Jürgen Habermas plädiert für Verhandlungen: Genealogie des Weltfriedens
Ukraine-Krieg Jürgen Habermas erklärt in der Süddeutschen Zeitung, warum sich der Westen im Ukraine-Krieg für Verhandlungen einsetzen müsse. Sein Plädoyer hat aber leider Lücken bei der klaren Benennung des Konflikts
Jürgen Habermas vertritt keinen pazifistischen Standpunkt
Foto: Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images
Wenn ein Jürgen Habermas sich für Verhandlungen statt immer weiter eskalierender Waffenlieferungen ausspricht, kann er auch von Bellizisten nicht einfach totgeschwiegen oder verächtlich gemacht werden. Man übt sich dann lieber darin, seinen in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel nicht richtig lesen zu können, wie vorgeführt von Christoph Geyer in der FAZ: „Kann es sein“, schreibt er, „dass in dem bloß allgemeinen Sinne, in dem Jürgen Habermas sein ‚Plädoyer für Verhandlungen‘ hält, niemand etwas gegen Verhandlungen hat? Denn in dem raumgreifenden Artikel“, behauptet Geyer, „werden Verhandlungen gutgeheißen, ohne Wege aufzuzeigen, wie sie gelingen oder auch nur aufgenommen we
8;Plädoyer für Verhandlungen‘ hält, niemand etwas gegen Verhandlungen hat? Denn in dem raumgreifenden Artikel“, behauptet Geyer, „werden Verhandlungen gutgeheißen, ohne Wege aufzuzeigen, wie sie gelingen oder auch nur aufgenommen werden könnten“.Beides ist unwahr. Was die Wege zur Aufnahme von Verhandlungen angeht, hatte sich Habermas einer Ende Januar in der FAZ veröffentlichten Analyse von Hans-Henning Schröder angeschlossen, dem früheren Leiter der Forschungsgruppe Russland/GUS der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, und was das Gelingen angeht, hatte er glasklar für einen „Kompromiss“ geworben: „Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022“.Habermas schließt sich damit anderen Stimmen an, die eigentlich schon seit Kriegsbeginn immer wieder von genau dieser Verhandlungslinie gesprochen haben – wenn man überhaupt verhandeln will, dürfte es kaum eine Alternative geben –, aber er tut mehr; seine Analyse bettet die Verhandlungsfrage klarer ein, als das bisher geschehen ist. Sein Ausgangspunkt ist, dass die Eskalation der Waffenlieferungen, wenn sie ungehemmt so weitergeht, unweigerlich zum Dritten Weltkrieg führen muss und dass sie die notwendige Kehrseite der bisherigen Weigerung des Westens ist, ein Kriegsziel zu benennen.Wenn dann immer gesagt werde, es sei Sache der Ukraine, zu entscheiden, wann und wofür sie Verhandlungen anstreben will, sei das verantwortungslos, erstens, weil die Verantwortung des Westens über die Ukraine hinausreiche, zweitens aber auch der Ukraine selbst gegenüber, denn inzwischen sei dort eine mit „Verdun“ vergleichbare Situation entstanden. Der immer größer werdende Schaden sei zum Teil schon irreparabel. Diese Situation erkläre es auch, dass gerade jetzt die Verhandlungsfrage auch das Lager der Waffenlieferer spalte. Wenn Außenministerin Annalena Baerbock behaupte, die Waffen würden „Leben retten“, sei das mit den Fakten ganz offenkundig nicht vereinbar.Kein pazifistischer Standpunkt von Jürgen HabermasDie Schärfe der Analyse ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass Habermas die Lage nicht von einem pazifistischen Standpunkt aus beurteilt, vielmehr, wie man sagen könnte, von einem nietzscheanischen. Nietzsche ging nicht davon aus, dass am Anfang der gute Himmel war, von dem dann leider nachträglich der Lichtengel abgefallen und zum Satan geworden sei, sondern umgekehrt – in früheren Stadien der Evolution hätten die Tiereltern, so Nietzsche, ihre Kinder nur gehütet, um ständig über eine Fressreserve verfügen zu können; erst das ständige Zusammensein mit den Kindern habe sie ihre Ähnlichkeit mit ihnen entdecken lassen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl, später sogar Liebe geweckt. So stellte sich Nietzsche die „Genealogie der Moral“ vor. Und so muss man sich doch jedenfalls eine Genealogie des Weltfriedens vorstellen.Es ist noch nicht lange her, dass sich die Staaten ein Recht zum Krieg zusprachen, der als natürlich erschien; dann verbreitete sich die Einsicht seiner Unvereinbarkeit mit so etwas wie Zivilisation. Mit der Gründung der UNO wurde die Konsequenz gezogen: „Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse“. Das war ersichtlich kein Radikalpazifismus, der aber, so schätzte man offenbar ein, hätte auch gar nichts bewirkt. Was möglich war und erstrebt wurde, war „die schrittweise Überwindung von Kriegen als Mittel der Beilegung internationaler Konflikte“. Habermas stellt klar, dass das mit gutem Grund ein pur rechtlicher Standpunkt ist: Wie immer es zu einem Krieg gekommen ist, er gilt jetzt per se als krasses Unrecht. Wenn ein Mann seine Frau schlägt, darf er sich ja auch nicht damit rechtfertigen, sie habe ihn „bis zur Weißglut gereizt“.Auch heute ist allenfalls die „schrittweise Überwindung“ möglich, und da sieht man erst, was der Punkt ist: Nicht nur Russland, auch der Westen fällt hinter dieses Prinzip zurück. Denn das Prinzip verlangt nicht nur, dem Rechtsbrecher, das ist Wladimir Putin, entgegenzutreten, sondern das Kriegsgeschehen ist als solches ein Unrecht; wenn der Krieg kein Mittel zur Beilegung eines Konflikts sein darf, darf man auch kein Öl in sein Feuer gießen, was mit der Eskalation der Waffenlieferungen aber geschieht. Deshalb, so Habermas, sei nur die Losung „Die Ukraine darf nicht verlieren“ rechtlich vertretbar, nicht der Versuch, Russland zu „besiegen“, jene Losung aber laufe logisch darauf hinaus, Verhandlungen zu initiieren und „nach erträglichen Kompromissen“ zu suchen.Lücken im Habermas-TextWas Habermas mit all dem sagt: Es geht nicht so sehr darum, die Genese dieses Krieges zu untersuchen (woraus dann manche eine Rechtfertigung des russischen Verbrechens ableiten), als um die Anerkennung dessen, dass der Krieg Ausdruck eines Konflikts ist. Der Westen kann sich nicht auf den Standpunkt stellen, da sei gar kein Konflikt, sondern nur das aus der Hölle herabfließende Lava des Bösen. Sollen wir uns für diesen theologischen Unsinn in den Dritten Weltkrieg treiben lassen?Gewünscht hätte man sich, dass Habermas den Konflikt klarer benennt. Es geht doch offenbar um die Rechte ethnischer Minderheiten. Putin hat sich verhalten wie Hitler, als er das Sudetenland beanspruchte. Aber die EU ist ihrem eigenen Rechtsstandpunkt nicht gefolgt, der den Schutz solcher Minderheiten verlangt, in der Ukraine wie etwa auch in den baltischen Staaten. Das ist der Konflikt, und hinter ihm steht noch Hannah Arendts Einsicht: Das westeuropäische Nationalstaatsprinzip, erfunden in der Französischen Revolution nach 1789, hat Unglück über ganz Osteuropa gebracht, wo seit jeher die verschiedensten Völker zusammenlebten, von denen nun einige zu Nebenvölkern erklärt wurden, wenn man nicht gar ihre ethnische Verschiedenheit zu leugnen begann. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Daran politisch zu arbeiten wäre besser, als Satanslegenden zu spinnen.Und noch etwas: Ganz so naturwüchsig und „schlafwandlerisch“ wie Habermas es sieht, treiben wir wohl gar nicht in den Weltkrieg. Vielmehr bezeichnet die Lieferung der Leopard-2-Panzer einen Wendepunkt, dessen Bedeutung westlichen Politikern kaum verborgen sein kann: Sie war klar mit dem Ziel der ukrainischen Führung verbunden, die Krim zurückzuerobern. Das ist also keine bloße Kehrseite eines Versäumnisses, ein westliches Kriegsziel zu benennen, sondern ist im Gegenteil ein Ziel und ist das Ausschlagen der Möglichkeit, mit Russland einen Kompromiss zu suchen. Die westlichen Bellizisten sind gespalten, Teile von ihnen arbeiten wirklich auf den Dritten Weltkrieg hin. Auch wenn die Panzer vermutlich nicht viel bewirken werden, überschreitet die Bundesregierung mit ihrer Lieferung, zu der sie sich hat drängen lassen, eine rote Linie. Wann kommt sie zur Besinnung?