"Bewährungsgemeinschaft" - das politische Coming out von Hentigs

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Wann immer in der Bundesrepublik über das Bildungssystem diskutiert wird, etwas eingehender, über den Wahlkampf hinaus, fällt über kurz oder lang der Name Hartmut von Hentig. Dann verstummt die Diskussion eine Zeit lang, die Augen bekommen den Glanz der Nostalgie. Ah, von Hentig! Das waren noch Zeiten, als der Nestor der bundesdeutschen Reformpädagogik mit seiner Laborschule oder seinem Oberstufenkolleg den richtigen Weg zeigte, die Pädagogik "vom Menschen aus" nämlich. Und wir haben ihn vor unserem geistigen Auge, den quicklebendigen Medienstar, der er auch war, mit dem überkommenden Habitus des adligen Diplomatensohns, der trotzdem (oder deswegen?) bis in linksliberale Pädagogenkreise reüssierte. Von Hentig war die Referenz überhaupt. Zwar hat in letzter Zeit seine etwas unbeholfene Stellungnahme in der Missbrauchsdiskussion einen gewissen Schatten über ihn geworfen, doch gebührt dem "Lebenswerk", wie man so sagt, weiterhin der ungeteilte Respekt. Und schließlich handelt es sich um einen mittlerweile Fünfundachtzigjährigen.

Im Januar 2010 hielt von Hentig vor vierhundert enthusiasmierten Zuhörern, darunter auch der baden-württembergische Kultusminister, einen Vortrag, der die pädagogische Konklusio seines langen Wirkens darstellen sollte, mit dem Titel "Die Elemente der Erziehung" (abgedruckt in den Blättern f. dt. u. intern. Politik, 5'10). Die SZ nannte die Veranstaltung eine "reinigende pädagogische Messe" und bezeichnete deren Priester als "radikalen Aufklärer" und "unerbittlichen Irritator" (SZ, 30.1.10). Von Hentig, so das Leseversprechen, entsprach seinem Image als Grand Old Man der Pädagogik, der Kinderführung.

Und so las ich denn anfangs amüsiert, weil bestätigt, seine kluge und erfahrungsgesättigte Sezierung der gegenwärtigen Bildungspolitik. Souverän ironisiert er Buebs und Konsorten, mit wenigen Worten stellt er die neuen Studiengänge seiner Zunft bloß: Wer das beherrscht, kann alles Mögliche werden, ein Pädagoge wird er dadurch nicht. A point, denke ich und lese vorfreudig weiter - um urplötzlich ein mulmiges Gefühl zu verspüren. Was macht denn einen guten Pädagogen nach von Hentig aus?

Und da tropfen sie wie klebrige Blasen aus einem undichten Wasserhahn - die "signalhaft einschnappenden Wörter" (Adorno) der alten deutschen Reformpädagogik. Man ist fassungslos. Die Lehrenden werden durchweg als "Erzieher", die Schüler als "Zöglinge" bezeichnet. Im Jahre 2010! Und das ist kein verbaler Manierismus. Es wimmelt nur so von "Gemeinschaft", "Bereitschaft", "Bewährung" und - selbstredend - von "Auftrag" und "Aufgabe". Der reine Jargon der Eigentlichkeit.

Natürlich wird im Vortrag die für das "pädagogische Ethos" konstitutive "Liebe zu den Kindern" poetisiert. Micha Brumlik, der diese Passage in derselben Ausgabe der "Blätter" zitiert, kommentiert etwas angewidert und verzweifelt. Er weist folgerichtig auf ihren "fatalen Beigeschmack" hin. Bei den anderen "Elementen der Erziehung" hält er sich nicht auf. Sie scheinen mir jedoch ebenso fatal zu sein, zumal sie im Sachzusammenhang zur "Liebe zu den Kindern" stehen.

Der stets männliche "Zögling" braucht den stets männlichen "Erzieher" als "Vorbild", um sich mit den Augen des anderen zu sehen. Auch im Umgang mit den eigenen Fehlern, versteht sich. Der "Erzieher" ist für von Hentig eine Art großer Bruder, nicht aber der professionelle Bildungsvermittler. Der kämpft eventuell sogar egoistisch für seine Arbeitnehmerrechte, anstatt sich der "Gemeinschaft" zu widmen. Diese ist von Hentigs Hauptelement. Historisch ein heikles. Man schlage eine beliebige Nazipädagogik auf, um etwa Folgendes zu lesen: Beides, das Politische sowohl als auch das Erzieherische, ist eine organische Funktionseinheit, nur jedesmal von einem anderen Blickpunkt betrachtet, das eine Mal von der Gemeinschaft her, das andere Mal von der Persönlichkeit her (F.A. Beck, Die nationalssozialistische Erziehungsidee, 1934). Selbstredend ist von Hentig kein Nazi. Doch sind seine Ausführungen zur "Funktion" von "Gemeinschaft" milde gesagt, bizarr. So, wenn er seine eigene Gemeinschaftserziehung in einem ostelbischen Dorf Anfang der dreißiger Jahre beschreibt. Er stellt scheinprogressiv sein Mott auf: "It takes a vilage to raise a child", um dann buchstäblich vom Leder zu ziehen:

Die Schweizer (die Melker) nahmen uns Kinder mit, wenn sie zum Melken auf die Koppel fuhren..., der Schutzmann ritt sein Gelände ab, vertrieb die Zigeuner und verhinderte doch nicht den Einbruch im Schloss, in dem wir wohnten; Bäcker Bierhals überließ einem von uns das Lenken seines Pferdewagens..., der Jagdherr von Bredow heuerte uns für seine Treibjagd an..., die Tochter eines Waldarbeiters verrichtete das Anzünden der Öfen am Morgen und half unserer Wirtschafterin, auch sie diente (!), wurde aber mit Geld belohnt ... Erziehung, die ins Leben einführt, geschieht notwendig im Element einer Gemeinschaft, in jedem Alter und in jedem Stand (!) (den es noch immer gibt)...

Der Leser ist fassungslos. In Reinkultur haben wir das "abschabte Gemeinschaftsethos der Jugendbewegung" (Adorno) vor uns, mit allen seinen Dichotomien: Gemeinschaft versus Gesellschaft, Bindung versus Verlorensein, Naturwüchsigkeit gegen Künstlichkeit, Stand versus Egalität, Lebens-Bildung versus Schul-Bildung. Von Hentigs eingebildete Realität ist völlig "out of time". In seiner Kinderwelt kommen neben den Aufgezählten noch der brave Handwerker und der ländliche Pastor vor. Und natürlich darf der Förster nicht fehlen.

Angriffspunkt der von Hentigschen Rede ist - es war nach dem bisher Gesagten zu erwarten - die "Textgläubigkeit der Schul-Gebildeten", und damit die Weltfremdheit der Lehrer (nicht der "Erzieher"). Letzterer ist nämlich "Erlebnispädagoge" Er geleitet den "Zögling" zur "Bewährung" auf dessen Fahrten ins Leben - und wenn nicht an die Front, so doch beim "Verlassen des Elternhauses" (die "Zöglinge" haben nämlich immer "Elternhäuser', nie simple Wohnungen). Diese Bewährungsfahrten sollten schon bis zu einem Jahr dauern. Auf ihnen erfüllen die "Erzieher" (die wohl keine "Häuser" haben, aber sich gerne von Weib und Kind trennen lassen) mit ihren "Zöglingen" "Aufgaben in Bewährungssituationen". Ausgerechnet eine Art "Makarenko-Kolonie" fällt von Hentig in diesem Kontext ein: Les extrêmes se touchent. Wenigstens hier. Auch dass der Lehrer (hier verschwindet plötzlich der "Erzieher") sich in der Produktion zu "bewähren" hat (oder in Verwaltung bzw. Altersheim) ist passend.

Nun könnte man seufzend schlussfolgern: Ach, der sehr alte von Hentig kehrt zu seinen konservativ-revolutionären Ursprüngen zurück. Das kann erschrecken, ist aber doch episodisch. Die wahre Reformpädagogik ist, und das postuliert Brumlik in seinem Beitrag, nicht die völkische, sondern die progressive. Andererseits wurde sein Vortrag von den Anwesenden und von den Medien begeistert rezipiert. Also auch von denen, die im pädagogischen Alltagsbusiness knallhart die Formel: Ausbildung ist Bildung durchsetzen.

Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Er besteht nämlich aus "sich gegenseitig erzeugenden Thesen" (Clouscard). Die Vertreter des Jargons der Eigentlichkeit "ernten auf verbrannter Erde" (Adorno). So wie die erste Reformpädagogik an die Stelle der "kalten" Vergesellschaftung die als rousseauistisch interpretierte Ver-Gemeinschaftung setzte, re-agiert die zweite Reformpädagogik in ihrer Spätphase ideologisch überschüssig: Individualisierung braucht Gemeinschaft, Bildung braucht Bewährung, beides braucht Dienst.

Es kündigt sich ein neuer (uralter) Bildungsdiskurs an, vorerst noch in Sonntagsreden. Wieder wird es um die "Sinngebung" gehen, die im herrschenden Methodendogmatismus verloren ging. Der "pädagogische" Bezug wird die Inhaltsleere der "Lernen-Lernens" auratisieren. Zumal es Pilotbereiche des Gemeinschaftlichen gibt: weiterhin die Eliteschulen (vorerst allerdings mit gebremstem Schaum), mittelständische Unternehmen auf dem Lande, Parteien, Vereine und - natürlich - unsere "tapferen Helden" draußen an der Front.

In Afghanistan (und demnächst woanders) können sich die "Zöglinge" vor dem Tod "bewähren", in Südafrika bald vor dem Tor. Beide Male gilt der "ganz(heitlich)e Mann". Einer für alle, alle für einen! "Die Reformpädagogik kennt keine Rückzugsmöglichkeit" (M. Klaue).

Erschreckend? In der Tat. Aber wenn die SZ berichtet, dass die Anwesenden etwas fragend in Richtung Kultusminister schauten, bevor sie für ihre Ovations aufstanden, gibt diese Subalternität sogar zur Hoffnung Anlass. Auf die Politik kommt es an! Auf die Politik.

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