Die Beisetzung auf dem Waldfriedhof Dahlem am 23. März
Foto: Christian Ender/Imago Images
Die kleine Besuchergruppe steht eng um Susan Pollock herum, der der Novembersturm an diesem Tag die englischen Worte von den Lippen weht. Das Gelände vor der Zentralbibliothek der Freien Universität Berlin (FU) ist fast menschenleer an diesem grauen Morgen. Er passt zu der Geschichte, die die Archäologin zu erzählen hat.
Im Rahmen von Bauarbeiten wurden im Juli 2014 im ehemaligen Garten des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWIA), dessen menschenverachtende Forschung in der Zeit des Nationalsozialismus gut dokumentiert ist, menschliche Knochen gefunden. Diese gelangten zwar in die Rechtsmedizin der Charité, wurden aber ohne weitergehende Analysen im Krematorium Ruhleben eingeäschert.
Im Auftrag der FU stießen
r FU stießen die archäologischen Expert:innen 2015 auf zwei weitere Gruben, in denen sich menschliche und tierische Knochen befanden. Die 16.000 Fragmente stammen zweifelsfrei aus dem KWIA und können mindestens 54, möglicherweise auch viel mehr Menschen zugeordnet werden.Jahrelang schwelte ein wissenschaftlicher Streit darüber, ob die Überreste aus einer dem KWIA Ende der 1920er Jahre überlassenen anthropologischen Sammlung kolonialen Ursprungs stammen oder es sich um „Wissenschaftsgaben“ des Arztes Josef Mengele aus dem KZ Auschwitz handelt. Dieser hatte zumindest Humanpräparate wie Augäpfel, Blutproben und Skelett-Teile an das KWIA in Dahlem versandt. Als sicher gilt, dass das Institut in seiner Auflösungsphase 1945 die Knochen, wahrscheinlich in Säcken, im Garten entsorgte. In Übereinstimmung mit den Opferverbänden wurden sie im März dieses Jahres ohne weitere genetische Untersuchungen, die Hinweise auf die Herkunft der Personen hätten geben können, im Rahmen einer nicht religiösen Zeremonie auf dem Waldfriedhof Dahlem beigesetzt.Ein Ort des MachtmissbrauchsDoch der erinnerungspolitische Umgang der FU und der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) als Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit den „Dahlemer Knochen“ stößt bis heute auf Kritik. Das gilt insbesondere für die Nutzung des Gebäudes, in dem das KWIA bis 1945 residierte, und in dem heute das Otto-Suhr-Institut untergebracht ist. Bislang erinnert nur eine Gedenktafel an die dort verübten verbrecherischen medizinischen Forschungen.„Dies ist der Ort, an dem der Machtmissbrauch eine wissenschaftliche Heimat gefunden hat. Ich rufe die FU auf, das gesamte Gebäude zu einem Denkmal zu machen und den Garten zum nationalen Friedhof zu erklären“, fordert Rabbi Joseph Polak nachdrücklich, als sich die Besuchergruppe im Harnack-Haus, dem Gästehaus der MPG ein paar Schritte weiter, zusammenfindet. Die neben ihm sitzende Vizepräsidentin der FU, Verena Blechinger-Talcott, fühlt sich sichtlich unwohl. Die MPG, hört man, hat bislang gerade einmal 20.000 Euro für die Realisierung einer Ausstellung bereitgestellt. Der Direktor des MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften, Arno Villringer, runzelt peinlich berührt die Stirn.Denn hier sitzt keine x-beliebige Gruppe, sondern die internationale Kommission, die für den Lancet – wohlgemerkt ehrenamtlich im Rahmen des Geschäftsmodells der renommierten britischen Medizinzeitschrift – zwei Jahre lang die Fakten zur Medizin im Nationalsozialismus komprimiert und die Folgerungen für das künftige medizinische Lernen erarbeitet hat. Der Bericht soll später am Tag an der Charité vorgestellt werden. In Shmuel Reis von der Hebrew University of Jerusalem, dem Co-Vorsitzenden der Kommission, findet Polak an diesem Vormittag einen energischen Unterstützer. Eine einschlägig damit befasste Historiker:innen-Gruppe fordert schon lange, das Haus zu einem Ort nicht nur des Gedenkens, sondern auch des Lernens zu machen. Die Geschichte der 16.000 Knochenfragmente dürfte also nicht begraben sein, sondern noch ein längeres Nachspiel haben.Auch an der Charité, wo der Bericht später in der historischen Hörsaalruine präsentiert wird, gibt es Orte der Erinnerung an das „dunkle Kapitel“ medizinischer Forschung. Über das Robert-Koch-Institut spricht dessen neuer Chef, Lars Schaade, der einräumt, dass „es viele Jahrzehnte gedauert hat, bis die schändliche Rolle des Instituts während des Nationalsozialismus kritisch beleuchtet wurde“. Er erinnert an die Pädiaterin Lucie Adelsberger, die trotz eines Harvard-Rufs 1938 als „Krankenheilerin“ in Berlin blieb, nachdem die Nazis jüdische Mediziner:innen aus ihrem Beruf vertrieben hatten. Noch nach ihrer Deportation nach Auschwitz arbeitete sie als Häftlingsärztin im „Zigeunerlager“ und Frauenlager Birkenau.Als Mitglied der 20-köpfigen Lancet-Kommission zitierte die Historikerin Carola Sachse in ihrer Begrüßung Jona Laks. Sie hatte als Überlebende der „Mengele-Zwillinge“, die der KZ-Arzt für seine Forschungen selektiert hatte, 2001 stellvertretend die Entschuldigung des damaligen MPG-Präsidenten Hubert Markl mit den Worten entgegengenommen: „Wir bitten Sie, sich an das zu erinnern, was Sie aufklären und dann vielleicht vergessen wollen. Wir werden uns auf jeden Fall erinnern. Werden Sie auf jeden Fall vergessen?“Der erste Teil des 50-seitigen Berichts, der nach dem Willen des Lancet-Herausgebers Richard Horton der globalen „allgegenwärtigen Unwissenheit“ entgegentreten und „die Rolle der Medizin beim größten Verbrechen der Menschheit“ auf den Lehrplan des medizinischen Nachwuchses heben soll, folgt diesem Erinnerungsauftrag. Der von dem Wiener Medizinhistoriker Herwig Czech präsentierte Überblick zeigt, wie die im Gesundheitswesen Tätigen und Forschende ihre Patienten im Namen von Rasse und Eugenik ausgrenzten, zwangssterilisierten, verbrecherische Experimente an ihnen verübten oder sie in den Heilanstalten ermordeten. Gleichzeitig geben die Autor:innen den Opfern ein Gesicht und erinnern an diejenigen, die trotz widrigster Bedingungen ihrem medizinischen Auftrag treu blieben und Hilfe leisteten.Es sei zwar verlockend, so Mitverfasserin Sabine Hildebrandt vom Boston Children’s Hospital, die Täter als unbegreifliche Monster zu betrachten, doch zeige der Bericht, dass viele Angehörige der Gesundheitsberufe unter bestimmten Bedingungen bereit waren, ethische Übertretungen und Verbrechen an ihren Patienten zu begehen. Dabei beleuchten die interdisziplinär forschenden Wissenschaftler:innen auch die begünstigenden Faktoren. Wissenschaftlicher Ehrgeiz, eine Medizin im Dienst des „Volkskörpers“ und nicht zuletzt ökonomische Erwägungen bereiteten den Boden für die späteren Verbrechen in der medizinischen Forschung und Praxis.Klage gegen Triage-UrteilMenschenrechte und das individuelle Recht auf Unversehrtheit blieben dabei auf der Strecke. Diese seien aber unverbrüchliche Werte einer humanen Medizin und Garant für die Verhütung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine Roadmap stellt vor, wie diese Lehren in Ausbildung und medizinischer Ethik verankert werden können. Ein Spektrum heutiger Debatten – etwa die Auseinandersetzung darum, wer im Katastrophenfall versorgt wird, der Umgang mit Menschen am Lebensende oder die pränatale Auslese am Lebensbeginn – zeige, wie Medizin und Wissenschaft mit Politik, Ökonomie und persönlichen Überzeugungen verknüpft sind, mit weitreichenden Folgen, so Medizinhistoriker Czech. Aktuell klagt der Marburger Bund gegen ein Triage-Urteil, das die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung verhindern soll.Dass der Krieg in Nahost auch in einer solchen internationalen Forschergruppe Verwerfungen auszulösen imstande ist, ließ sich erahnen beim Statement des Vertreters der Israel Medical Association, Zion Hagay, der sich ohne jeden Hinweis auf die humanitären Verhältnisse in Gaza über die Hamas echauffierte. Die Vertreter:innen der deutschen Standesorganisationen und Forschungseinrichtungen indessen nahmen den Auftrag pflichtschuldig an, enthusiastisch wie die Ethikratsvorsitzende Alena Buyx oder geschäftsmäßig routiniert wie Bundesärztekammer-Chef Klaus Reinhardt. Arno Villringer dagegen, in dessen Institut noch Forschungen über die in der NS-Zeit durchgeführten Hirnschnitte laufen, entwarf einen genauen Plan dafür, wie die aus dem Bericht resultierenden Aufgaben bei der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses umzusetzen seien.Anders die FU. Das Magazin campus.leben, in dem über den Besuch der Kommission berichtet wird, unterschlägt jedenfalls die wichtigste Botschaft des Gremiums: das Gelände zu einem Ort des Lernens zu machen. Denn weder eine schlecht alimentierte Ausstellung noch ein Museum können leisten, worum es eigentlich geht: künftige Generationen in den Gesundheitsberufen und in den Biowissenschaften aufzuklären und sich, wie Shmuel Reis es formulierte, „der Gefahren des Machtmissbrauchs, die unserem Beruf innewohnen, bewusst zu werden“.
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