Der Sizilianer Leonardo Sciascia (1921 – 1989) war ein großer Schriftsteller, weil er ein unermüdlicher Leser war. Und er wuchs in eine Atmosphäre aus Intrigen, Macht- und Ränkespielen hinein, die nur verstand, wer zwischen den Zeilen der Ereignisse zu lesen gewillt war. Wie konnte es angesichts einer Insel, die ihre relative Unabhängigkeit durch für Außenstehende schwer dechiffrierbare Kommunikation bewahrte, auch anders sein?
Die Affäre Moro ist gewissermaßen Sciascias Probe auf die Stimmigkeit seines Œuvres als Kriminalschriftsteller, sein Schlüsselwerk. Seit den 1950ern schrieb er Romane und Erzählungen, die die italienische Gegenwart und Vergangenheit, die Verquickungen zwischen Mafia, Kirche und Staat untersuchten. Mit der am 16. März 1978 erfolgten Geiselnahme des Vorsitzenden der größten Partei Democrazia Cristiana, der knapp zwei Monate später erschossen in einem Kofferraum in der römischen Altstadt aufgefunden wird, bietet sich ein Plot in Echtzeit an, an dem Sciascia die Qualität seines literarischen Ingeniums beweisen kann. Und dass umso mehr, als es hier um eine Wegscheide der italienischen Nachkriegsgeschichte geht.
Unstrittig ist, dass Aldo Moro von der linksextremistischen Terror-Organisation der Brigate Rosse gekidnappt, gefangen gehalten und erschossen wurde. Unstrittig ist auch, dass dies geschah, nachdem er der in der Wählergunst nur unwesentlich schwächeren Kommunistischen Partei die Zusammenarbeit in der Regierung angeboten hatte. Und unstrittig ist drittens, dass diese Offerte sowohl bei vielen Parteigranden als auch bei den USA, für die Italien eine Art Südamerika in Europa darstellte – strategisch überaus wichtig, politisch sehr volatil –, mindestens für Skepsis, wenn nicht für Entsetzen sorgte. Aus dem unlängst auch in Deutschland auf arteausgestrahlten hochspekulativen Mehrteiler Und draußen die Nacht von Marco Bellocchio kann man als Quelle von Moros Handeln dessen Anliegen ersehen, Italien als katholische Nation zu einen. Sein Katholizismus hingegen unterschied ihn vom jesuitischen Scharfsinn seines parteiinternen Gegenspielers Giulio Andreotti, der sich eher Balthasar Graciáns berühmtes Handorakel zum Vorbild nahm: Gelegentlich muss man täuschen, Böses tun, wenn man das Gute will.
Diskreditierung des Inhaftierten
Dass Moros Tötung auf Andreotti, damals italienischer Ministerpräsident, zurückgeht, weil er den Wunsch der Brigate Rosse nach Verhandlungen ausschlug, ist heute die Überzeugung eines jeden historisch halbwegs gebildeten Italieners. Sciascias Buch hat dazu entscheidend beigetragen. Es liest nicht nur die Chronik der Ereignisse, sondern auch die in der Tagespresse veröffentlichten Briefe der Protagonisten als Versuch einer zunehmenden Diskreditierung des Inhaftierten, dessen Tod die letzte Konsequenz der Vernichtung seiner bürgerlichen Integrität ist. Schuldig sind letztlich jene, die die Hand nicht am Abzug der Pistole halten.
Stärker als in der Serie ist Aldo Moro bei Sciascia ein doppelsinniger Parteiführer, einer, der verquast redet, so dass alles, aber auch sein Gegenteil, gemeint sein könnte. In diese Falle seines eigenen Wesens tappt er letztlich. Die indirekte, unklare Kommunikation ist der Humus, auf dem das Verbrechen gedeiht. Die Klarheit von Moros letzten Worten berührte Autor und Leser darum sichtlich.
Mit Anleihen bei Jorge Luis Borges verfasste Sciascia zugleich eine Tragödie und ein blutiges Königsspiel. Damit auch deutschsprachige Leser Detektiv sein können, gibt es in dieser von Monika Lustig neu übersetzten Ausgabe einen klugen Essay von Fabio Stassi als Nachwort.
Die Affaire Moro Leonardo Sciascia Monika Lustig (Übers.), mit einem Nachwort von Fabio Stassi, Edition Converso 2023, 240 S., 24 €
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