Politik am Fluss

Literatur Es ist bitter nötig, dass wir uns mehr für Geografie interessieren. Tim Marshall hilft dabei
Ausgabe 42/2021

Es ist schon etwas seltsam, dass Geopolitik hierzulande allenfalls dann eine Rolle spielt, wenn etwa die Linkspartei sich im Wahlkampf zur NATO „bekennen“ soll. Da kommt es gelegen, dass der britische Journalist Tim Marshall Geopolitik besonders anschaulich erklären kann. In seinem Bestseller von 2015, Die Macht der Geographie, beschrieb er anhand von zehn Landkarten, was die Geschichte der großen Weltmächte und -regionen mit den Bergen, Flüssen und Meeren zu tun hat. Überraschend viel. Der Folgeband widmet nun ebenso viele Karten und Kapitel den gegenwärtigen globalen Konfliktzonen. Marshall: „Wenn es um Außenpolitik und Verteidigung geht, darf man nicht fragen, was ein Land tun will, sondern wozu es fähig ist; und das wird häufig von der Geographie bestimmt.“

Den Anfang macht passenderweise Australien, das gerade für großen Unmut in der NATO sorgte, weil es angesichts der chinesischen Vormachtstellung im Indopazifik Verträge mit Frankreich über die Lieferung von U-Booten annullierte, um stattdessen lieber Nuklearantriebe für eigene U-Boote aus den USA zu beziehen. Auf der Karte könnte man nun gut erkennen, wie Australien sich geografisch „gefangen zwischen den beiden stärksten Nationen unserer Zeit: den Vereinigten Staaten und China“ befindet – wenn nur der Bildausschnitt groß genug gewählt wäre, wobei dann auch sichtbar würde, dass Australien etwa dreimal so nah an China liegt wie an den USA.

Freilich sehr gut einsehen kann man auf der Australienkarte etwa, warum mehr als 170 Jahre nach dem Versuch des Brandenburgers Ludwig Leichhardt, die gigantische britische Gefängnisinsel mit sieben Männern und siebzig Tieren von Ost nach West zu durchqueren, noch immer keinerlei Überreste der verschollenen Expedition zu finden sind. Ungleich kürzer ist die Strecke von Australiens Nordküste zu den Nachbarn Indonesien und Papua-Neuguinea, die die exotische Position eines westlichen Landes inmitten einer Sphäre verdeutlichen, in der Chinas Macht und Einfluss stetig größer wird. Eine Pointe von Marshalls Buch besteht darin, dass er die Konflikte der Zukunft gerade nicht mehr als Frontstellung zweier Supermächte illustriert. Neben dem Indopazifik rücken folglich auch die Konflikte zwischen Iran und Saudi-Arabien, in der afrikanischen Sahelzone sowie – für viele vielleicht überraschend – zwischen Griechenland und der Türkei in den Fokus. Während etwa der schiitische Iran seine immense regionale Macht vor allem dem Umstand verdankt, dass er wegen seiner Berge nahezu uneinnehmbar ist, steht das sunnitische Saudi-Arabien vor dem Problem, angesichts zunehmend sinkender Nachfrage nach seinem Erdöl weiterhin das größte Land der Erde zu sein, das keinen einzigen Fluss besitzt.

Im östlichen Mittelmeer gehen unterdessen die Konflikte zwischen der Türkei und Griechenland weniger um Süß- als um Salzwasser und die in ihnen liegenden Inseln und Gasfelder.

Brexit! Katalonien!

Und was die NATO bei ihrem Beistandspakt im Angriffsfall nicht wirklich bedacht hat, ist der Fall, dass zwei NATO-Mitglieder einander angreifen könnten. In der einst zwischen Sahara und Savanne mit dem Lineal gezogenen Sahelzone schließlich – vor allem im besonders von islamistischem Terror getroffenen Mali, einer der auch vom Klimawandel am stärksten betroffenen Regionen der Erde, verbrennen sich derzeit illustre Westmächte, darunter Deutschland, gehörig die Finger. Dazu passen auch die Kapitel, die Marshall den ehemaligen Kolonialreichen Großbritannien (Brexit, Schottlandfrage!) und Spanien (Katalonien!) – sowie einer künftigen Kolonialsphäre, dem Weltraum – widmet.

Stilistisch bewegt sich das Buch zwischen brillant umrissenen Konstellationen und erstaunlichen Anekdoten. Manches klingt zu ausführlich nach Wikipedia-Chronik. Am Ende stärkt es doch das Gefühl, über die Macht der Geographie in den gegenwärtig und künftig die Welt bewegenden Konflikten bestens – und bitter nötig – informiert zu werden.

Info

Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert. 10 Karten erklären die Politik von heute und die Krisen der Zukunft Tim Marshall Lutz Wolff (Übers.) dtv 2021, 416 S., 24 €

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