Fremde Klänge aus einem großen Land

Musik aus Russland #1 Die Musikreihe soll zeigen: Jenseits von Popsa, Balalaika und Tschaikowski gibt es jede Menge unterschiedliche Musikrichtungen in Russland.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Оле Лукойе (Ole Lukkoye) ist eine dreiköpfige Band aus St. Petersburg, denen man alles vorwerfen kann, nur eines nicht: Massentaugliche Musik zu veröffentlichen. Weit fernab des Popsa (abwertend in Russland für süßliche, verweichlichte und angepasste Popkultur) haben sie ihre Wurzeln im Underground der 80er Jahre. Die Richtung ihrer Musik ist schwer zu beschreiben. Space Rock auf Urlaub in Tuva (eine an der Mongolei angrenzende Region im Osten Russlands. Einige ihrer Lieder sind auf Russisch, einige auf Tuvinisch (eine der vielen Turksprachen). Sucht man nach Berichten über Ole Lukkoye, findet man recht merkwürdige Beschreibungen: Von steppenden Bären und halluzinierenden Tataren. Die beiden Gründungsmitglieder Boris Bardasch und Andrei Lawrinenko holten sich die Anregungen durch einen langen Aufenthalt in Tuva selbst.

Im Jahre 2003 sah ich Ole Lukkoye einmal live in der Kulturbrauerei in Berlin. Damals hatten sie eine Musikerin aus Tuwa dabei, die so eine Art kleines Didgeridoo spielte und dem orientalisch-sibirischem Klangteppich eine derart magische Note gab, daß die wenigen Zuschauer allesamt von der Musik hingerissen wurden. Einen kleinen Eindruck mag ein Konzert aus dem Jahre 2015 in St. Petersburg geben.

Der Bandname stammt von der Märchengestalt Ole Lukøje, die Hans-Christian Andersen als Volkssagengestalt des Sandmanns in seinen Märchen verarbeitet hat. Lukøje kann man mit Augenschließer übersetzen. Ein passender Name für die Gruppe, die seit 2000 von dem Keyboarder der Krautrockgruppe Faust Hans Joachim Irmler produziert wird. Mir selbst fiel die CD Toomze als Erstes auf, da ihre erste CD Zapara zeitgleich mit der Toomze erst 1996 im Westen erschienen ist.

Ole Lukkoye ist ein guter Einstieg, um sich bewußt zu machen, russische Musik bedeutet nicht nur Balalaika, Popsa oder Klassik.


In Moskau gegründet wurde die Band Ят-Ха (Yat-Kha). 1991 fanden der Sänger und Gitarrist Albert Kuvesin und der Avantgarde-Musiker Ivan Sokolovski zusammen. Letzterer verließ die Band 1993 wieder und Kuvesin holte sich immer wieder wechselnde Musiker in die Band. Der Name Yat-Kha ist dem Namen der mongolischen Wölbbrettzither entlehnt. Die Band begann als Mix elektronischer Musik mit Folklore aus Tuva: Shaman (1993) und Tundra (remasterte Veröffentlichung 1995), ohne Sokolovski wurde der Stil von Yat-Kha zunächst rockiger Yenisei Punk (1995, komplette CD) und nahm auch zeitweise Punk-Elemente auf. Sehr dichte Songs finden sich auf der 2003 veröffentlichten tuva.rock. Anspieltipps: Come Along und tuva.rock. Wem es nach einer mongolischen Ballade in Form eines Duetts dürstet, dem sei dieser ruhige Song anempfohlen: Amby Baryp

Albert Kuvesin ist Gründungsmitglied der Gruppe Huun-Huur-Tu, stieg aber bereits nach der ersten CD 60 Horses in My Herd (1993) aus, um mit Yat-Kha rockigere Musik machen zu können. Einige Aufnahmen im TV-Studio und während eines Konzertes zeigen Kuvesins Bandbreite sehr gut: Radio-Sendung, live, und hier beachte man den Vladimir Vysozklj-Aufkleber auf Kuvesins Gitarre...

2005 erschien eine CD namens Re-Covers, von der ich mal das Gerücht gehört habe, Kuvesin sei in Ungarn sein gesamtes Equipment geklaut worden und er habe deshalb auf die Schnelle eine CD mit Coverversionen aufgenommen. Bestätigt fand ich dieses Gerücht nie. Vier Lieder aus dieser CD:

Black Magic Woman (Peter Green/Fleetwood Mac, eines der größten Hits von Carlos Santana)
When The Levee Breaks (Led Zeppelin, eigentlich im Original von Memphis Minnie aus dem Jahre 1929)
In A Gadda Da Vida (Iron Butterfly)
Love Will Tear Us Apart (Joy Division)

Play On Fire von den Rolling Stones sowie Exodus von Bob Marley waren auf die Schnelle im Netz nicht auffindbar, Exodus ist aber in diesem herausragenden Livekonzert in veränderter Version enthalten.


Coverversionen ist auch das Thema der dritten Band Бони НЕМ (Boney NEM). Natürlich ist der Bandname eine Verballhornung der in der Sowjetunion ähnlich wie Modern Talking enorm populären Popgruppe Boney M. Ein wenig erinnert Boney NEM an Tom Angelripper, denn diese Metalgruppe covert fast nur Pop- und Rocksongs. Frei nach Campino von den Toten Hosen, die Musikrichtung sei nur die Frage nach der Geschwindigkeit.

Dem Kopf der Band Kirill Nemoljajev kam 1993 die Idee, all die Popsongs, die aus dem Westen importiert wurden und im Radio und auf Partys bis zum Erbrechen immer wieder gespielt wurden, durch den Grindcore und Death-Metal-Fleischwolf zu drehen. Ich selbst hatte in der zweiten Hälfte der 80er die Erfahrung gemacht, auf Partys muß man nur Simple Minds, U2, Talking Heads, Herbert Grönemeyer und Marius Müller-Westernhagen mitnehmen, um 90% der Wünsche zu befriedigen. Als ich 1999 neben dem SWR arbeiten mußte, berichteten sie mir stolz, sie würden 300 Lieder haben, mit denen sie rund um die Uhr die Hörer beschallen würden. Andere Sender hätten nur 50 Songs, die der Computer per Zufallsgenerator ausspuckt. Ein Wunder der Marketingumfragen, die die breite Welt der Musik auf ganz wenige Songs reduziert.

Wenn die Verantwortlichen sagen, das Publikum will eh nicht mehr Songs hören, so muß ich dem aus eigener leidvoller Erfahrung zustimmen. In Hamburg trieb es der Moderator Oliver Pscherer am 19. Juli 1999 bei Radio Mix 95.0 auf die Spitze, verbarrikadierte sich im Studio und spielte 4 Stunden lang nur No Milk Today und Dancing Queen in Dauerschleife. Kirill Nemoljajev kam 1993 auf eine andere Idee und brachte zunächst zwei CDs mit dem Titel "Melodien und Rhythmen aus dem Ausland" heraus, die mir das Leben immer mal wieder erträglicher machten. "We Are The World, We Are The Children" lief auf einem Berliner Radiosender in der Boney NEM-Version. Ein musikalischer Gruß an den grad stattfindenden Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin... Nemoljajevs Protest hatte eher mit dem Aufkommen des russischen Popsa und dem Import der immer gleichen Musik zu tun. Während der Sowjetunion konnte man nicht alles spielen, nach dem Zusammenbruch kann man alles spielen und die Leute wollen immer die gleiche Musik. Bad time for musicians - frei abgewandelt nach einem Dead Kennedy-Albumtitel.

Kirill Nemoljajev ist nebenberuflich Radiomoderator gewesen, hauptberuflich war er Ballett-Tänzer, bis er 1998 aufgrund seiner langen Haare aus dem Theater entlassen wurde, was vielleicht auch damit zu tun hat, er war Co-Autor des ironischen Lehrbuches "Hysterie der UdSSR" - ein Werk über die Geschichte der Sowjetunion.

Es gibt wahnsinnig viele Coverversionen von Boney NEM, da mag jeder seine eigene Auswahl treffen. Daher nur ein kleiner Auszug der schönsten romantischen Lieder. Natürlich mit dem von mir meistgehaßten Song der Musikgeschichte - dem überflüssigsten One-Hit Wonder "Words":

Daddy Cool (Boney M.)
Words (F.R. Davids)
Felicitas (Al Bano & Ramona)
I Just Called To Say I Love You (Stevie Wonder)
It's My Life (Dr. Alban)
Voyage, Voyage (Desireless)
Strangers In The Night (Bert Kaempfert - Beddy-Bye (1966) - das Original war ein Instrumental)
You're My Heart, You're My Soul (Modern Talking)
Nothing Else Matters (Metallica)
We Are The World, We Are The Children (USA for Africa, Benefizkonzert mit verschiedenen Interpreten)
Fantasy (Earth, Wind & Fire)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden