Sozialdemokratische Katharsis

Im Schlachthof Am ersten Tag ihres Dresdner Parteitags ist die SPD um Selbstreinigung bemüht. Nach viel Symbolik und Theater erhält die neue Spitze einen Vertrauensvorschuss

Es war gleich nach der Rede von Sigmar Gabriel, da konnte man über den Livestream vom SPD-Parteitag die Erleichterung auf dem Präsidium ganz deutlich hören: „Wir ziehen das jetzt durch, die Stimmung ist grad gut“, sagte da einer in den anhaltenden Beifall hinein, ein Mikrofon noch halb offen. Gemeint waren die anstehenden Wahlen der Generalsekretärin und Vizevorsitzenden, die man trotz vorgerückter Stunde nun doch noch am Freitagabend über die Bühne bringen wollte. Gabriel hatte mit seinem Auftritt den Parteitag gedreht, und alle sollten davon profitieren. Etwas besseres als „ehrliche Wahlergebnisse“ schien wieder möglich.

Zuvor hatte eine stundenlange Aussprache den Seelenzustand der SPD offenbart. Was jahrelang offenbar nicht für möglich gehalten wurde, das brach sich nun Bahn: Abrechnung mit dem „Zentralismus“ der Parteispitze, Appelle zur programmatischen Umkehr, Kritik der Anbiederung an den „marktradikalen Mainstream“. Diese fünf Stunden Debatte waren so etwas wie die Bilanz einer gescheiterten Partei: Man habe in den vergangenen Jahren „20 Wahlen verloren, 50 Prozent der Wähler und ein Drittel der Parteimitglieder“, fasste Ralf Stegner zusammen, was in Dresden ohnehin alle wussten. Und jeder durfte es nun aussprechen. Auch wenn schon Dutzende Redner zuvor das selbe gesagt haben, wieder und wieder. Ein Festival der sozialdemokratischen Katharsis.

Klaviatur der Emotionen

Gabriels Versöhnungsrede war dann der Höhepunkt einer rituellen Reinigung. Nicht so sehr die Zukunftsentwürfe waren es, welche die Delegierten im alten Dresdner Schlachthof begeisterten, sondern die Abgrenzung nach Schwarz-Gelb und die einigende Symbolik: Vergangenheit, Geschlossenheit, Herkunft, das wahre Leben, die echten Leute, raus zu den Menschen, die Partei als Werkstatt. Die Delegierten dankten es mit 94,2 Prozent, ein Vertrauensvorschuss. Wie sehr Gabriel die Klaviatur der Emotionen beherrscht, zeigte er nach Bekanntgabe des Ergebnisses: Demut im Angesicht des anhaltenden Beifalls und eine Umarmung von Kurt Beck, den Gabriels Vorgänger noch aus dem Amt gejagt hatten. Die vielleicht größte Geste an diesem Abend, der es nicht an solcherlei politischer Theatralik mangelte.

Dazu gehörte auch, dass Klaus Wowereit und Andrea Nahles ihre Herkunft aus Arbeiterfamilien betonten. Für die einstige Sprecherin der Parteilinken reichte es trotzdem „nur“ für knapp 70 Prozent als Generalsekretärin. In diesem Wahlergebnis wirkten noch jene „alten“ Konflikte nach, deren Austragung die SPD noch vor sich hat. Die Stellvertreter - Wowereit, Manuela Schwesig, Hannelore Kraft, Olaf Scholz - bekamen 85 Prozent und mehr. Gabriel hatte zuvor eigens darum gebeten: Die Delegierten sollten bei den Wahlen bloß nicht wieder ins Rechts-Links-Flügel-Schema verfallen und es, wenn es denn sein muss, lieber an ihm auslassen.

Die Genossen sind gut beraten, ihrem Vorsitzenden in dieser Frage nicht zu folgen. Wenn die SPD eines braucht, dann sind es starke Flügel. Franz Walter, Parteienkenner und Sozialdemokrat, hat gerade erst daran erinnert: Besonders vital, interessant und kreativ war die SPD immer dann, wenn sie über lebendige Flügel verfügte. Der Niedergang der Sozialdemokraten bei den Bundestagswahlen ist nicht das Ergebnis von zu viel innerparteilichem Konflikt. Sondern von zu wenig.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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