Ein Vergleich: Soziale Situation in

Südkorea. Experten der deutschen Bundesregierung beraten Südkorea bei der Sozialgesetzgebung. Könnte auch Deutschland von der sozialen Praxis in Südkorea etwas lernen?

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Die politische Verwaltung in Südkorea ist ähnlich organisiert wie die Bundesrepublik Deutschland. Es gibt neun Provinzen und 6 autonome Millionenstädte. Die Provinzen sind in Landkreise unterteilt, in denen sich mehrere Städte und Dörfer befinden. Die Parlamente in den Provinzen und der Republik sowie der Präsident und die Bürgermeister werden vom Volk gewählt. Lediglich der Präsident der Republik vereint in seiner Person das Amt des Präsidenten und des Regierungschefs.

Korea gelang in der Rekordzeit von 40 Jahren die Transformation von einem bettelarmen und vom Bruderkrieg zerstörten Land in einen relativ wohlhabenden Industriestaat, der Mitglied der G20 ist. Die vielen heute noch lebenden Menschen, die älter als 80 Jahre sind, haben also in ihrem Leben bei vollem Bewusstsein die japanische Besatzung, den Zweiten Weltkrieg, den Koreakrieg, die Militärdiktatur, die ständige Bedrohung aus Nordkorea, die Industrialisierung, die Entwicklung einer nationalen Nuklearindustrie, ein effizientes Bildungssystem und die beginnende Billigkonkurrenz aus China miterlebt. Aber auch das Entstehen einer Popkultur (Psy Gangnam Style), die Ausrichtung zweier Olympischer Spiele, einer Leichtathletik- und einer Fußball-Weltmeisterschaft, die Emanzipation der Frauen, das Hochschnellen der Immobilienpreise in der Mega-Metropole Seoul und der Scheidungsraten sowie das drastische Absinken der Geburtenraten und den Massenansturm chinesischer Touristen. Das alles hat auch das traditionelle Sozialsystem durcheinander gewirbelt, das auf der konfuzianischen Solidarität innerhalb der Großfamilie aufbaut. Neue Antworten müssen gefunden werden, wie mit dem demografischen Wandel, der zunehmenden Arbeitslosigkeit, dem Wohnungsmangel in Seoul umgegangen werden soll. Daneben „droht“ möglicherweise eine Wiedervereinigung. Wie teuer so etwas wird, haben die Koreaner in Deutschland sehr genau studiert.

Am Beispiel des Dorfes Pyeonghae an der südkoreanischen Ostküste möchte ich zeigen, wie sich das südkoreanische Sozialsystem auf die Menschen auswirkt und wo wir vielleicht von den Südkoreanern etwas lernen können.

Pyeonghae hat 3.800 Einwohner, mit abnehmender Tendenz. Hier leben überproportional sehr alte Menschen. In den Außenbezirken kann man schon sehen, wie die kleinen Hütten verfallen, welche die in den letzten Jahren Verstorbenen hinterlassen haben. Man kann sie nur noch abreißen und den Boden z.B. für die Verbreiterung von Straßen nutzen. Die Ostküste gehört zu den unterentwickelten Gebieten Südkoreas. Der Anschluss Pyeonghaes an das nationale Eisenbahnnetz ist für 2020 geplant. Die neue Eisenbahnlinie entlang der Küste zwischen Pohang und Samcheok hat dieses Jahr eine gewisse Dringlichkeit erhalten. Denn im Fall einer Öffnung der Grenze nach Nordkorea müssten auf dieser eingleisig geplanten Linie die Güterzüge mit Diesellok rollen, welche die südkoreanischen Industrieerzeugnisse aus den Industriemetropolen Ulsan (Hyundai) und Pohang (POSCO) nach Nordkorea transportieren.

Im Gegensatz zu vielen Orten ähnlicher Größe in Deutschland, ist in Pyeonghae (noch?) alles vorhanden, was man zum Leben so braucht. Ein Rathaus, eine Polizeistation, ein großes modernes Postamt, ein Busbahnhof mit Fernverbindungen in das ganze Land, eine Rotkreuzstation, eine brandneue Feuerwache, zwei Grundschulen, eine Mittelschule, und ja, die nationale Hochschule für den Ingenieurnachwuchs für die mittlerweile 30 Atomkraftwerke in Südkorea. Sie nennt sich „Korea Nuclear Meister High School“. In dem Wort "Meister" im Namen drückt sich die Hochachtung für Deutschland aus, der man in Südkorea überall begegnet.

Zwischen den Reisfeldern am Ortsrand hat sich ein prosperierender Industriepark ausgebreitet. Es gibt ein riesiges Fußballstadion mit Kunstrasen und Flutlichtmasten vom Feinsten und angeschlossene Tennisplätze. Dazu kommt ein öffentlicher Golfplatz mit Hubschrauberlandeplatz. Daneben soll demnächst ein Schwimmbad gebaut werden. In der Ortsmitte befindet sich ein kleiner Supermarkt für Artikel des täglichen Bedarfs, ein Marktplatz, auf dem die Bauern ihre Früchte und Gemüse anbieten – seit neuestem überdacht - eine Sparkassenfiliale, ein Elektrofachgeschäft, eine Reparaturwerkstatt für Motorräder, ein Eisenwaren- und Küchenbedarfshändler, ein Handyshop, mindestens zehn Restaurants – wobei wir die meisten davon „Kneipe“ nennen würden - drei Motels, eine Tankstelle, drei öffentliche WCs, drei christliche Kirchen und zwei buddhistische Tempel. Was auffällt: weder in Pyeonghae noch sonst wo auf dem Lande findet man am Ortsrand große Supermärkte, Discounter, Baumärkte oder Outletcenter, die den kleinen Geschäften in der Ortsmitte das Wasser abgraben könnten. Die Kehrseite ist allerdings ein deutlich höheres Preisniveau als in Deutschland, vor allem bei Lebensmitteln. Online Lieferservice ist im Kommen, aber noch nicht sehr ausgeprägt. Allerdings bezahlt bereits jeder Bauer beim Bäcker, im Lebensmittelladen oder den Bus mit der App auf seinem Smartphone. Sogar in den Großstädten befinden sich die Luxuskaufhäuser mitten in den Innenstädten.

Nicht zu übersehen: Eine staatliche Begegnungsstätte für alte Menschen existiert nicht nur im Dorf Pyeonghae, sondern in allen Weilern, die zur Gemeinde Pyeonghae gehören, z.B. im Weiler Hagok-Ilri, in dem nur noch 35 Personen leben. Dort treffen sich die alten Menschen zum Klönen und Kartenspiel, erhalten hier eine kostenlose warme Mahlzeit von der Kreisverwaltung in Uljin und können sich im Winter aufwärmen. Die meisten Bauernhäuser werden nämlich im Winter noch mit Holz, Maisstroh oder gepresster Kohle geheizt. In vielen dieser Bauernkaten wohnt nur noch eine einzelne hoch betagte Witwe. Die spart sich dann gerne die Heizkosten. So kommt sie auch mit den 300 Euro Sozialrente hin, die der koreanische Staat allen Bedürftigen spendiert, und zwar ohne, dass z.B. die Bauern je einen Won in die Rentenkasse eingezahlt hätten. Armut ist durchaus relativ, denn die meisten Bauern besitzen aus ihrer aktiven Berufstätigkeit noch große Reisfelder, für die sie als Rentner eine jährliche Pacht von anderen Bauern erhalten und die sich bei Bedarf gut verkaufen lassen. Der Landkreis hat in Pyeonghae ein großes Gerätehaus gebaut, in dem die Bauern aus einem Pool von landwirtschaftlichen Maschinen Mähdrescher u.ä. für die Feldarbeit ausleihen können. Der Landkreis betreibt in Pyeonghae auch einen großen Getreidesilo, wo die Bauern ihren Reis schälen und einlagern lassen können.

Die alten Frauen langweilen sich in ihren Häusern. Also gehen sie auf ihr Peperoni-Feld und ernten dort in tiefer Hockstellung Peperoni, so gut sie es noch können. Wer nicht so weit gehen kann, fährt auf seinem vierrädrigen Elektro-Scooter zum Peperoni-Feld. Koreaner sind es gewohnt, sehr viel in der Hocke zu erledigen. Das Essen im Familienkreis erfolgt z.B. drei Mal täglich in der Hocke auf dem Fußboden. Daher muss jeder Gast vor der Haustür die Schuhe ausziehen. In einem 80- bis 99jährigen Leben hinterlässt das viele Hocken natürlich Spuren. Viele der alten Damen haben ausgeprägte O-Beine. Andere wiederum können gar nicht mehr aufrecht gehen, sondern schlurfen mit dem um 90 Grad! nach vorne gebeugten Oberkörper durch das Dorf. Sie sehen in unseren Augen also sehr gebrechlich aus, verfügen aber über eine laute und feste Stimme und einen klaren Verstand! Und sie sehen erstaunlich glücklich und zufrieden drein. Falls gerade keine Peperoni-Ernte ansteht, freuen sich die alten Damen, wenn sie sich ein kleines Taschengeld dazu verdienen können, indem sie stundenweise im Auftrag des Landkreises die Straße fegen, den Müll aufsammeln, die öffentlichen WCs und die buddhistischen Tempel putzen. Ca. alle 1000 m findet man am Wegesrand einen kleinen Pavillion aus Holz, ebenfalls vom Landkreis spendiert, der bei gutem Wetter zum Verweilen und Klönen einlädt. Da können dann auch die alten Damen nach getaner gemeinnütziger Arbeit ein Schwätzchen halten.

Die alten Damen – es existiert auch eine Minderheit von alten Herren – sind noch in Großfamilien aufgewachsen, in denen es Sitte war, dass die Ehefrau des ältesten Sohnes die alten Eltern bis zum Tod beherbergen und Pflegen musste. Dafür erbte der älteste Sohn ja auch den Hof alleine. Die meisten ihrer Kinder sind in die Stadt gezogen, üben keinen landwirtschaftlichen Beruf aus, haben selbst nur noch ein bis zwei Kinder, sind häufig geschieden. Die Jungen können und wollen also ihre Eltern nicht mehr pflegen und können sie nicht mal finanziell unterstützen. Denn die Schule und der obligatorische Nachhilfeunterricht für die eigenen Kinder kosten sehr viel Geld. Hinzu kommt, dass die Koreaner Unsummen für die Hochzeit ihrer Kinder ausgeben. Während die Immobilienpreise in den letzten zwanzig Jahren in Südkorea weitgehend stabil geblieben sind, explodieren sie in der Mega-Metropole Seoul (24 Millionen Einwohner). Im Vergleich zu Seoul sind Mieten in München noch recht moderat. Hinzu kommt, dass man in Korea nicht nur die Monatsmiete zahlt, sondern beim Einzug einen einmaligen, unverzinslichen Baukostenzuschuss hinblättern muss. Der kann schnell mal 100.000 bis 200.000 Euro betragen. Er wird zwar beim Auszug vom Vermieter zurückerstattet, aber erst mal muss eine junge Familie lange sparen, damit sie sich die Anmietung überhaupt leisten kann. Junge Frauen verschmähen Heiratskandidaten, die so einen Baukostenzuschuss nicht in die Ehe mitbringen.

Koreanische Städte und Dörfer sehen in europäischen Augen chaotisch und wenig einladend aus. Insbesondere, weil alle Strom- und Telefonleitungen oberirdisch verlegt sind. Immerhin sind jetzt die windschiefen Holzpfähle der Siebzigerjahre durch solide, doppelt so hohe Betonmasten ersetzt worden. Richtig arme Gemeinden sieht man aber auch nicht. Das liegt wohl daran, dass die südkoreanischen Kommunen gemäß ihrer Einwohnerzahl ihr Budget vom Landkreis aus den allgemeinen Steuermitteln zugeteilt bekommen. So hat jede Kommune finanziell gleiche Startvoraussetzungen. Sie muss auch nicht für Kosten aufkommen, die nichts mit dem kommunalen Geschehen im engeren Sinn zu tun haben. Schulen, Straßen, Sozialhilfe zahlt alles der Kreis oder die Provinz. Auch mit den Kosten für Flüchtlingsunterbringung hätte die Kommune nichts zu tun. Allerdings gibt es außer 25.000 Flüchtlingen aus Nordkorea keine Flüchtlinge in Südkorea. Die würden wir ja in Deutschland nicht mal als Flüchtlinge, sondern als „Landsleute“ behandeln. Auch achten die Koreaner – wie die Japaner – auf eine ethnisch homogene Bevölkerung. Außer ein paar Chinesen, Japanern, Philippinos und Vietnamesen sieht man keine Ausländer. Die amerikanischen Soldaten leben isoliert in ihren Kasernen. Es gilt in koreanischen Familien immer noch als großes Unglück, wenn die Tochter oder der Sohn einen Ehekandidaten aus Indien oder Schwarzafrika anschleppt. Auch Europäer oder Amerikaner sind nicht gerade gerne als neue Familienmitglieder gesehen. In Pyeonghae leben ganze zwanzig Ausländer, alles angeheiratete Asiaten. Im gesamten Landkreis Uljin sind es gerade mal 300 Ausländer.

Eine staatliche Rentenversicherung gibt es noch nicht lange. Daher hat bisher kaum jemand eine staatliche Rente bezogen, die über die garantierte Grundrente von 300 Euro monatlich hinausgeht. Allerdings ist es üblich, dass Arbeitnehmer bei ihrem Ausscheiden aus der Firma oder der Behörde einen hohen Einmalbetrag erhalten. Das können durchaus 200.000 bis 400.000 Euro sein. In koreanischen Ohren klingt das noch verlockender, nämlich 300 Millionen bis 550 Millionen Won. Das relativiert sich aber sofort, wenn man bedenkt, dass dieser Batzen Geld bis zum Lebensende reichen muss. Und Koreaner werden jetzt mittlerweile gerne 80 bis 100 Jahre alt. Die Firmenrente gibt es natürlich nicht für die Selbständigen, insbesondere nicht für die Bauern.

So mancher ist der Verlockung der großen Zahl erlegen und hat seine Einmalrente in Aktien oder Bitcoin verspekuliert. Solche Menschen landen nicht wie in Europa als Obdachlose unter einer Brücke, sondern in einer privaten Seniorenpension, wo sie sich eine fünf qm „große“ Schlafkammer aussuchen können, mit Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsbad. Wem dort die Decke auf den Kopf fällt, der kann den ganzen Tag in Seoul umsonst U-Bahn fahren. Auch dieses Kämmerchen will monatlich mit 250 Euro bezahlt werden. Also verdienen sich die alten (diesmal) Männer als Nachtwächter in den Parkhäusern der Wohn-Wolkenkratzer ein bisschen was dazu – bis diese Männer tot umfallen. Ältere alleinstehende arme Frauen haben es da leichter: Sie kommen oft als Nanny oder Putzhilfe in privaten Haushalten unter.

Südkorea hat zwar eine öffentliche Krankenversicherung. Die zahlt aber nur bis zu 50% der Krankheitskosten. Den Rest muss der Patient aus eigener Tasche berappen. Ein alter Bauer kann dafür vielleicht sein Reisfeld versilbern. Dann kann er es sich sogar leisten, statt in ein zweitklassiges Krankenhaus in seinem Landkreis in ein teures Uni-Krankenhaus in Seoul zu fahren. Dort wird er von Krankenschwestern umsorgt, die über die Hungerlöhne deutscher Krankenschwestern nur lachen würden. Die Apotheke im Dorf füllt die Medikamente in Tagesportionen ab, so dass die alten Menschen bei der Medikamenteneinnahme nichts falsch machen können. Allerdings erzeugt die dafür nötige Verpackung einen Haufen Plastikmüll. Plastiktüten sind in Südkorea sowieso allgegenwärtig.

Wer sich so teure Behandlungen nicht leisten kann, der stirbt leider eher. Das klingt jetzt hart. Faktisch aber ist die Sterblichkeit in Südkorea nicht höher als in Europa, ausgenommen vielleicht beim Suizid. Eine Fleisch- und Zucker arme Kost vermeidet die in Europa üblichen Zivilisationskrankheiten. Vor einer Generation wurde in Südkorea kaum jemand älter als 65 Jahre.

Wer ein Pflegefall wird und keine Angehörigen hat, die ihn pflegen, der kann in ein öffentliches Altenheim gehen. Jede Kleinstadt hat mindestens eines.

Wenn man die vielen sehr alten Menschen auf den Feldern und in den Geschäften und Bussen sieht, fragt man sich, wie Pyeonghae seine intakte Infrastruktur aufrechterhalten will. Schon jetzt ist es wegen des Rückgangs der Schülerzahlen schwierig, die Mittelschule weiter zu betreiben. Wer ist nach zehn Jahren überhaupt noch da, um die Felder zu bewirtschaften und Grundnahrungsmittel für die Einwohner der Großstädte zu produzieren? Wer kauft in den kleinen Läden ein oder geht in den Restaurants essen?

Eine denkbare Möglichkeit wäre, dass Nordkoreaner in die verlassenen Dörfer ziehen und die Äcker bewirtschaften. Denn durch die Übertragung der Mechanisierung der Landwirtschaft des Südens in den Norden würden im Norden viele Landarbeiter nicht mehr benötigt. Aus Nordkorea würde dann allerdings ein großer Naturpark um ein paar landwirtschaftliche Großbetriebe, mit ein paar Verbindungsautobahnen zwischen Südkorea und China sowie zwischen Südkorea und Russland. Ob es so kommt, werden die heute 80jährigen bald wissen, die über 90jährigen wohl eher nicht mehr.

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Geschrieben von

Querlenker

Zu den Problemen unserer Zeit stelle ich funktionierende Lösungen vor, die aber aus Gründen der Konvention, der Moral oder Faulheit niemand anpackt.

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