Die Wirecard-Pleite hat das Format der Dreigroschenoper. Mit Wirecard in der Rolle des Schurken Mackie Messer, der „sozialen Marktwirtschaft“ als Oberkapitalist Peachum, der staatlichen Aufsichtsbehörde als wegschauendem Polizeichef Brown, den Wirtschaftsprüfern von Ernst & Young (EY) in der Rolle der rettungslos in Mackie Messer verliebten Peachum-Tochter Polly, den aufsässigen Kritikern als Störenfried Filch und dem Wirecard-Kronzeugen Bellenhaus als Spelunken-Jenny.
Nun sagen viele, Brechts Lehrstück aus dem Jahr 1928 zeige die Heuchelei und die Doppelmoral der bürgerlich-kapitalistischen Welt – kurz bevor die Nazis die Macht übernahmen. Ganz so schlimm muss es nicht kommen, aber der Absturz der Vorzeigefirma Wirecard zeigt zumindest eins: ein durch und durch scheinheiliges Kontrollsystem. Es soll den Bürgern einen starken Staat vorgaukeln, ist aber so gebaut, dass es nicht funktioniert. Die Finanzkrise hat das nicht geändert. Und so waren die Prüfer von Ernst & Young und die staatliche Finanzaufsicht nicht in der Lage, zu erkennen, was laut Münchner Staatsanwaltschaft bei Wirecard vorging: „gewerbsmäßiger Bandenbetrug“.
Hinweise gab es viele. Bereits 2008 hatte Markus Straub, der Vizevorsitzende der „Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger“, behauptet, die Firma frisiere ihre Bilanzen. Wirecard schlug zurück und verklagte ihn. 2015 erschien in der Financial Times (FT) die Enthüllungsserie des Investigativreporters Dan McCrum unter dem Titel „House of Wirecard“. McCrum wurde dafür angefeindet. 2016 stellte der Finanzanalyst Matthew Earl seinen 100 Seiten umfassenden „Zatarra-Report“ ins Netz, anonym, weil er Wirecards Rache fürchtete. 2018 präsentierte der Ex-Fortune-Journalist Roderick Boyd seine Recherchen, und 2019 gelangte der interne Bericht der Singapurer Kanzlei Rajah & Tann über die allzu krummen Asien-Geschäfte zur Financial Times. Doch getreu dem Motto „Haltet den Dieb!“ überzog Wirecard sämtliche Kritiker mit dem Vorwurf der „Marktmanipulation“ und forderte Schadenersatz.
Die „Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht“ (BaFin) glaubte der Firma und stellte Strafanzeige. Journalisten, so die gemeinsame Lesart, hätten sich mit Hedgefonds verschworen, um auf Wirecards Absturz zu wetten. Auch deutsche Wirtschaftsjournalisten glaubten das. Der tapfere Wirecard-Chef, schrieben sie, befinde sich „im Auge des Orkans“ (Der Spiegel) oder „im Zentrum des Sturms“ (Wirtschaftswoche). Nun gelte es, „mit stahlharten Nerven“ gegen die „haltlosen Vorwürfe“ und „aggressiven Attacken“ von „Bloggern“ und „Spekulanten“ vorzugehen.
Ärger macht doch nur Arbeit
Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young hatten ja auch alle Jahresabschlüsse des Konzerns bedenkenlos durchgewinkt. Fehlte mal ein Beleg, so klangen die Erklärungen dafür immer plausibel. Und warum sollten die Prüfer die Hand beißen, die sie füttert? Zwar monieren Experten seit Jahren, dass sich Wirtschaftsprüfer in einem schweren Interessenkonflikt befinden, weil sie Unternehmen „unvoreingenommen“ prüfen sollen, die sie gleichzeitig in Sachen Steuervermeidung oder Konzernverschachtelung beraten. Dafür kassieren sie fürstliche Honorare. Würden sie Ärger machen, wären sie ihren Job bald los. Überdies genießen Wirtschaftsprüfer in Deutschland ein ungewöhnliches Haftungsprivileg.
Selbst bei groben Fehlern haften sie höchstens mit vier Millionen Euro. Als die Drogeriekette Schlecker überraschend pleiteging, kamen die Bilanzprüfer von Ernst & Young mit Geldzahlungen von 45.000 Euro davon. Noch billiger – im Vergleich zum Schaden – war für sie die folgenschwerste Pleite der neueren Geschichte. Bis zuletzt hatte Ernst & Young der Investmentbank Lehman Brothers saubere Bilanzen bescheinigt. Als die Bank dann im September 2008 „urplötzlich“ zusammenbrach, verlangte der New Yorker Generalstaatsanwalt Andrew Cuomo zunächst Schadenersatz und eine Rückzahlung des 150-Millionen-Dollar-Honorars von den Prüfern. Es wäre ein Präzedenzfall gewesen, der den Finanzkapitalismus ins Mark getroffen hätte. Doch Cuomos Nachfolger begnügte sich 2015 mit einer Zahlung von zehn Millionen Dollar. Wirtschaftsprüfer werden kaum zur Rechenschaft gezogen.
Auch die staatliche Finanzaufsicht, die BaFin, wäscht ihre Hände in Unschuld. Sie habe, so Finanzminister Olaf Scholz, stets nach Recht und Gesetz gehandelt. Das Problem liegt auch weniger in der fehlenden Rechtstreue als darin, dass Kontrollgesetze so gestaltet werden, dass eine Aufsicht, die ihren Namen verdient, gar nicht ausgeübt werden kann.
Erhält die BaFin zum Beispiel Hinweise auf Ungereimtheiten in Bilanzen, muss sie zunächst die „Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung“ (DPR) einschalten. In diesem privatrechtlichen Verein dominieren die Abgesandten von Banken und Versicherungen, Handelskammern und BDI. Ziel des Vereins ist es, Ärger zu vermeiden. Denn Ärger produziert Arbeit. Und die DPR hat nur 15 Angestellte. Als man den Fall Wirecard aufgrund der Enthüllungen der FT nicht mehr ignorieren konnte, „prüfte“ ein einzelner Mitarbeiter 16 Monate lang. Wobei die „Prüfarbeit“ im Wesentlichen darin besteht, hin und wieder einen Fragebogen an das betroffene Unternehmen zu schicken. Die Beantwortung ist freiwillig, kann also dauern.
Ähnlich verschnarcht funktioniert die für Geldwäsche zuständige „Financial Intelligence Unit“ (FIU). Sie sammelt und analysiert die Meldungen über verdächtige Transaktionen, die von den Geldinstituten eingehen. Im Mai 2019 waren mehr als 36.000 Meldungen nicht oder nicht abschließend bearbeitet. Auch die Weiterleitung an die Staatsanwaltschaften funktioniert nur schleppend, eine Analyse findet kaum statt. Experten halten die FIU für „blind und taub“. Ein Grund für ihre „unerträgliche Langsamkeit“ ist die widersinnige Ansiedlung beim Zoll. Ursprünglich war die FIU dem Bundeskriminalamt zugeordnet, doch Innenminister Wolfgang Schäuble schob sie 2017 gegen alle Bedenken zum Zoll ab. Diese politische Sabotage kann bis auf die unterste Ebene nachverfolgt werden. So ist die Bezirksregierung von Niederbayern, die in Landshut sitzt, kurioserweise für die Geldwäschebekämpfung in Oberbayern (und damit für Wirecard) zuständig.
Auch die BaFin lähmt sich seit Jahren selbst, indem sie nicht zu klären vermag, ob sie nun für die Wirecard AG zuständig ist oder nicht. Die Beamten verschwendeten unglaublich viel Zeit mit der Frage, ob Wirecard ein Tech-Konzern oder eine Finanzholding ist, nur für Letztere wäre man zuständig gewesen. Die Pleite des Konzerns hat der BaFin die Entscheidung abgenommen.
Auf Unfähigkeit getrimmt
Insgesamt erwecken privatwirtschaftliche und staatliche Finanzaufsicht den Eindruck eines bewusst auf Unfähigkeit getrimmten Systems. Da nützen auch kosmetische Korrekturen durch Aktionspläne nichts. Es besteht sogar der Verdacht, dass die Aufsicht eine Kontrolle gar nicht ausüben soll, sondern ihre Existenz die Möglichkeit schafft, den Staat und nicht das Unternehmen (wo eh nichts zu holen ist) auf Schadenersatz zu verklagen. Der Staat wird so zum ideellen Gesamthafter für die Verfehlungen der Finanzindustrie. Der Tübinger Anwalt Andreas Tilp versammelt bereits die geschädigten Anleger für eine Sammelklage gegen die BaFin um sich. Er wirft ihr „Amtsmissbrauch“ nach § 839 BGB vor. Die BaFin, sagt er, habe ihre Pflichten verletzt, weil sie nicht frühzeitig dem Verdacht nachging, dass Wirecard seine Bilanzen frisiert.
Und so wird der Skandal wohl enden wie Brechts Dreigroschenoper. Da begnadigt Königin Victoria (die eine frappierende Ähnlichkeit mit Angela Merkel aufweist) den bereits unter dem Galgen stehenden Mackie Messer und erhebt ihn in den Adelsstand.
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