Im März 2021 wird Pieter Omtzigt nicht ganz unerwartet zum Anstoß einer politischen Kontroverse. Gleich zu Beginn von Koalitionsverhandlungen soll der als unbequem geltende Parlamentarier – er gehört zur Fraktion der christdemokratischen CDA – aus dieser weggelobt werden. „Position von Omtzigt, Funktion anderswo“, steht auf Notizen von Kajsa Ollongren aus der liberalen Partei D’66, später Verteidigungsministerin im Kabinett Rutte IV. Ein Fotograf hat die Bemerkung zufällig abgelichtet. Einem anderen Dokument wiederum ist zu entnehmen, dass der designierte Premier Mark Rutte Omtzigt gar zum Minister machen wollte, nach der Devise: Wer in der Regierung sitzt, schaut dieser weniger genau auf die Finger.
Zweieinhalb Jahre später haben
ter haben sich die Verhältnisse in Den Haag gravierend verändert. Die aus den damaligen Sondierungen entstandene Regierung, die in ihrer kurzen Amtszeit zuletzt auf miserabe Umfragewerte stieß, ist passé. Rutte wird sich nach den Neuwahlen am 22. November aus der Politik verabschieden. Der 49-jährige Omtzigt hingegen, der mittlerweile 20 Jahre im Parlament sitzt, teilte Ende August mit, er gedenke mit einer eigenen Partei bei dieser Abstimmung anzutreten. Umfragen bescheinigten seinem „Nieuw Sociaal Contract“ (NSC) daraufhin, er könne aus dem Stand zur stärksten Partei werden. „Ein politischer Erdrutsch?“ – fragen niederländische Medien.Abgesehen davon, dass sich einmal mehr eine senkrecht startende Protestpartei anschickt, von einer grassierenden Politikverdrossenheit zu profitieren, verdient auch das persönliche Format der Akteure Beachtung. Je mehr der aalglatte Rutte auch durch seinen kreativen Umgang mit der Wahrheit abgewirtschaftet hat, desto stärker wird Omtzigt als verbindlicher, auf Integrität bedachter Volksvertreter nun zum Maß vieler Dinge in Den Haag. Einst verband beide das Mitte-rechts-Projekt der marktliberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (Ruttes VVD) und Omtzigts christdemokratischem CDA. Nach den Koalitionsrunden von 2021 wurden sie zu Kontrahenten und bewegten sich in verschiedene Richtungen. Mark Rutte versuchte, einer überkommenen Parteienallianz zu Regierungszwecken nochmals Leben einzuhauchen. Pieter Omtzigt, der in den Augen vieler eine Art Gegenentwurf verkörperte, verließ nach internem Streit und Burn-out-Symptomen die christdemokratische Partei. Er verblieb danach als Ein-Mann-Fraktion in der Haager „Tweede Kamer“.Pieter Omtzigt kanalisiert sozialen Unmut, ohne dabei nach rechts zu blinkenSeinem Selbstverständnis entsprach das durchaus, der studierte Ökonom und bekennende Katholik aus der Großstadt Enschede wollte lieber Einzelkämpfer sein, als sich korrumpieren zu lassen. Omtzigt war einer der Abgeordneten, denen es zu verdanken war, dass die lange schwelende Affäre über Kinderzuschläge aufgedeckt wurde. Finanzämter hatten Tausende, vorzugsweise migrantische Kindergeldempfänger ungerechtfertigt des Sozialbetrugs bezichtigt und horrende Summen zurückgefordert. Omtzigt fühlte sein Gerechtigkeitsempfinden verletzt, wie es ihm die katholische Soziallehre vermittelt hatte.Was seine neue Partei programmatisch will, ist noch nicht vollends ersichtlich. Zunächst soll die Reputation des demokratischen Systems nicht weiterem Verfall preisgegeben sein. Omtzigt drängt auf mehr Selbstbewusstsein des Parlaments gegenüber der Regierung, wenn Gesetzesvorhaben energischer auf ihre Verfassungstreue geprüft werden. Der zugleich reklamierte Reformbedarf trifft den Nerv der Bevölkerung, unabhängig davon, wie die sich politisch sortiert.Aus der Verfassung leitet Omtzigt auch das Kernthema seines Wahlkampfes ab: Existenzsicherheit für alle. Dies sei eine „grundgesetzliche Aufgabe aller Abgeordneten“. Sie gelte für das Thema Bildungschancen, einen sozialen Wohnungsmarkt, bezahlbare und gesunde Nahrungsmittel sowie erschwingliche Energiepreise. In damit verbundenen Grundbedürfnissen spiegelten sich „einfach die Nöte der Gesellschaft“, so Omtzigt jüngst in einem Interview für die Tageszeitung Trouw. Dabei nach seinem Wertekanon befragt, bezeichnete sich Omtzigt als „konservativ“, als kritisch gegenüber Individualismus und Neoliberalismus.Logistisch kommt auf das Projekt „Neuer Gesellschaftsvertrag“ nun die Aufgabe zu, innerhalb weniger Wochen kampagnenfähig zu sein und die Frage zu beantworten, ob man im Interesse eines nachhaltigen Aufbaus im ganzen Land antreten sollte. Andererseits dürfte eine allzu spärliche Präsenz die einmal geweckten Hoffnungen enttäuschen. Dass diese sich auf Omtzigt konzentrieren, ist weniger überraschend, als es von außen scheinen mag. Er spricht jene an, die sich von etablierter Politik und „Den Haag“ abwenden, räumt wachsender sozialer Verunsicherung Priorität ein und propagiert glaubwürdige Verbesserungen, ohne aus den inkriminierten Zuständen – und das ist nach Jahrzehnten der marktliberalen Obsession nachvollziehbar – linke Schlüsse zu ziehen. Dass Omtzigt schwelenden Unmut kanalisiert, ohne die völkisch-nationalistische Stimmgabel zu bemühen, das ist ein Aspekt, auf den man anderswo mit Neid blicken dürfte.