Jailhouse Rock

Revolution in Belarus V Lukashenkas Machtapparat schlägt zurück - täglich gibt es neue Meldungen von Verhaftungen und Gerichtsurteilen in Belarus.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

"Couldn't help but make me feel ashamed to live in a land where justice is a game"
Bob Dylan, Hurricane, 1975

Nachdem die OSCE-Vertreterin für Medienfreiheit Teresa Ribeiro am 17. Mai die willkürlichen Verhaftungen einiger Journalisten bedauerte, wurde das Statement nur einen Tag später von den aktuellen Ereignissen überholt. Die Seite des Nachrichtenportals Tut.by wurde abgeschaltet und viele leitende Mitarbeiter und Redakteure wurden verhaftet, was Ribeiro dazu zwang, sich einen Tag nach ihrer Meldung erneut mit aktuellen Entwicklungen in Belarus zu beschäftigen.

"Die heutigen Entwicklungen rund um Tut.by, eines der bekanntesten
unabhängigen Medienportale in Belarus, und seine Journalisten unterstreichen
erneut die äußerst alarmierende Situation in Bezug auf Medienfreiheit,
Zugang zu Informationen und Sicherheit von Journalisten im Land"
OSZE-Vertreterin für Medienfreiheit, Teresa Ribeiro, 18. Mai 2021

Tut.by hatte 3.3 Millionen Nutzer und somit einen überragenden Anteil als Nachrichtenportal für das Internetpublikum. Am Morgen des 18. Mai begannen Durchsuchungen in den Büros sowie in einigen Privatwohnungen von Mitarbeitern. Die Chefredakteurin Marina Zolotova wurde nach Angaben ihres Ehemannes in das provisorische Internierungslager in der Akrestsin Straße gebracht.

Offensichtlich war die Redaktion auf Repressalien des Staates vorbereitet, denn eine Kopie der Seite erschien umgehend. Auf sozialen Medien wie Facebook, Twitter, VKontakte, Instagram und Telegram ist Tut.by weiterhin erreichbar.

In den letzten Wochen berichtete das Nachrichtenportal täglich über zum Teil absurde Urteile:

Am 13. Mai wurde der Schlagzeuger Alyaksei Sanchuk zu 6 Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilt. Die Urteilsbegründung ist absurd. Er wurde beschuldigt, den Bürgern aus Belarus mit seinem Schlagzeug das rhythmische Klatschen beigebracht und zur Teilnahme an Massenveranstaltungen animiert zu haben. Das Klatschen störe den Frieden der Bürger, so urteilte das Gericht.

Am 18. Mai wurde der mittlerweile pensionierte Gewerkschaftsführer Siarhei Gurlo wegen Beleidigung von Ordnungshütern zur Zahlung von 2000 bearusischen Rubel und 1,5 Jahren "Chemie" verurteilt. Chemie war der gebräuchliche Name für Zwangsarbeit in der UdSSR. Die Strafe wird in einer offenen Justizvollzugsanstalt einer Strafkolonie verbüßt. Der Name rührt daher, die Verurteilten wurden oft in gesundheitsgefährdende Betriebe eingesetzt.

Am 14. Mai erhielt der Rentner Anatoly Petrov drei Jahre "Chemie" für das Bewerfen von Polizisten mit Sand. Für ein Bild (ein Herz, eine geballte Faust und ein „Victoria“-Schild) auf einer Transformatorkasten gab es für den 37-jährigen Dmitry Taratun drei Jahre „Chemie“, die 23-jährige Diana Kazak erhielt anderthalb Jahre "Heimchemie“.

Anfang Mai wurde eine Frau für das Tragen von roten und weißen Socken zu einer Geldstrafe von 2320 Rubel (770 Euro) verurteilt, schon im November gab es absurde Urteile für das Singen belarusischer Lieder von Lavon Volski (Mroja, N.R.M., Krambambula) und Siarhei Mikhalok (Lyapis Trubezkoy, Brutto) in der Schule. Die Schüler erhielten Schulverweise nach dem Artikel 23.34 (Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung). Da Minderjährige nach belarusischem Recht strafrechtlich nicht belangt werden können, gab es wegen nicht ordnungsgemäßer Erfüllung elterlicher Pflichten Anzeigen und Verurteilungen für die Eltern.

Am 17. April verkündeten der belarusische KGB und der russische FSB, ein geplantes Attentat auf Lukaschenka vereitelt zu haben. Dem Politologen Alexander Feduta und zwei weiteren Männern wird vorgeworfen, zusammen mit dem Geheimdienst der USA einen Umsturz in Belarus geplant zu haben. Im belarusischen Staatsfernsehen war sogar die Rede einer Invasion aus Litauen. Belege für diese Räuberpistole gab es nicht, dafür wurde am gleichen Tag ein neues Dekret veröffentlicht, sollte dem Präsidenten etwas zustoßen, falle die Staatsgewalt in die Hände des belarussischen Sicherheitsrates - ein Dekret, welches die Verfassung von Belarus verletzt. Es fällt nicht in die Zuständigkeit des Präsidenten, seine Nachfolge zu regeln.

Am 14. Mai unterzeichnete der Präsident Lukashenka die "Gesetze zur Verhinderung der Rehabilitation des Nationalsozialismus und zur Bekämpfung des Extremismus", die zum Teil am gleichen Tag gültig wurden, zum Teil in einem Monat in Kraft treten werden. Die Verbreitung absichtlich falscher Informationen über die politische, wirtschaftliche, soziale, militärische oder internationale Situation in Belarus sowie Beleidigung eines Regierungsvertreters sind nun ebenso strafbar wie extremistische Symbole. Die Formulierung, Symbole und Attribute, die "zum Zweck der Durchführung extremistischer Aktivitäten oder ihrer Propaganda verwendet werden", deutet darauf hin, die weiß-rot-weiße Flagge, die von 1991 bis 1995 die Nationalfarben von Belarus waren und unter der Lukashenka seinen ersten Amtseid als Präsident ablegte, ist mit dem neuen Gesetz verboten.

Was vordergründig als Gesetz gegen den Nationalsozialismus daherkommt, dürfte somit als Waffe zur Bekämpfung der Opposition eingesetzt werden. Die Herrschenden definieren, was nationalsozialistisch und extremistisch ist. Die Schließung des Internetportals Tut.by wegen angeblicher Hinterziehung von Steuern und Veröffentlichung verbotener Informationen dürfte nur ein weiterer Schritt sein.

Eigentlich schien Lukashenka den Machtkampf gegen sein Volk gewonnen zu haben. Die Ereignisse der vergangenen Wochen zeigen eine neue Seite des Präsidenten. Sein Verhalten wirkt nervös bis paranoid. Keine guten Aussichten für die Menschen in Belarus, die zudem eine wirtschaftliche Talfahrt zu verkraften haben, die deutlich stärker ausfällt als die anderer von Covid gebeutelten Staaten.

Vielleicht hilft das St. Elisabeth-Kloster in Minsk mit den jüngst veröffentlichten Photos zum 9. Mai. Nonnen in Garnisonsmützen als Vorkämpferinnen gegen den Faschismus...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden