen. Als Horkheimer in die Emigration gezwungen wurde, ging Heinz Maus, sein ehemaliger Schüler und späterer Assistent, nach Leipzig, um bei dem Soziologen Hans Freyer zu promovieren, einem überzeugten Nazi, der sich in seiner Schrift Revolution von rechts für die Überwindung der Weimarer Republik stark gemacht hatte. Was den jungen Herbert Marcuse wiederum nicht davon abhielt, dessen 1930 erschienenes Buch Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft in einer Rezension als die „am weitesten vorangetriebene wissenschaftliche Selbstbesinnung“ des Fachs zu feiern. Und mit größerem zeitlichen Abstand hat Habermas sich dazu bekannt, in jungen Jahren von einem seiner späteren ideologischen Hauptgegner, Arnold Gehlen, anfangs viel gelernt zu haben. Wenn es um die Einschätzung der moderner Malerei ging, war sich Adorno, der Parteigänger der künstlerischen Avantgarden, mit dem Demokratieverächter erstaunlich einig. Als Gehlen, der einst eine Philosophie des Nationalsozialismus hatte schreiben wollen, 1960 sein Buch Zeit-Bilder veröffentlichte, gehörte Adorno zu jenen linken Intellektuellen, die davon sehr angetan waren. Er schrieb seinem Kontrahenten einen begeisterten Brief. Sie verabredeten sich zu Rundfunkgesprächen, führten einen Briefwechsel und verkehrten samt Ehefrauen auch privat. Was ist von all dem zu halten? Mit der Beantwortung dieser Frage sollten wir es uns nicht leicht machen.Placeholder authorbio-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.