Armenien: Proteste gegen Regierung nach Aserbaidschans Angriff auf die Region Bergkarabach
Bergkarabach Weder Russland noch Armenien wirken bereit, dem Angriff Aserbaidschans auf die Region Bergkarabach etwas entgegenzusetzen. Die Bevölkerung protestiert in weiten Teilen des Landes. Sie fürchtet erneute Gewaltverbrechen wie schon 2020
Die armenische Bevölkerung reagiert mit Protesten auf Aserbaidschans militärische Angriffe.
Foto: Karen Minasyan / AFP via Getty Images
Am 21. September feiert Armenien seine Unabhängigkeit. Ein symbolischer Tag für eine endgültige Kapitulation im Krieg mit Aserbaidschan. Dieser Tag könnte in der Erinnerung des armenischen Volkes tatsächlich historisch werden, denn der jahrzehntelange Kampf um die Freiheit und Unabhängigkeit der armenisch besiedelten Region Bergkarabach – im Armenischen Arzach genannt – scheint zu Ende zu sein, mit dem Verlust von Menschenleben und von Heimat.
Gestern haben die Behörden in Bergkarabach der Forderung von Baku zugestimmt, ihre Waffen abzugeben. Heute trafen sich die Vertreter Bergkarabachs und Aserbaidschans in der aserbaidschanischen Stadt Evlakk, nachdem die aserbaidschanische Armee das Gebiet mit Artillerie, Raketen und Drohnen angegriffen hat
riffen hat, um es zu erobern. Bis dahin waren armenischen Angaben zufolge mehr als 200 Menschen getötet und über 400 verletzt worden, unter ihnen auch Zivilisten.Aserbaidschan habe seine Souveränität über Bergkarabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, wiederhergestellt, sagte Präsident Ilham Alijew am Mittwoch in einer Fernsehansprache in Baku.In Armenien brechen Proteste gegen die Regierung losIn der armenischen Hauptstadt Jerewan gingen die Emotionen hoch. Tausende versammelten sich auf dem Platz der Republik vor dem Regierungsgebäude. In den Aufnahmen der lokalen Medien ist zu sehen, wie die wütende Menschenmasse brüllt, flucht und schimpft – sie werfen Premierminister Nikol Paschinyan und seiner Regierung vor, die Bevölkerung in Bergkarabach im Stich gelassen zu haben. „Der Verräter Paschinyan liefert unser Vaterland Stück für Stück dem Feind aus. Und das hat keine Ende“, ruft ein Demonstrant aus einem Lautsprecher. Die Opposition fordert den sofortigen Rücktritt von Paschinyan und ruft die Bevölkerung zu Protesten auf.Seit Dienstag kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen den Demonstrant:innen und den Sicherheitskräften. Demonstrierende werfen Flaschen auf die Polizei und schlagen Fenster von Regierungsgebäuden ein. Die Polizei setzt Blendgranaten gegen die Demonstrant:innen ein. Es gab mehrere Verletzte, darunter auch Journalist:innen.Gleichzeitig versammeln sich Hunderte Menschen vor dem Gebäude der russischen Botschaft. Sie rufen auf Russisch „Fuck Putin“ und „Schande Russland“, halten Plakate hoch mit der Aufschrift: „Russland ist ein Terroristenland“ und „Putin ist ein Mörder“.Russland gibt Armenien die Schuld an der EskalationIm Herbst 2022 endete der 44-tägige blutige Krieg zwischen den Nachbarstaaten Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach mit einem Teilsieg Aserbaidschans. Unter russischer Vermittlung wurde schließlich ein Waffenstillstand geschlossen. Rund 2.000 russische Soldaten sollten den Frieden sichern, unter anderem im Latschin-Korridor, der einzigen Straße, die Bergkarabach mit Armenien verbindet. Doch seit neun Monaten hat Baku diese Verbindung mit dem Ziel blockiert, die Karabach-Armenier:innen dazu zu zwingen, sich bedingungslos zu unterwerfen, auszuwandern oder schlicht zu verhungern.Placeholder image-1„Russland versucht nun seine Haut zu retten und seine unerfüllte Verantwortung als großes humanitäres Geschenk an das armenische Volk zu verkaufen. Anderseits düpiert der Kreml die armenische Regierung, um die russische Politik in der Region zu rechtfertigen“, sagt die Menschenrechtlerin Zaruhi Hovhannisyan im Gespräch mit dem Freitag.Seit mehreren Tagen steht die Situation im Südkaukasus im Mittelpunkt von Talkshows im staatlichen russischen Fernsehsender. „An allem ist Armenien schuld“, lautet der Tenor. Die Erklärung dafür: „Jerewan kuschelt mit der EU und der NATO, solidarisiert sich mit unserem Feind, der Ukraine, aber ruft Russland um Hilfe an, die der Kreml nicht leisten wird“.Die russischen Friedenstruppen nutzten die Blockadesituation für sich ausHovhannisyan hat die Missstände bei den russischen Friedenstruppen während der Blockade im Detail dokumentiert. „Diese Mission war eine Möglichkeit, schmutziges Geld zu verdienen“, sagt sie. Angesichts der Nahrungsmittelkrise verkauften russische Soldaten Lebensmittel zu hohen Preisen an die Bevölkerung. Russische Kommandos hätten von einzelnen Bewohnern bis zu 5000 Euro verlangt, um sie über den Latschin-Koridor nach Armenien zu bringen.Doch das Leben von 120.000 Menschen in Bergkarabach hänge weiterhin von russischen Truppen ab. In den sozialen Netzwerken wurde ein Foto veröffentlicht, das um die Welt ging und Tausende von Menschen zeigte, die sich am Flughafen von Stepanakert versammelt hatten. Der Flughafen wird von russischen Friedenstruppen kontrolliert, die einem Teil der Bevölkerung einen sicheren Platz unter freiem Himmel zur Verfügung gestellt haben sollen.Von der internationalen Gemeinschaft erwartet sie nichts. Letztlich haben die völlige Ignoranz des Westens und die schmutzigen Gasgeschäfte zwischen der EU und Aserbaidschan zu diesen Katastrophen geführt.Die Regierung in Armenien ist nicht auf die Flüchtlinge vorbereitetHovhannisyan kritisierte zudem die armenische Regierung, die weder einen Organisationsplan für die Evakuierung habe, noch einen Plan, um die Flüchtlinge unterzubringen und mit humanitärer Hilfe zu versorgen, falls nach den Verhandlungen die Korridore nach Armenien geöffnet würden.„Hungernde, kranke und terrorisierte Menschen werden in großer Zahl nach Armenien kommen und das Land hat nicht die Ressourcen, um die Menschen aufzunehmen“, sagt sie. Es fehlt vor allem an Unterkünften. Die Hotels sind überfüllt, seitdem Zehntausende Russ:innen wegen des Krieges in der Ukraine nach Armenien geflohen sind, vor allem um der russischen Mobilisierung zu entgehen.Placeholder image-2Hovhannisyan schließt nicht aus, dass die russische Regierung den Armenier:innen aus Bergkarabach anbieten könnte, auf russisches Territorium überzusiedeln, auch wenn es dazu keine offiziellen Informationen gibt.Die Menschenrechtlerin befürchtet, dass Aserbaidschan weitere Kriegsverbrechen begehen und armenische Männer gefangen nehmen wird. Sie erinnert daran, dass aserbaidschanische Militärkräfte während der Belagerung einige Männer mit gesundheitlichen Problemen an einem von Aserbaidschan errichteten Checkpoint in Latschin-Korridor festgenommen und als „Kriegsverbrecher“ inhaftiert hat. Dies sei ein Beispiel dafür, was mit Tausenden anderen Männern nun geschehen könnte.Die Armenier:innen in Bergkarabach fürchten rassistisch motivierte Gräuel und Gewalttaten Baku erklärt sich bereit, die Armenier:innen in die aserbaidschanische Gesellschaft zu integrieren. Viele Armenier haben jedoch Angst davor. „Wir wollten gerade wegen rassistischer und religiöser Diskriminierung und aus Angst um unsere bloße Existenz getrennt von dem Regime in Baku leben“, sagt Irina Safaryan.Sie und ihre Familie haben 2020 den 44-tägigen Krieg im Jahr 2020 überlebt. Damals geriet die Region Hadrut, in der die 30-jährige Safaryan geboren wurde und bis dahin gelebt hatte, unter aserbaidschanische Kontrolle. Sie konnten damals nach Armenien fliehen. Heute, zwei Jahre später, erinnert sie daran, dass aserbaidschanische Militärs damals armenische Soldatinnen folterten und vergewaltigten, armenischen Soldaten die Köpfe abschnitten und Fotos davon auf Telegramm-Kanälen veröffentlichten, um die Armenier:innen einzuschüchtern. Zahlreiche Aufnahmen, die auf Handys und in den Köpfen der Menschen gespeichert sind, zeigen, wie aserbaidschanische Soldaten armenische Kirchen schänden, oder armenische Gotteshäuser und Kreuzstein-Denkmäler zerstörten, die die Armenier:innen 2020 in den nun von Aserbaidschan beherrschten Regionen zurückgelassen haben.„Und wie können wir heute über ein Zusammenleben reden?“, empört sich Safaryan am Telefon. Seit Dienstag hat sie den Kontakt zu Freunden und Verwandten in Karabach verloren. Das Netz sei abgehört worden. Seit langem versuchte sie von Jerewan aus, ihren Landsleuten hinter der Blockade zu helfen. In einer Facebook-Gruppe vernetzte sie Menschen, die sich gegenseitig helfen. Sie tauschen Eier gegen Zucker, Waschpulver gegen Mehl. Doch ist jetzt auch dieser Chat verstummt.Verstummt ist auch Safaryan. Sie habe keine Kraft mehr zu kämpfen, auf dem Platz der Republik zu demonstrieren oder Hilfsgüter für die neuen Geflüchteten aus Bergkarabach zu sammeln, was sie die vergangenen zwei Jahre lang gemacht habe. Heute packt sie wieder ihre Koffer. Sie fliegt nach Belgien, andere Familienmitglieder bleiben in Jerewan zurück. Zum Schluss sagt sie noch: „Ich bin innerlich zerrissen, wie meine Heimat. Ich zweifele, ob ich das alles noch verkraften kann“.
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