Liberalitas Bavariae

Fortschritt Tessa Ganserer ist die erste transsexuelle Abgeordnete in Deutschland. Besser gesagt in Bayern. Wie ergeht es ihr?
Ausgabe 04/2019
Die Abgeordnete Tessa Ganserer von den Grünen
Die Abgeordnete Tessa Ganserer von den Grünen

Foto: Christof Stache/AFP/Getty Images

Ja, auch am 13. Dezember 2018 ging die Sonne wieder auf. Das Abendland war nicht untergegangen und die Welt drehte sich weiter, obwohl der Bundestag am Tag zuvor beschlossen hatte, das Personenstandsrecht zu ändern und neben „männlich“ und „weiblich“ auch „divers“ als Option für intersexuelle Menschen zuzulassen. Aber machen wir uns nichts vor, Geschlecht ist nach wie vor ein grundlegendes kulturelles Ordnungsmuster, das uns prägt. Ein kulturelles, wohlgemerkt, kein biologisches.

Ebendas erfährt dieser Tage die erste transsexuelle Abgeordnete in Deutschland, besser noch, in Bayern. In der letzten Legislaturperiode erschien Tessa Ganserer von den bayrischen Grünen noch als Markus, als solcher war sie auch gewählt worden. Doch dann entschied sie, ihre geschlechtliche Doppelexistenz endgültig zu beenden, denn lange fühlt sie sich innerlich als Frau. Mit langmähnig-blonder Perücke, großen Ohrringen und Lippenstift nahm sie unter regem Medieninteresse ihre Arbeit auf, unter anderem als queerpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Für sie sei der Umgang mit ihr der Lackmustest für die Liberalitas Bavariae.

In den höheren Regierungsetagen sorgt sie jedenfalls für heilsame Verwirrung. Als der bayrische Innenminister Joachim Herrmann der neuen „Frau Ganserer“ auf einem Eisenbahnempfang erstmals begegnete, so ist einem Bericht in der Süddeutschen Zeitung zu entnehmen, sprach er sie mit „Herr Ganserer“ an und wollte nach ihrer freundlichen Korrektur am liebsten im Erdboden versinken. Die von einem FDP-Kollegen fälschlich gewählte Bezeichnung „Dragqueen“ wies Ganserer ebenso zurück wie Fragen nach einer operativen Geschlechtsumwandlung.

Seien wir ehrlich, ein bisschen können wir uns in den offenbar überrumpelten Minister und den launig gestimmten FDP-Mann doch hineinversetzen. Wie würden wir in einem solchen Fall reagieren, außerhalb von Christopher Street Day und Subkultur? Doch es ist ein Zeichen kultureller Öffnung, dass eine Abgeordnete wie Tessa Ganserer heute nicht mehr fürchten muss, politisch exkommuniziert zu werden, trotz AfD und selbst in Bayern.

Die Geschlechterwelt ist eben vielschichtiger als das binäre System der Informatik. Das jedenfalls ist die Erfahrung der Programmiererin Audrey Tang, die 2016 zur ersten transsexuellen Ministerin Asiens ernannt wurde. Aber bis „postgender“, wie sie sich nennt, den deutschen Bewusstseinsraum durchdringt, braucht es noch viele Ganserers.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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