Er hätte jetzt Spaß

Heiner Müller Ohne große Dramen kein gutes Theater. Für den Mann mit der Zigarre wären heute gute Zeiten
Ausgabe 37/2019

Heiner Müller hätte mit der gesellschaftlichen Situation heute viel anzufangen gewusst. Ohne ernst zu nehmende Konflikte kein ernst zu nehmendes Theater. Die Epoche des sozialstaatlich befriedeten Kapitalismus geht zu Ende. Jetzt drängen die niedergehaltenen Konflikte an die Oberfläche.

Sie waren freilich immer schon da: „Wenn wir vom Frieden in Europa reden, reden wir von einem Frieden im Krieg. Krieg auf mindestens drei Kontinenten. Der Frieden in Europa ist nie etwas anderes gewesen“, sagte Müller 1982. Kapitalismus und Kolonialismus bilden eine Einheit. Der Klassengegensatz wird im eigenen Land entschärft, indem man ihn externalisiert und Ausbeutung dort betreibt, wo sie sich ungehinderter bewerkstelligen lässt. Heute drängen die Unterworfenen zu uns. Jedes der Krisengebiete, aus denen sich die Menschen nach Europa oder Amerika aufmachen, um dort etwas Besseres zu finden als den Tod, ist das Produkt eines globalen Systems, das die Destabilisierung dieser Länder seit Jahrhunderten betrieben hat. Dekolonisierung 2.0: was passiert, ist eine schleichende Revolution, die das Gefüge der reichen Nationen durcheinanderbringt.

Menschen und Arschlöcher

Müller hat das kommen sehen. Und er hätte es begrüßt. Seit den 1970er Jahren hat er immer wieder gesagt, dass die einzige noch denkbare revolutionäre Bewegung von der sogenannten Dritten Welt ausgehen müsse. Und die eine Forderung, auf die er den Kommunismus zusammengekürzt hat – Chancengleichheit –, hätte, wenn er in ihrem Licht die Migrationsbewegungen der Gegenwart thematisiert hätte, genügt, um seiner öffentlichen Existenz zu der Unbequemlichkeit zu verhelfen, die eine Grundbedingung seiner dramatischen Produktion war.

Alle daran hängenden Konflikte hätten ihn interessiert: das Aufkommen einer antikapitalistischen Rechten, die wieder auf einen nationalen Sozialismus zusteuern möchte; das zwischen Schuldgefühlen und verklemmtem Protektionismus hin- und hergerissene Bürgertum; die Kulturkonflikte zwischen den individualistisch ausgelegten Industriegesellschaften und der zum Teil durch Tradition gesetzten, zum Teil durch schiere Not erzwungenen Familienbindung derer, die da zu uns kommen und die wir deswegen heimlich beneiden; der Flüchtlingsdarwinismus, der nur die Stärksten, Mutigsten und im Zweifel Rücksichtslosesten zu uns kommen lässt; die sexuellen Wünsche und Ängste, die in den meisten Kulturkonflikten durchbrechen; Ost und West, die Vereinigung, die nun im Zeichen einer rechten Volksbewegung im Osten ratifiziert wird, in der sich – unter anderen – jahrzehntelang angestaute Enttäuschungs- und Demütigungserfahrungen Bahn brechen; die digitalen Medien, die all diese Prozesse beschleunigen: und schließlich der schlichte Umstand, dass sich auf allen Seiten und Fronten wahrscheinlich ungefähr gleich viel gute Menschen und Arschlöcher befinden.

All das hätte ihn interessiert; seine Arbeit hätte ihm nach den bleiernen Jahrzehnten seit 1990 wieder Spaß gemacht. Am meisten aber hätte ihn wohl beschäftigt, dass das globale Selbstzerstörungspotenzial des kapitalistischen Systems immer drastischer zutage tritt. Dass der Untergang der Menschengattung immer wahrscheinlicher wird, war Müller erstaunlich früh klar. Dass er es nicht verdrängt hat, ist ihm als moralisch unzulässige Lust an der Katastrophe vorgehalten worden. Die Akzente haben sich freilich verschoben. Neben den globalen Atomkrieg, der ihm als nächstliegende Möglichkeit des „Selbstmords der Gattung“ vor Augen stand, ist nun die kollektive Agonie einer langsamen ökologischen Selbstauslöschung getreten.

Ob die Menschheit den von den kapitalistischen Ländern erzeugten Klimawandel evolutionär überleben wird, ist fraglich. Die Ahnung des bevorstehenden Untergangs bestimmt aber viele, wenn nicht alle politischen Bewegungen der Gegenwart. Im Angesicht des Todes rettet jede/r, was sie/er kann. Man versucht, ein Plätzchen im Trockenen zu kriegen; wenn man schon eins hat, verteidigt man es, notfalls mit Waffengewalt. Auch das, der Kampf um Privilegien, hat seinen revolutionären Aspekt – vielleicht war Revolution nie etwas anderes. Aber dieser Kampf findet befristet statt, und er findet auch deswegen statt, weil uns die Zeit, uns als Gattungswesen auf diesem Planeten vernünftig und solidarisch einzurichten, nicht mehr bleibt.

Ab den 1970er Jahren stand Müllers Dramatik immer wieder im Zeichen des Selbstmords der Gattung. Ihre Hoffnungs- und Utopielosigkeit, die allein noch die Option der ästhetischen Transzendenz offen ließ, hat darin ihren Grund. Deswegen sind seine Stücke keine Tragödien, die von der Hoffnung auf einen anderen möglichen Ausgang leben, sondern eher Trauerspiele, deren Gattungsprinzip der Fatalismus ist. Fatalismus und Katastrophenfaszination ästhetisch produktiv zu machen; das Trauerspiel der Gegenwart als dramatisches Sein-zum-Tode zu entfalten; daraus die Illusionslosigkeit zu schöpfen, auf die die exakte Darstellung der damit verbundenen Konflikte angewiesen wäre – das wäre vermutlich die Richtung von Müllers Theater heute gewesen. „Eine Idealformel für mich wäre: Ohne Hoffnung und Verzweiflung leben.“ Vielleicht hätte er auch Komödien geschrieben: lustige Schwestern des Trauerspiels, wenn die Tragödie sich historisch überlebt hat. So hat es Dürrenmatt gesehen und so hat es Müller gemeint, wenn er auf der Komik seiner Stücke bestanden hat. Kein DDR-Klamauk, wie gerade in Tom Kühnels und Jürgen Kuttners „dialektikbewusster Revue“ der Umsiedlerin (nach deren Premiere 1961 Müller noch wegen „Nihilismus“ vom Schriftstellerverband ausgeschlossen worden war), sondern: Witze in der Todeszelle.

Im Herbst erscheint von Wolfram Ette ein Essay über das kürzeste Märchen der Brüder Grimm: Das eigensinnige Kind (Büchner Verlag, 120 S., 16 €)

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