Beobachterbericht zum Bahnhofswald

Wirtschaft vor Gesundheit Der Bahnhofswald in Flensburg wurde geräumt. Es ist gleichzeitig Höhe- wie Tiefpunkt einer Geschichte, die so vielschichtig ist, dass es eine Bestandsaunahme erfordert.

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Es war Anfang Oktober 2020, als eine Gruppe Aktivist:innen beschloss, den Bahnhofswald in Flensburg zu besetzen. In kürzester Zeit wurden Baumhäuser gebaut, eine Mahnwache errichtet und Öffentlichkeit geschaffen. Transparente, Twitterkanal, Teerunden. Mitten in der Pandemie, aber streng nach Hygienevorschrift. Um sich zu schützen, aber auch um nicht angreifbar zu sein.

Während viele davon ausgingen, dass die Baumbesetzer nicht lange geduldet würden – die Resonanz in der Öffentlichkeit war eher gespalten – zeigten sich Stadtverwaltung und Polizei in Flensburg erstaunlich wohlgesonnen. Ungewöhnlich wohlgesonnen, die Bilder aus dem Hambacher Wald waren doch noch recht frisch.

Das Camp wuchs, Aktivist:innen kamen zusammen und organisierten sich, es entstanden mehrere Baumhäuser. Herzblut und Engagement waren beeindruckend, und so viel Professionalität hatten manche dem bunt zusammengewürfelten Haufen aus Schüler:innen, Rentner:innen, Lokalpolitiker:innen und Aktivist:innen verschiedener Richtungen nicht zugetraut.

Ruhe in den Hütten, Krieg im Palast

Während nach außen Ruhe herrschte, wurden im Stadtrat heiße Kämpfe gefochten. Ein Millionenprojekt drohte zunehmend in Gefahr zu geraten, ein Prestigeprojekt der Oberbürgermeisterin, denn Bauen bedeutet Investoren, bedeutet Arbeitsplätze und Entwicklung. Flensburg ist kurz davor, die magische 100.000er-Marke zur Großstadt zu überschreiten.

Das sieht nicht nur gut aus im Lebenslauf einer OB, sondern eröffnet Zugang zu neuen Töpfen öffentlicher Fördermittel. Gut für die Stadt, gut für die Bürger, gut für die Gäste.

Vorangegangen war dem ein mehrjähriges Tauziehen aus scheibchenweisen Umwidmungen und Änderungsabstimmungen: So sollte das Waldstück erst zu Parkgebiet und danach zu Bauland erklärt werden, aus dem ursprünglichen Plan eines Mischgebiets aus Wohnungen und Einzelhandel mit öffentlichen Parkflächen wurde ein Privatkomplex aus Hotel und Parkhaus. Der Bedarf wurde festgestellt und so sollte es sein. Dabei ist das Bauprojekt nicht nur aus Naturschutzgründen umstritten: Das Hotel soll an einem Abhang stehen, der ohne das Wurzelwerk der Bäume abzurutschen droht. Zudem fließt dort eine Quelle, der Neubau wird also auf nassen Füßen stehen.

Ich will hier nicht mit Namen langweilen, aber einige Akteure müssen kurz vorgestellt werden:

Duschkewitz & Hansen sind der Grundstückseigentümer und sein Steuerberater. JaRa Immobilien haben das Bauprojekt. Darüber steht als Hauptinvestor die Deutsche Hospitality, eine Tochter der Huazhu Hotel Group aus Singapur.

Und dann ist da noch die Oberbürgermeisterin Simone Lange, die vor der Wahl steht: Einen prestigeträchtigen Neubau feiern zu können oder bei Misserfolg eine teure Regressklage für die Stadt zu riskieren. Es geht um 50 Millionen.

Die trügerische Ruhe bedeutete nur eins: Die Investoren und die Stadt sahen den Winter kommen und überließen der Zeit den Rest. Die Polizei hatte ohne Anweisung der Stadt keinen Anlass zu räumen, also nutzten sie die Zeit für etwas Charme-Offensive in Form von Abwesenheit.

Die OB versuchte ihrerseits eine Charme-Offensive. Sie war bei der Kripo, hat Management studiert und spätestens als Bürgermeisterin leitende Tätigkeit. Führungskräfte, die ihre Untergebenen anschreien, erreichen heute nichts mehr; moderne Führungskräfte müssen schmeicheln und die Menschen so einwickeln können, dass sie lange genug von vager Hoffnung abgelenkt sind.

So versprach Frau Lange einerseits eine Menge in verschiedene Richtungen, jedoch ohne verbindliche Zusagen zu treffen. Andererseits setzte sie sich über die Untere Naturschutzbehörde hinweg und fuhr eigens nach Kiel, um sich eine Sondergenehmigung für die Fällung persönlich abzuholen. Ein Affront gegenüber den Aktivist:innen – und der eigenen Behörde.

Fast Forward Stop; Normal Play

Wir verengen das Zeitfenster und zoomen rein. Februar 2021. 18. bis 23., um genau zu sein.

Am Donnerstag, dem 18. Februar, erlässt Ministerpräsident Daniel Günther die Ausgangssperre für Flensburg ab dem Wochenende aufgrund der drastisch steigenden Inzidenz-Werte und der hohen Quote an Corona-Infektionen mit der hochansteckenden B117-Variante.

Die OB der Stadt Flensburg, Simone Lange, zeigt sich als fürsorgliche Stadtoberin und verspricht Zurückhaltung. Noch am selben Abend spricht sie sich in einer öffentlichen Stadtratssitzung deutlich für das Bauprojekt aus.

O-Ton NDR: „[Am Donnerstagabend] hatte Flensburgs Oberbürgermeisterin noch gesagt, eine Räumung des Waldstückes werde es wegen der Corona-Lage nicht geben. Den Investoren aber rennt die Zeit davon: Vom 01. März an dürfen sie bis Oktober keine Bäume fällen, so steht es im Bundesnaturschutzgesetz.“

Fakten schaffen mit harten Bandagen

Am Freitagmorgen, 19. Februar, sehr früh, es ist noch dunkel, taucht im Bahnhofswald eine kleine Privatarmee aus Security-Mitarbeitern auf, Zeugen sprechen von etwa 90 Mann. Sie stellen in kürzester Zeit mehrere hundert Meter Bauzaun auf und zwei Arbeiter in Baumfällermontur beginnen eilig, mit Kettensägen Baum für Baum einen Ring einzusägen. Anders als eine kontrollierte Fällung, die aufwändiger ist und am rutschigen Abhang kompliziert werden kann, wird mit dem Einschnitt lediglich die Wasserversorgung abgeschnitten, der Baum stirbt den Verdurstungstod.

Auf einem der Bäume sitzt eine minderjährige Aktivistin im Baumhaus. Ein anderes Baumhaus stürzt durch die Arbeiten ein. Es ist zu dem Zeitpunkt glücklicherweise unbesetzt.

Bis die Polizei eintrifft und die Arbeiten stoppen kann, ist der Schaden schon perfekt. Nahezu alle Bäume im geplanten Bauabschnitt sind tödlich verletzt. Den Ordnungsbehörden bleibt zu dem Zeitpunkt nichts anderes übrig, als schiedsrichterlich eine Zwangspause durchzusetzen.

Wer einen Baum ansägt, auf dem sich ein Mensch befindet, riskiert nicht nur seinen Motorsägenschein, sondern auch eine Strafanzeige wegen irgendetwas zwischen gefährlicher Körperverletzung und versuchtem Totschlag. Beim Sturz potenziert sich Gewicht und eine Person im Baumhaus wird einen zerstörerischen Aufprall nach sechs bis acht Metern nur mit sehr viel Glück überleben. Da die Motivation für das rabiate Vorgehen wirtschaftlicher Gewinn ist, sprechen einige von niederen Beweggründen, also versuchtem Mord. Nun ja, überlassen wir das lieber der Justiz.

Jedenfalls ist es neben einer klaren Machtdemonstration übrigens auch logistisch eine bemerkenswerte Leistung der Projektleiter: Die Stadtratssitzung lief bis abends um 23 Uhr 45, bereits morgens um 5 Uhr standen 90 Männer und Frauen der Event- und Securityszene mit ein paar hundert Metern Bauzaun parat, plus zwei professionelle Baumfäller aus dem Nachbarort. Sie saßen vielleicht schon auf Abruf bereit: Nach Monaten des Lockdowns endlich wieder ein Event!

Kleiner Exkurs zu PR und Spins; Lupe raus!

Die Deutsche Hospitality hat zur Räumung einen bemerkenswerten Tweet veröffentlicht:

„Das Vorgehen war mit uns nicht abgestimmt. Die Räumung wird zwischen dem Bauherrn und der Stadt abgestimmt. Es gibt auch keine von uns gesetzte Frist. Wir sind als möglicher zukünftiger Pächter auf den Bauherrn zugegangen und haben um eine schnelle einvernehmliche Lösung gebeten.“ - Deutsche Hospitality, 22. Februar 2021 auf Twitter

Eingebetteter Medieninhalt

Man zeigt sich seitens der wohlmeinenden Investoren offenherzig, wäscht sich die Hände in Unschuld und zeigt volles Verständnis für alle Seiten. Wie total nett! Darüber bin ich derart gestolpert, dass ich das kurz sezieren muss: Es kommt aufs Detail an, auf die Zwischentöne und die Betonung.

1. Dass das Vorgehen nicht „abgestimmt“ war, glaube ich sofort. Ich wäre auch nicht so blöd, ein Fax zu verschicken auf dem steht: „Töte ihn.“ Dafür sucht man sich seine Leute vorher aus und sagt dann: „Kümmer dich drum.“

2. Mit dem Satz „Die Räumung wird zwischen dem Bauherrn und der Stadt abgestimmt“, zeigt man mit dem Finger auf seinen Partner bzw. Handlanger, den Mann fürs Grobe vor Ort. Ablenkung – und eine Warnung: „Sieh zu, dass du das hinkriegst, sonst …“

3. „Es gibt keine von uns gesetzte Frist“ ist richtig, da die Frist vom Bundesnaturschutzgesetz gesetzt wird. Das sagt man aber nicht dazu, sondern verkauft es zum höchstmöglichen Preis: Textergold.

4. „Wir sind als möglicher Partner …“, bedeutet auch, dass man sich eventuell und möglicherweise dazu entscheiden könnte, den Partner und die Stadt mit dem ganzen Klumpatsch allein zu lassen, wenn „eine schnelle einvernehmliche Lösung“ nicht wie gewünscht vom Partner vor Ort erreicht werden kann – heißt im Klartext: vorm 1. März und nicht erst im Oktober. Zweite Warnung, diesmal deutlicher. Verbal ist man übrigens schon lange in der Vergangenheitsform. Für die Formulierung haben sie sich fast einen Tag Zeit genommen!

So wird aus „Wir haben damit NIX zu tun – er war’s! Euer Pech, wenn ihr nicht mitspielt, wie wir das wollen. Viel Spaß beim Aufräumen, Tschüssikowski und Tschö mit Ö!“ ein aalglattgeschliffenes:

„Das Vorgehen war mit uns nicht abgestimmt. Die Räumung wird zwischen dem Bauherrn und der Stadt abgestimmt. Wir sind als möglicher zukünftiger Pächter auf den Bauherrn zugegangen und haben um eine schnelle einvernehmliche Lösung gebeten.“

Das, Damen und Herren und Diverse, ist der Armani-Anzug der Unternehmenskommunikation: ultra-smooth.

Zwei Schritt vor, einen zurück; zwei Schritt vor …

Kommen wir endlich zur Räumung. Wir erinnern uns: Es ist Freitag, 19. Februar, vormittags. Die Bauleiter hatten das Plangebiet absperren lassen, die Bäume wurden in einer gezielten Aktion tödlich angesägt und dabei ein möglicherweise tödlicher Absturz einer minderjährigen Aktivistin riskiert. Die Polizei unterband die Arbeiten vorerst und stellte Beamte als Wachen ab.

Der Himmel ist flensburggrau, für den Abend wird aufkommender Wind angesagt. Die angesägten Bäume drohen unkontrolliert umzustürzen, also muss kontrolliert vollbracht werden, was am Morgen illegal begonnen wurde. Mit einem Kran werden die angesägten Bäume, etwa drei oder vier Dutzend teilweise geschützte Bäume, unter Aufsicht der Polizei zu Fall gebracht und im Ganzen gehäckselt. Das dauert den ganzen Tag. Unmut macht sich unter den Aktivist:innen breit, Stadt und Polizei versuchen zu beschwichtigen.

Allgemeines Verwaltungsgesetz für das Land Schleswig-Holstein (LVwG) § 201; Auszug:

(2) Sprechen Tatsachen dafür, dass eine Person in naher Zukunft in einem bestimmten örtlichen Bereich einer Gemeinde oder benachbarter Gemeinden strafbare Handlungen begehen wird, die Schaden für Leib, Leben oder Freiheit oder gleichgewichtigen Schaden für sonstige Sach- oder Vermögenswerte oder für die Umwelt erwarten lassen, kann ihr, wenn auf andere Weise die Schadensverhütung nicht möglich erscheint, zeitlich befristet verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten (Aufenthaltsverbot).

Ob und wie viele Aufenthaltsverbote die Polizei ausgesprochen hat, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden; der Polizeisprecher mauert.

Der Samstag ist erstaunlich ruhig. Die Sonne scheint, die Arbeiten ruhen, in den Nachrichtenkanälen tauschen sich die Menschen eifrig aus, um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen. Der Bauherr steht öffentlich nicht gut da; noch am Abend zuvor haben GdP und Innenministerin Sütterlin-Waack das Vorgehen mit klaren Worten verurteilt. Man sammelt sich. Auf allen Seiten. Am Abend wird die nächtliche Ausgangssperre auch für die Mahnwache am Bahnhofswald verhängt. Damit wird das Demonstrationsrecht empfindlich eingeschränkt – am Wochenende sind auch Eilgerichte schwer erreichbar. Dies geschieht wieder entgegen vorheriger Absprachen.

Sonntag: Showdown at Highnoon

Am Sonntag, dem 21. Februar, explodieren die Nachrichtenkanäle förmlich: Entgegen der Zusage der Stadt am Donnerstag wird nun doch geräumt. Mitten in der Pandemie, alle Werte in der Stadt stehen auf Rot, es herrschen Kontakt- und nächtliche Ausgangssperre – lassen Stadt und Polizei zwei oder drei Hundertschaften Polizist:innen aus dem ganzen Bundesland zusammenziehen, plus Unterstützung aus Niedersachsen und Hamburg.

Begründung: Verstoß gegen die Corona-Maßnahmen in den Baumhäusern. Drei Leute.

Bei Aktivist:innen und Unterstützer:innen weicht der Unmut dem Zorn: Das stinkt nach machtpolitischem Kalkül, nicht nach gesundheitlicher Fürsorge. Und es offenbart die Lüge.

Gegen Mittag ist der Carlisle-Park am Bahnhofsvorplatz gefüllt mit Demonstrant:innen, ihnen gegenüber stehen etwa 100-150 Polizist:innen, die rund um das Waldstück postiert sind; der Rest ist in der Stadt verstreut oder steht als Ablösung im Hintergrund und bewacht die Einsatzwagen. Der Einsatzleiter gibt den gütigen Onkel, Sprecher der Stadt sind vor Ort, das Ordnungsamt und Demonstrant:innen sind bemüht, das Abstandsgebot im Rahmen der Umstände umzusetzen. Das klappt mal besser, mal schlechter, mal überhaupt nicht.

Kletterpolizisten beginnen den Aufstieg. Es folgt die vermutlich langweiligste Verfolgungsjagd der Filmgeschichte. Sechs Stunden lang werden sich die Baumbesetzer:innen ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Spezialeinheiten im Slow Motion der doppelten Eigensicherung liefern, begleitet von zahlreichem und zunehmend lautem Support am Boden. Die Polizei verhält sich betont zurückhaltend, die Sonne scheint herrlich warm, es herrscht regelrecht Volksfeststimmung im Park.

Von den gut 50 Bäumen, die eigentlich stehen bleiben sollten, soll nun doch der Großteil gefällt werden. Der Bauherr verspricht, eine alte und besonders wertvolle Linde stehen zu lassen, weil dort Fledermäuse nisten. Wenig später ist auch das vom Tisch. Es wird lauter unter den Demonstrant:innen.

Die Polizei erobert Baumhaus für Baumhaus und beginnt mit dem Abriss. Es sind nur noch zwei übrig, als es langsam dunkel wird und die Maßnahmen aus Sicherheitsgründen eingestellt werden. Der Platz leert sich, es wird kühl und die Ausgangssperre rückt näher.

Am Abend brennt ein Firmenwagen des Grundstückeigentümers Duschkewitz. In der Flensburger Innenstadt blockieren Aktivist:innen eine zentrale Kreuzung. Mindestens ein:e Journalist:in vom regionalen Radio wird bei der Arbeit behindert und erhält einen Platzverweis. Die Stimmung schwelt, aber insgesamt bleibt es ruhig; die drohende Geldstrafe der Ausgangssperre wirkt. In der Nacht kreisen Hubschrauber über der Stadt.

Das Ende des Bahnhofswalds

Am Montag stehen erneut Demonstrant:innen bereit um zu retten, was noch zu retten ist und versuchen, den Bauzaun zu stürmen und niederzureißen. Sie werden von der Polizei abgefangen und teilweise äußerst unsanft in Gewahrsam genommen. Es ist ein verzweifelter, symbolischer Akt. Am Abend geben die beiden letzten Baumbesetzer:innen auf. Die Bäume, die sie schützen wollten, stehen nicht mehr. Es gibt keinen Grund, den Polizeieinsatz in der Corona-Zeit unnötig in die Länge zu ziehen. Der Aufwand, der Spritverbrauch und vor allem das Infektionsrisiko überwiegen den Nutzen.

[Hinweis: In der ersten Version stand fälschlicherweise, dass die Baumbesetzer:innen aufgaben, nachdem die Polizei ihnen die Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln abgeschnitten hatte. Das war eine Fehlinterpretation meinerseits. Nach Rücksprache mit den beiden Personen wurde die Darstellung entsprechend korrigiert. Sie wurden nicht ausgehungert, sondern haben nach Abwägung der Lage am Montagabend eine Vernunftsentscheidung getroffen.]

Am Dienstag, dem 23. Februar, fallen die letzten Bäume, der Bereich wird bis zur nackten Erde geräumt. Der Kampf um den Bahnhofswald in Flensburg ist nach fünf Monaten verloren.

Epilog: Eine Frage von Vertrauen

Im Nachklang zweier Diktaturen wurde deutlich, dass „Wehret den Anfängen“ nicht allein bedeutet, gegen den Faschismus zu demonstrieren, sondern jeden Missbrauch institutionalisierter Gewalt im Ansatz zu bekämpfen.

Es ist durchaus glaubhaft, dass weder Stadtverwaltung noch Polizei wussten, was der Bauherr vorhatte. Dennoch macht die zeitliche Nähe doch zumindest misstrauisch. Der Klüngel hat in Flensburg bei Bauprojekten Tradition und es ist allgemein weitverbreitete Tradition, dass Geld lacht und Türen öffnet. Allzu oft wird dabei der Umweltschutz der Wirtschaft geopfert.

Der Kampf gegen den Klimawandel geht Hand in Hand mit dem Kampf gegen Klüngel, Filz und Korruption. Korruption bedeutet nicht nur Geld gegen Gesetz, sondern auch und vor allem korrumpierte Integrität. Es heißt, die meiste Korruption findet auf kommunaler Ebene statt: Man kennt sich. Das muss noch nicht einmal verschwörerisch in dunklen Hinterzimmern abgesprochen sein; es reicht völlig, wenn man sich einig ist und hier und da mal ein Auge zugedrückt wird.

2020 wurden in Schleswig-Holstein 13,3 Hektar Wald illegal gefällt oder gleich komplett gerodet, unter anderem für einen neuen Möbelmarkt in direkter Nähe zu zwei anderen großen Möbelmärkten. Das nördlichste Bundesland ist mit nur 11 Prozent Fläche das waldärmste Land der Republik. Dabei steht durchaus viel Fläche an bereits versiegeltem Boden für Bauwillige und willkommene Investoren zur Verfügung; nur leider manchmal nicht dort, wo man gerne möchte. Also winkt man mit Geld, weckt Begehrlichkeiten und bekommt so eine Extraportion serviert. Ein Traum – wenn man Geld hat; ein anhaltender Albtraum für den Natur- und Klimaschutz. Und die Polizei muss es regelmäßig durchdrücken und auf die falschen draufhauen.

Die Stadt Flensburg hat Ende Februar 2021 zweierlei Eindruck zementiert: Erstens ein „Weiter so“, ungeachtet der Zeichen der Zeit, und ein deutliches Signal an Unternehmer, dass sie auch weiterhin mit Ellenbogenmethoden durchkommen, wenn sie nur genug Geld mitbringen. Zweitens das deutliche Signal an die Bürger:innen, dass ihre Beteiligung nicht erwünscht ist und man auf Pandemie-Maßnahmen herzlich pfeift; mehr noch, sie gar als fadenscheinige Begründung bemüht, wodurch man dreifach Vertrauen einbüßt: Vertrauen in die Stadt, in die Polizei, in die Corona-Maßnahmen.

Wirtschaft vor Gesundheit: Polizei als Treiber der Pandemie?

In den 1970ern und 80ern war es üblich, hochtoxischen Abfall wie Atommüll im Meer zu versenken. Es galt die Faustformel: „The solution to pollution is dilution“, die Lösung für Verschmutzung ist Verdünnung. Bis man später feststellte, dass man den Atommüll dadurch nur verteilte, aber dieser dadurch nicht weniger giftig strahlte.

Mit dem massiven Polizeieinsatz im Februar – spöttische Zungen sprechen von einer illegalen Corona-Party – während in der Stadt die hochinfektiöse Corona-Mutante B117 grassiert, hat die Stadtverwaltung neben den Bürger:innen der Stadt hunderte von Polizist:innen aus drei Bundesländern in einem potenziellen Superspreader-Event einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt und schlimmstenfalls die Mutante in die Heimatregionen der eingesetzten Beamt:innen exportiert.

Die würden allerdings nicht in den Inzidenz-Werten der Stadt Flensburg auftauchen und man hätte das Infektionsgeschehen statistisch verdünnt. Scheinbar elegant, wäre da nicht der Multiplikator in der Gleichung. Wir schielen gespannt auf die Entwicklung der Werte in den nächsten Tagen.

Aus einer Pressemitteilung der Polizei Flensburg, am Montag, dem 22. Februar:

„Die Polizei rechnet damit, dass es im Laufe des Tages zu weiteren demonstrativen Tätigkeiten und Verkehrsbeeinträchtigungen kommen kann. Sie ist darauf eingestellt und wird die friedliche Ausübung des Versammlungsrechtes gewährleisten. Auf die gültigen Coronabestimmungen und die Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln durch die Demonstrierenden wird an dieser Stelle hingewiesen.“

Eine Farce made in Flensburg.

Hinweis: In einer früheren Version hatte ich geschrieben, dass der Besetzung ein zweijähriges Tauziehen im Stadtrat vorangegangen war. Tatsächlich begann der Prozess bereits früher mit eingereichten Vorschlägen. Das ist nicht eindeutig datierbar, da bspw. zwischen mündlichem Vorschlag und dem ersten schriftlichen Vorschlag eine Zeit verging; je nach Auslegung begann der Vorgang bereits vier oder sechs Jahre zuvor. Da es nicht eindeutig festzumachen ist, habe ich es zu „mehrjährig“ umformuliert.

Außerdem wurde ich darauf hingewiesen, dass die Geschlechtsbezeichnung „Dritte“ nicht ganz korrekt ist. Begründung: „Dritte“ subsummiert wieder verschiedene marginalisierte Gruppen unter einem Begriff, während „Diverse“ der Vielfältigkeit nicht-binärer Menschen Rechnung trägt. Das sehe ich ein und habe es entsprechend korrigiert.


Mehr Infos

Deutschlandfunk Kultur vom 18.02.2021: „Corona-Mutante schützt Baumhäuser vor Räumung“

[VIDEO] Schleswig-Holstein-Magazin vom 19.02.2021

Twitter-Kanal: Böömdörp in de Bahnhoffsbööm

Twitter-Kanal: Bahnhofswald bleibt!


Quellen

[VIDEO] Bericht vom NDR zu den Entwicklungen am Bahnhofswald am Freitag 19.02.2021

[VIDEO] Stellungnahme der Innenministerin Sütterlin-Waack vom 19.02.2021

Pressemitteilung der Polizei Flensburg vom 22.02.2021

Stellungnahme von Deutsche Hospitality auf Twitter vom 22.02.2021

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Essner

Flensburger Jung, zweisprachig aufgewachsen, dritter Sohn von Literaten.Karikaturist und freier Redakteur in diversen Publikationen on- und offline.

Timo Essner

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