Es sind hektische Zeiten in Den Haag. Da bricht die Regierung zusammen, weil die Partei von Premier Mark Rutte darauf drängt, bei Migranten den Familiennachzug zu kappen. Das Ziel: weniger Asylbewerber im Land. Kurz darauf wirft Rutte das Handtuch und will nach bald 13 Jahren im Amt die Politik verlassen. Er war die Konstante zwischen latenter Anspannung und Ambivalenz in einem Land häufiger Regierungswechsel. Ruttes Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) mit ihren Prioritäten Marktprimat, Austerität und Migrationsskepsis verkörperte für viele Wähler das, was sie wollten.
Es gibt gute Gründe, den Bruch der Koalition ebenso zu begrüßen wie Ruttes fälligen Abschied. Die Parteienallianz, in gleicher Konstellation schon in der vorang
der vorangegangenen Legislaturperiode am Ruder, hinterlässt einen von Skandalen heimgesuchten Politikbetrieb. Man erinnert sich zudem der kalten Gleichgültigkeit gegenüber Menschen in Groningen, die sich in ihren Häusern nicht mehr sicher fühlten nach zahlreichen durch Gasförderung ausgelösten Erdbeben. Finanzämter bezichtigten jahrelang Tausende von Kindergeldempfängern ungerechtfertigt des Sozialbetrugs. Es wurden horrende Summen zurückgefordert und Betroffene ins Elend gestürzt.Es fehlen 300.000 SozialwohnungenWomit die Bilanz der Rutte-Zeit keineswegs komplett ist. In mancher Kommune warten Menschen Jahrzehnte auf eine Sozialwohnung, landesweit fehlen gut 300.000 Unterkünfte. Die auf dem Markt verfügbaren sind häufig unbezahlbar. Es gibt 220.000 arbeitende Arme, und im Vorjahr wuchs die Zahl derer, die ihre Lebensmittel von Tafeln beziehen, um ein Drittel. Rutte hatte für diese Missstände stets ein Lächeln im Repertoire, wenn es Selfies mit Passanten gab, oder den gereckten Daumen, wenn es in den Wahlkampf ging.In Europa kannte man seine Regierungen als Teil der austeritätsversessenen Achse Berlin-Den Haag, die zu Zeiten der Eurokrise Großschuldner wie Griechenland, Portugal oder Irland das Fürchten lehrte. Während der Coronapandemie exponierte sich Rutte als Apostel der Sparsamkeit, um hart getroffenen südlichen Mitgliedsstaaten das Recht auf EU-Hilfsgelder zu bestreiten. Zuletzt galt er als erklärter Anwalt eines Flüchtlingsdeals mit der autoritären tunesischen Regierung, die ihr Land als Auffangbecken für Migranten aus dem subsaharischen Afrika bereithalten sollte.Der Aufstieg der Partei BauernBürgerBewegung In den Niederlanden spielte Rutte eine ambivalente Rolle. Als Chef der rechtsliberalen Partei VVD verschaffte er einem Establishment Geltung, gegen das eine populistische Rechte jederzeit vom Leder ziehen konnte, auch wenn sich deren Auffassungen – wie der freie Fall der Regierungskoalition zeigt – längst in der VVD etabliert haben. Über die Jahre fiel Rutte wiederholt damit auf, seine Klientel mit verbaler Kraftmeierei zufriedenzustellen.Wie die Wahlergebnisse seit 2010 zeigten, durchaus mit Erfolg. Insofern richten die jüngsten Ereignisse den Blick auf sich daraus ergebende Konsequenzen. Dass womöglich große Veränderungen anstehen, zeigte schon das fulminante Fiasko der Koalitionsparteien bei den Provinzwahlen im Frühjahr, wovon die konservative Protestpartei BauernBürgerBewegung profitierte. Ruttes Abgang bestätigt diesen Trend.Ein auf die Migrationsfrage fixierter Wahlkampf zeichnet sich ab, der den öffentlichen Diskurs noch weiter nach rechts verlagert. Linken Parteien dürfte es schwerfallen, sich dagegen zu stemmen.