Frieden gibt es, wenn der Angriff endet

Lviv im Krieg #2 Während Kyiv täglich von russischen Drohnen und Raketen angegriffen wird, scheint in Lviv das Leben normal weiterzugehen. Die Straßenmusiker hört man in den Straßen. Auf dem zweiten Blick und in den Gesprächen ist der Krieg allgegenwärtig.

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Den ersten unvergesslichen Eindruck erhält man schon auf der langen Busfahrt, der dank einer 24stündigen Reise und einem mehrstündigen Aufenthalt an der polnisch-ukrainischen Grenze sehr zäh verläuft. Für die Kontrolle eines Reisebusses werden 30-40 Minuten benötigt. 10-25 Busse in der Warteschlage sind keine Seltenheit.

Da bleibt genügend Zeit, sich mit der Sitznachbarin ausführlich zu unterhalten. Die junge Frau neben mir hatte ihre Mutter in Dortmund besucht, sie selbst träumt vom Medizinstudium. Wer in der Ukraine den Beruf eines Arztes anstrebt, dem sind andere Dinge als Geld wichtig. In Lviv verdient ein Kellner in der Innenstadt mehr Geld als ein Arzt.

Eines der immer wiederkehrenden Gesprächsthemen ist der Morgen des 24. Februar 2022, der das Leben so vieler Menschen verändert hat. Ich hatte die Nacht vor dem Computer verbracht, um die Ereignisse zu verfolgen. Meine Begleiterin ebenso. Ihr Vater wollte den Beginn des Krieges nicht wahrhaben. Morgens um 5 sah er die Familie, wie sie aus dem gewohnten Alltag herausgerissen wurde. Folgender Dialog entstand:

- Vater, der Krieg hat begonnen.
- Kind, erzähl keinen Blödsinn und leg Dich wieder schlafen.

Der Krieg wurde in ihrem Heimatort schnell sichtbar. Morgens um 9 Uhr nahm der Vater die neue Realität zur Kenntnis und versuchte sich an der männlichen Vaterrolle. Schon am Mittag wurde der Ort von russischen und belarusischen (!!) Soldaten besetzt. Ihr Wohnort sollte in den kommenden Monaten weltweite Berühmtheit erlangen: Bucha. Aus der näheren Nachbarschaft wurde ein älteres Ehepaar von russischen Soldaten erschossen, ein weiterer Nachbar fiel bei der Verteidigung des Flughafens in Hostomel. Nach 10 Tagen entschloß sich die Familie zur Flucht. Die Mutter zog nach Dortmund, die Tochter und ihr Vater kehrten nach der Befreiung von Bucha zurück. Sie hatten Glück. Ihre Wohnung war nicht wie viele andere vermint oder beschädigt.

Während die Welt über russische Kriegsverbrechen sprach, ging der Alltag in Bucha weiter. Den Bürgern der Stadt ist es bis heute nicht erlaubt, die umliegenden Wälder zu betreten. Überall warten von russischen Soldaten hinterlegte Minen und Sprengfallen. Es lauerte noch eine weitere Gefahr, von der ich bislang noch nie etwas gehört hatte. Im August wurde die Frau von einem Sniper beschossen. Sie spürte den Luftzug der Gewehrkugel, die um Zentimeter ihren Nacken verfehlt hat. Ihre Erklärung war, nicht alle russischen Soldaten hätten die Region um Kyiv verlassen. Sie würden sich in umliegenden Wäldern oder in den Häusern geflüchteter oder ermordeter Bewohner von Bucha verstecken und von Zeit zu Zeit die Bevölkerung terrorisieren. Solche Überfälle habe es in Bucha bis September 2022 gegeben.

In Lviv befragte ich einen Offizier, der unter anderem in Hostomel g3kämpft hatte. Er sagte, es wäre ebenso denkbar, diese Sniper wären von Russland bezahlte und in der Ukraine lebende Bürger. Aus Vinnytsya hatte ich von einem Ehepaar gehört, die im Sommer 2021 eine Wohnung in der Innenstadt vermieten wollten. Zwei Russen wollten diese Wohnung um jeden Preis mieten, doch die Ehefrau, die diese Wohnung vermieten wollte, weigerte sich, die Wohnung an Russen zu vermieten. Einige Wochen später erhielt sie Besuch vom ukrainischen Geheimdienst SBU.

Diese Berichte von Ukrainern decken sich mit den Berichten aus den Anfangstagen, als Zeichen auf die Straßen gemalt wurden, die als Wegmarken und Hinweise für die vorrückende russische Armee dienen sollten. Erinnert man sich an die V1 und V2-Angriffe auf London während des 2. Weltkriegs, dann erahnt man eine weitere Aufgabe solcher Agenten auf feindlichem Gebiet: Übermittlung von Zielkoordinaten und nach dem Angriff das Versenden von Bildern mit den Einschlägen. Aus diesem Grund liest man immer wieder Nachrichten von Verhaftungen nach einem Angriff. Trotz Verbotes werden von Bürgern immer wieder Photos gemacht.

Der Krieg ist auf unterschiedliche Arten auch in Lviv erkennbar. Selten sieht man verwundete oder versehrte Soldaten in der Stadt. Vor dem Rathaus steht oft ein Schild mit einem Bild eines gefallenen Soldaten und ein paar Zeilen über seine Herkunft. Der Krieg bleibt nicht anonym und wird öffentlich gemacht. Am 31. Mai fanden in der Peter & Paul-Kathedrale zwei Beerdigungen statt.

Letztes Jahr führte ich ein Interview mit dem Soldaten Max Turko, der damals in der Region Kharkiv kämpfte. Ihn traf ich das erste Mal persönlich. Mittlerweile ist er aus dem Militärdienst ausgeschieden und arbeitet wieder als Programmierer. Für seine Einheit sammelt er immer wieder für unterschiedliche Zwecke. Einerseits werden medizinische Hilfsgüter benötigt, andererseits aber auch Nachtsichtgeräte. In Deutschland sind kaum noch Nachtsichtgeräte erhältlich. Mittlerweile erfolgt der Einkauf in den USA, um dann auf verschlungenen Wegen in die Ukraine gebracht zu werden. Der Transport an die Front zu der Einheit ist kein Problem. Die Verbindungen zwischen deen Menschen im Land haben sich in den vergangenen zehn Jahren so stark vertieft, man findet innerhalb weniger Stunden freiwillige Boten. Für Deutsche ungewohnt ist es, Max Turko hat bei seinen Spendensammlungen nie ein Problem, die benötigte Geldsumme zu erhalten. Knapp zwei Tage 10000 Dollar für ein benötigtes Fahrzeug bezeichnete er nicht als Problem.

Max kämpfte lange vor Kharkiv. Auch wenn sich dort die Stellungen nicht veränderten, so fand dennoch ein intensiver Kampf mit Artillerie, Mörsern und Minenwerfern statt. Da die russischen Truppen vom russischen Gebiet aus auf ukrqinische Einheiten geschossen haben, fand natürlich schon letztes Jahr ein Beschuss auf das russische Staatsgebiet statt. Rote Linien gibts in einem Krieg nicht mehr. Dafür wurde die Genfer Konvention geschaffen, die Regeln für die Kriegsführung aufstellt. Vom Recht des Angreifers, sein Staatsgebiet möge vom Krieg verschont bleiben, ist dort nichts verzeichnet. Max Turko wurde im März 2022 seiner Einheit zugeteilt und erlebte somit nicht mehr die Phase der Flucht der russischen Truppen, die allein vor Kharkiv Waffen und Munition im Wert von etwa einer Millarde Euro zurückließen.

Nach Kharkiv kämpfte Max noch in Bakhmut und war am Ende zur Verteidigung von Sumy eingesetzt. Er zeigte mir Photos von seiner Unterkunft zwischen Kramatorsk und Bakhmut, in der er mit einigen Kameraden in seiner Zeit im Donbas lebte. Er zeigte mir die Photos von der Privatwohnung, die er den Besitzern geschickt hatte, kurz bevor sie nach Sumy versetzt wurden. Die Familie ist vor dem Krieg nach Zakarpatia geflücchtet. Es gibt bei weitem mehr Flüchtlinge, die im Land geblieben sind und sich auf sichere Regionen verteilt haben, als Flüchtlinge, die das Land verlassen haben. In den Wohnungen Geflüchteter ziehen mit Erlaubnis der Bewohner Soldaten ein. Eine dezentrale Unterkunft von Soldaten ist notwendig, da Gemeinschaftsunterkünfte in Schulen ein viel zu lohnenswertes Ziel darfstellen würde. Auf den Photos ist erkennbar, die Familie könnte in eine aufgeräumte Wohnung zurückkehren. Kein Teil fehlt. Lediglich die vielen Magnetsticker, mit denen ukrainische Familien gerne ihre Kühlschränke verzieren und an denen man erkennen kann, welche Städte die Familie bereist hat, wurde um einen reduziert. Rom, Paris und andere Städte sind noch an der Tür zu sehen. Der Magnetsticker von Moskau findet man jetzt auf dem Kühlschrank.

Ein häufiges Gesprächsthema ist die Offensive der ukrainischen Armee, auf die jeder wartet. Max ist zu 100% sicher, die ukrainische Armee wird das Azovsche Meer erreichen, wenn dort der Hauptschlag erfolgen wird. Weniger zuversichtlich ist er jedoch, ob die ukrainische Armee dieses gewonnene Gebiet halten kann. Ich bin weniger zuversichtlich bezüglich einer solchen Offensive, sollte ein solcher militärischer Erfolg durch die russischen Linien aber erzielt werden können, wird die russisch2 Armee von Tag zu Tag größere Probleme bekommen, ihre Einheiten im Westen ausreichend versorgen zu können. Wir einigen uns darauf, uns im September erneut zu treffen.

Bis dahin werden noch viele Schulklassen durch die Innenstadt von Lviv geführt werden, denen die Geschichte der armenischen Kaufleute erzählt wird, die die Virmenska ul. Im 15. Jahrhundert geprägt haben. Die armenische Kirche ist jedem Sowjetbürger vertraut gewesen. Um die armenische Kirche herum wurden in den 1970er Jahren viele Teile der bekanntesten Verfilmung von Alexandre Dumas Verfilmung "Die drei Musketiere" gedreht. Ein seltsames Gefühl, wenn man die Bilder von lachenden Musketieren vor einem Haus sieht, welches ein Jahr nach der Erstausstrahlung zum bekanntesten Hippiecafė der gesamten UdSSR wurde. Schräg gegenüber wurden deshalb die Bewohner umgesiedelt, um dem KGB einen ständigen Beobachtungsposten zu bieten. In Andrej Kurkovs Roman "Jimi Hendrix live in Lemberg" wird die Geschichte des Hippies Alik erzählt, den man bis heute zusammen mit dem Künstler Igor im Cafė Virmenka treffen kann.

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