In Georg von Grotes Megablog
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taucht mehrmals die Frage auf, ob es nicht nur ein israelisches/jüdisches Trauma, sondern auch ein spezifisch deutsches Trauma als Folge des "Dritten Reichs" und der von Deutschland begangenen Verbrechen gibt.
Obwohl ich alles andere als ein Experte für Traumata u.dgl. bin, gehe ich davon aus, dass die Ereignisse der Nazizeit in der Tat traumatische Auswirkungen in weiten Teilen der Bevölkerung hinterlassen hat.
Derzeit lese ich u.a. das Buch "Das Ende" des britischen Historikers Ian Kershaw. Wie alle seine Bücher über die Hitlerei ist auch dieses äusserst lesenswert. Ich stelle hier einen Auszug aus dem Buch ein. Die darin enthaltene Aufzeichnung über das Schicksal des Theologiestudenten Robert Limper ist so aufrüttelnd, dass ich meine, nicht nur dessen Tod, sondern Tausende vergleichbarer Vorgänge, die Zerstörung der Städte, die Fronterlebnisse der Soldaten müssen Traumata in der Volkspsyche hinterlassen haben.
Der Auszug:
Mittwoch, 18. April 1945: Amerikanische Truppen stehen vor den
Toren von Ansbach, dem Mittelpunkt des bayerischen Regierungsbezirks
Mittelfranken. Der Kreisleiter der NSDAP ist in der Nacht
geflohen, die meisten deutschen Soldaten sind nach Süden verlegt
worden, und die Einwohner sind seit Tagen in Luftschutzkellern
untergebracht. Jeder rationale Gedanke rät zu Kapitulation. Doch
der Kampfkommandant der Stadt, Dr. Ernst Meyer, ein 50-jähriger
Oberst der Luftwaffe, der in Physik promoviert hat, ist ein fanatischer
Nationalsozialist, der darauf besteht, bis zum Ende zu kämpfen. Der
19-jährige Theologiestudent Robert Limpert, der kriegsuntauglich
ist, beschließt zu handeln, um zu verhindern, dass seine Stadt in einer
sinnlosen Schlacht bis zum letzten Atemzug zerstört wird.
Einen Monat zuvor hatte Limpert miterlebt, wie die schöne Stadt
Würzburg von alliierten Bomben völlig verwüstet worden war. Das
hatte ihn zu dem gefährlichen Wagnis veranlasst, Anfang April Flugblätter
zu verteilen, in denen er dafür plädierte, Ansbach mit seinen
immer noch unversehrten malerischen Barock- und Rokokobauten
kampflos zu übergeben. Jetzt geht er ein noch größeres Risiko ein. An
diesem schönen Frühlingstag trennt er vormittags gegen 11 Uhr die
Telefondrähte durch, die, wie er glaubt, den Gefechtsstand des Kommandanten
mit der Wehrmachtseinheit vor der Stadt verbinden – ein
allerdings vergeblicher Sabotageversuch, da der Gefechtsstand, was er
nicht weiß, gerade umgezogen ist. Zwei Hitlerjungen beobachten ihn
dabei. Sie melden, was sie gesehen haben, der Polizeiwache im Rathaus,
und dort nimmt man sich sogleich der Sache an. Ein Polizist wird zu
Limperts Wohnung geschickt, wo er entdeckt, dass der junge Mann
eine Pistole und belastendes Material besitzt, und verhaftet ihn.
Die Ortspolizei meldet die Verhaftung dem Leiter der noch verbliebenen
Zivilverwaltung in Ansbach, welcher den Kampfkommandanten
anruft, der sich gerade nicht in der Stadt aufhält. Wie nicht
anders zu erwarten, empört sich der Kommandant über den Vorfall,
eilt zur Polizeiwache und setzt sogleich ein Standgericht ein, das aus
dem Kommandanten der Schutzpolizei, dessen Stellvertreter und
dem Meldegänger des Kommandanten besteht. Nach einem »Prozess
«, der eine Farce ist und nicht länger als ein paar Minuten dauert
und bei dem der Angeklagte sich nicht verteidigen darf, verkündet
der Kommandant das Todesurteil, das auf der Stelle zu vollstrecken
sei.
Als man Limpert am Tor des Rathauses eine Schlinge um den Hals
legt, gelingt es ihm, sich loszureißen und das Weite zu suchen, aber
nach hundert Metern erreichen ihn die Polizisten, treten ihn, ziehen
ihn an den Haaren und schleppen den Schreienden zurück. Keiner
aus der Menschenmenge, die sich versammelt hat, rührt einen Finger,
um ihm zu helfen. Von einigen wird er vielmehr ebenfalls geschlagen
und getreten. Auch jetzt ist sein Elend noch nicht vorüber. Wieder
wird ihm die Schlinge um den Hals gelegt, und er wird gehängt.
Doch der Strick reißt, und er fällt auf das Pflaster. Erneut wird ihm
die Schlinge um den Hals gelegt, und schließlich zieht man ihn auf
dem Rathausplatz hoch, bis er stirbt. Der Kommandant befiehlt, die
Leiche hängen zu lassen, bis sie »stinke«. Kurz darauf requiriert er
offenbar ein Fahrrad und flieht sogleich aus der Stadt. Vier Stunden
später marschieren die Amerikaner in Ansbach ein, ohne dass ein
Schuss abgefeuert wird, und schneiden den Leichnam von Robert
Limpert vom Strick herunter.1
Wie diese grausige Episode zeigt, funktionierte das NS-Regime mit
seiner terroristischen Repression bis zum Schluss. Doch es ging dabei
nicht nur darum, dass der fanatische NS-Kampfkommandant, der
Oberst der Luftwaffe Dr. Meyer, rücksichtslos einen vermeintlichen
Verräter und Saboteur erledigte, dass ein Vertreter des Regimes mit
roher Gewalt seinen Willen durchsetzte. Selbst im Angesicht eines
derartigen Fanatismus hätten die Polizisten, denen bewusst war, dass
die Amerikaner in Kürze in die Stadt einmarschieren würden, tätig
werden können, um sich künftige Schwierigkeiten mit der Besatzungsmacht
zu ersparen, indem sie die Verhaftung und das Verhör
Limperts in die Länge zogen. Stattdessen entschieden sie sich dafür,
sich an ihre Vorschriften zu halten und so zügig wie möglich ihre
Pflicht zu erfüllen, so wie sie sie auffassten, und auch weiterhin als
untergeordnete Hüter eines Rechts zu fungieren, das – so hatten sie
es zu diesem Zeitpunkt, wie sie später behaupteten, gesehen – jetzt
nicht mehr war als der Ausdruck des eigenmächtigen Willens des
Kommandanten.
Gleiches ließe sich für den Leiter der örtlichen Zivilverwaltung
sagen. Auch er hätte seine Erfahrung und seine Kenntnis von dem
unmittelbar bevorstehenden Ende der Kampfhandlungen dazu benutzen
können, das Verfahren in die Länge zu ziehen. Stattdessen tat er,
was er konnte, um den Ablauf zu beschleunigen und mit dem Kommandanten
zu kooperieren. Die Einwohner der Stadt, die den Weg auf
den Rathausplatz gefunden hatten und sahen, wie Limpert flüchtete,
hätten ihm an diesem Punkt zu Hilfe eilen können. Stattdessen unterstützten
einige von ihnen sogar die Polizei darin, den sich wehrenden
jungen Mann wieder an seinen Hinrichtungsort zu schleppen. Demnach
war es unter diesen extremen Umständen und in diesen letzten
Augenblicken des Krieges auf allen Ebenen, jedenfalls was Ansbach
anging, so, dass diejenigen, welche Macht ausübten, nach wie vor im
Interesse des Regimes arbeiteten – und dass es ihnen dabei nicht an
Unterstützung durch die Öffentlichkeit mangelte.
Vorfälle, die so erschütternd waren wie dieser, bei denen Einwohner
den Versuch unternahmen, eine nutzlose Zerstörung in letzter Minute
zu verhindern, und dabei brutale Vergeltung erfuhren, während
andere immer noch bereit waren, die Funktionäre des Regimes bei
ihrer Repression zu unterstützen, waren in diesen letzten Phasen des
schrecklichsten Krieges in der Geschichte keine Seltenheit. Dutzende
anderer Fälle ließen sich als Illustration dafür anführen, dass der Terror
des Regimes auch weiterhin funktionierte und sich jetzt, in den letzten
Monaten des Konflikts, gegen die eigenen Bürger ebenso richtete wie
gegen ausländische Arbeiter, Häftlinge, Juden und andere, die es schon
seit Langem als Feinde betrachtete.
www.randomhouse.de/content/edition/excerpts/297669.pdf
Beim Lesen dieses Vorgangs empfand ich tiefe Scham über das gnadenlose Vorgehen in den letzten Stunden vor der Einnahme Ansbachs durch die Amerikaner.
Zum Thema "Deutsches Trauma" noch ein Link:
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