J'accuse! Mich, Euch, Millionen. Ein Appell gegen Tee-Geschenk-Sets

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J'accuse. Ich klage an: mich, Euch, Millionen andere. Alle, die sich schuldig gemacht haben, immer wieder, Jahr für Jahr. Ich appelliere an jene, die Teil dieses Perpetuum mobile des schlechten Geschmacks und der Sinnlosigkeit sind. Haltet ein, es ist diesmal noch nicht zu spät! Lasst uns Schluss machen damit, wir müssen nur den Mut haben, bei uns selbst anzufangen: Keine Tee-Geschenk-Sets mehr! Nie wieder!

Brauner Candis an rissigen Holzstäbchen, in Zellophan eingewickelt und an unansehnliche Tassen gepappt, auf denen hässlich-weißes Porzellan mit japanischen Bambus-Motiven eine jedes Augenlicht beleidigende Affäre eingehen. Teemischungen aus der Küche des Teufels, getrockenes Unkraut als Beimengung, unverkäufliche Blattreste mit Weihnachtsaroma, grüner Tee mit Ananas, Roibusch mit Karamel, zusammengehalten von schrundigem Geschenkeband. Und natürlich wissen wir insgeheim alle, dass die Schmutzreste in den Falten der grellbunt bemalten Päckchen und Säckchen kein christkindlicher Sternenstaub sind, sondern uns sich hier die Patina des Dauergeschenks offenbart – irgendwann in den neunziger Jahren in letzter Minute in Sylvie‘s Präsente-Eck‘chen erstanden, mit aufgesetztem Lächeln entgegengenommen und sogleich weit nach hinten in den Schrank verbannt, um dort ein Jahr später gegen die Plage der eigenen Ideenlosigkeit wieder hervorgekramt zu werden: „Tante Ilse trinkt doch auch gern mal einen Tee. Und hier, guck mal, ist sogar mit Wintergeschmack und Löffelchen.“

Nein, es ist kein Spaß. Die Lage ist ernst. Es geht, wenn man so will, ums Ganze. Wankende Banken, kriselnde Währungen, tumbe Politiker – all das ist nichts gegen den verheerenden Virus des Tee-Geschenk-Sets. Ja, das System selbst steht auf dem Spiel. „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warenansammlung“, schrieb ein gewisser Karl Marx, der damals allerdings noch nicht wissen konnte, wie richtig er mit seiner Formulierung einmal liegen würde: ungeheure Ansammlung. Genau. Zauber in der Tee-Kanne! Erblüh-Tee Geschenkset! Teaposy Tee-Geschenkset "Charme" mit Teekrug, Tasse, 3 Teeblumen und 2 Teebeuteln! Display-Karton "Estelle" mit Schwarztee, herausnehmbaren Innenfach und Golddekor! Teetraum mit Melisse! Tee & Schnaps "Daniela"! Teestrauß- "Charlotte"! Und natürlich: Bücher, Bücher, Bücher. Wie man Tee kocht. Wie man Tee richtig kocht. Woran man beim richtigen Teekochen sonst noch denken muss. Tee-Schenken leicht gemacht. Und so fort.

Und die Wirtschaft, ohne die wir nichts wären? Ist das Tee-Geschenk-Set nicht der Inbegriff der angekurbelten Binnennachfrage? Mitnichten. Keine starke D-Mark und kein Kriseneuro sind in den vergangenen Jahren je für ein Geschenke-Set mit original Jasmin-Chai, Kandiskugeln und Aromasirup ausgegeben worden. All die Hoffnungen in die Jahre kommender Frauen, der Unterdrückung durch den Scheißgatten per Eröffnung einer kleinen Boutique für Tee-Geschenk-Sets zu entfliehen, bauten auf einer Illusion: dass der Krempel tatsächlich gekauft wird. Dabei ist die einzige und alleinige Distributionsweise für Tee-Souvenirs und anverwandte Grausamkeiten das Weiterverschenken. Reihenweise scheitern Sylvie‘s auf das Präsente-Eck‘chen gegründeten Hoffnungen vor dem Insolvenzgericht. Und wer ist Schuld? Wir. Die heimlichen Weiterverschenker, die selbst Opfer eines Teufelskreises, um nicht zu sagen: Teekränzchens sind, das wir nur gemeinsam zerschlagen können. Schon dieses Jahr, noch ist es nicht zu spät! Zwei Tage bleiben.

Wissenschaftler des Präsentewesens vermögen uns zu zeigen, worum es geht. Auch in diesem Jahr wird mit ungeliebten Weihnachtsgeschenken im Wert von 707,2 Millionen Euro gerechnet. Eine Summe, mit der sich Banken retten ließen, die nicht ins Tee-Geschäft verstrickt sind. Viel Geld, mit dem man auch den Bundespräsidenten von der Maschsee-Mafia freikaufen könnte. Siebenhundertsiebenmillionen. Und wieviel davon sind Tee-Geschenk-Sets? Wir müssen handeln. Bald. Gleich. Jetzt. Wir sind noch nicht viele, aber auch nicht mehr wenige. 13 Prozent zählt der Zug der Aufrechten, der Mutigen die nicht länger abwarten und Tee trinken wollen, die bereit sind zu sagen: Wir haben weitergeschenkt.

Es ist ein Anfang. Unser Weg ist noch weit. Schließt Euch an. Reiht Euch ein! Keine Tee-Geschenke mehr. No paseran!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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