Der letzte Maoist als erster Kommunist

Alain Badiou In seinem neuen Buch plädiert der Philosoph unbeirrt für die "kommunistische Hypothese". Aber ist der Kommunismus nicht mausetot?

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Alain Badiou ist seinen politischen Überzeugungen treu geblieben
Alain Badiou ist seinen politischen Überzeugungen treu geblieben

imago/Piero Chiussi

Unzählige Bücher hat er geschrieben. Mittlerweile ist er 81 Jahre alt. Seinen politischen Überzeugungen ist er seit über 50 Jahren ebenso treu geblieben wie seinen Baumwollpullovern. Auch in seinem neuen Buch, einem langen Dialog mit der Philosophin und Journalistin Aude Lancelin, plädiert Alain Badiou unbeirrbar, fast mit einem gewissen Altersstarrsinn, für die „kommunistische Hypothese“ (1). Die Menschheit muss sich entscheiden: für den kapitalistischen Endweg (in die Katastrophe) oder für den Kommunismus, definiert als existenzielle Menschheitsfigur, die mit einem neolithischen Zustand bricht, mit ungleichen Gesellschaften, definiert durch das Privateigentum an den Produktionsmitten und geschützt durch den Staat.

There ist no alternative

Den Kommunismus wagen? Wo ist die Weisheit des Alters? Nach alledem. Nach Stalins Gulag, Maos Kulturrevolution, Pol Pots Völkermord? Was denn sonst? fragt Badiou. Als wirkliche Gegensätze bleiben nur die beiden genannten. Kommunismus oder Barbarei? Freund oder Feind? Ist denn zwischen Schwarz und Weiß nichts? Nicht wirklich, so Badiou. Alle „dritten Wege“, waren und sind stets inner-kapitalistische Alternativen. Ihr Demokratieverständnis erschöpft sich im „parlamentarischen Kretinismus“. Im besten Fall, bei Luxemburg und Liebknecht etwa, mit Abstrichen bei Jean Jaurès, mit noch mehr Abstrichen bei Mélenchon, sei eine linke Minderheit „die Plazenta eines neugeborenen Kommunismus“. Und der Anarchismus habe zwar eine „schöpferische Kraft“, entziehe sich aber dem eigentlich Politischen. In einem Streitgespräch mit dem Libération-Chef Joffrin definiert Badiou in Anlehnung an Platon das Politische als "Ensemble der Prozeduren, die zur Organisation einer gerechten Gesellschaft führen".

Badiou entwickelt vier Prinzipien eines Kommunismus der „Dritten Etappe“: zunächst die „drei Abschaffungen“ des Privateigentums am Produktionsapparat, der Arbeitsteilung und der identitären Zwänge, wozu für ihn auch die nationale Idetität gehört. Das vierte Prinzip nimmt gewisserweise die Erfahrung des Scheiterns des Realkommunismus auf: die drei Prinzipien sind eben nicht mittels permanenter Verstärkung autoritärer Staatsmechanismen realisierbar, sondern im Gegenteil durch das schrittweise Auflösen des Staates in kollektive Entscheidungen. Marx ließ den Staat in einer „freien Assoziation“ verschwinden. Für Badiou (und nicht nur für ihn) ist staatlicher Kommunismus ein Oxymoron.

Bei aller Sympathie, ein wenig schummerig wird einem hier schon. Wie, bitte schön, soll das gehen? Man muss nicht Historiker sein um zu wissen, dass auch die „zweite menschliche Natur“ von langer Dauer ist. Selbst die jahrtausendalte Familienstruktur bestimmt das politische Bewusstsein (mit), wie Emmanuel Todd in seinem letzten Werk magistral herausarbeitet (2). Die Menschen ändern sich nicht radikal am Tag der Revolution, um 12 Uhr mittags. Aber dies alles wischt Badiou hinweg. Der Mensch sei erst mit dem Neolithikum und besonders mit dem Kapitalismus ein konkurrenzorientierter Egoist geworden. Und er ist – natürlich – fähig, seine momentanen Interessen zu transzendieren. Er ist schließlich nicht nur ein Tier, sondern auch ein Mensch.

Das ist, weil notwendig im spekulativ Allgemeinen der Aufklärung verharrend, etwas schwach argumentiert. Aude Lancelin insistiert also. Auch Rousseau und Hume haben dem Menschen legitime Eigenliebe zugestanden, allerdings gebremst durch Empathie und Moderation. Weil sie es nicht mit den Kapitalisten von heute zu tun hatten, weiß Badiou. Wir befinden uns in einem Stadium, in dem das Kapital immer weniger Arbeit benötigt. Schon heute seien 2 Milliarden Menschen im kapitalistischen Sinne überflüssig. Es gibt Vorzeichen eines erneuten Weltkrieges. Umso dringlicher ist die Frage nach den beiden Wegen.

Lancelin wendet ein: Die gewalttätigen Kollektivierungen des realen Kommunismus (2. Etappe) sind doch offensichtlich gescheitert. Badiou kontert, ein wenig wie einst die KP-Philosophen, mit den enormen wirtschaftlichen Leistungen der UdSSR und dem Sieg über die Nazi-Kriegsmaschinerie, redet aber offensichtlich ungern über den ungeheuren Blutzoll der sowjetischen Menschen. Lancelin wirft ein, dass – rein technisch - auch die Nazis ähnliche „Erfolge“ präsentierten, was Badiou immerhin eine Problemstellung abringt: Natürlich wird es immer einen Widerspruch zwischen den beiden Wegen geben. Immer wird in bestimmten Umständen Egoismus, Herrschaftswillen und der Kult des privaten Interesses entstehen. Ich will doch mit meiner Vision die Menschen nicht in Rosenwasser baden. Und er gesteht sogar die Zähigkeit erlernter Egoismen zu. Aber, und es folgt ein typischer Badiou: In Ausnahmesituationen bemerkt man auf einmal die Existenz der anderen Tendenz, und diese mobilisiert in Ihnen einen ganz anderen Affekt, und ein neues Denken... Ich bin mit Ihnen einverstanden, dass dies alles eine lange Sache wird, schließlich geht es darum, endlich das Neolithikum zu verlassen. Was ist der Preis, fragt sich der Leser, der so ohne weiteres den „Steinzeitkommunismus“ eines Pol Pot nicht vergessen kann und will. Was ist der Preis, den die Menschheit für den Kapitalismus bezahlt? würde Badiou entgegnen. Auch dies zurecht. Im erwähnten (heftigen) Streit mit Joffrin knurrt er: Wenn Sie unbedingt die Toten zählen müssen, zählen wir die Toten (3).

Die Gewaltfrage

Lancelin lässt nicht locker, vor allem bezüglich der chinesischen Kulturrevolution, deren Grundzüge Badiou immer noch wider alle Kritik verteidigt: Welche Lehren haben Sie persönlich aus den im Namen des Kommunismus begangenen Verbrechen gezogen? (Der deutsche Leser denkt sofort an die Helmut Kohlschen „Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes begangen wurden“). Die Antwort ist verstörend. Badiou zitiert den großen Vorsitzenden: Einmal hat man Mao gefragt: „Sie sagen, dass die Bourgeoisie da ist, aber wo ist sie?“ Er antwortete: „Die Bourgeoisie ist in der kommunistischen Partei“... Die Revolution darf nicht die letzte Bewegung der Massen sein. Die Massen müssen auch weiterhin eingreifen. Er zitiert die Antwort Maos an Malraux: Wir geben den Massen in präziser Form zurück, was sie uns in konfuser Form gegeben haben. Eine Antwort, die nur neue Fragen aufwerfen kann. Wo ist die marxistische Interpretation? Wer ist das Mao'sche „Wir“? Wo ist die exakte Situationsanalyse? Wer instrumentalisierte die Massen in welcher Absicht? Was ist mit den mindestens 700.000 Opfern? Gab es nicht eine Logik des Terrors in den staatskommunistischen Systemen? Ist dies zu verhindern?

In einer Diskussion mit dem Politologen Marcel Gauchet fragte Badiou: Wie kann man nur glauben, dass der Kampf eine totale Umorientierung der Macht ohne beträchtliche materielle und menschliche Schäden möglich ist? Um dann auf die unbezweifelbaren enormen Schäden des Kapitalismus hinzuweisen. Und an anderer Stelle: Natürlich scheiterte diese Mobilisierung aufgrund ihrer internen Auflösung, ihres Mangels an Disziplin und Organisation, ihrer Fraktionskämpfe und des heftigen Widerstandes der "mittleren Kader" des Parteiapparats. Ist eine solche Antwort hinreichend? Zweifel sind erlaubt. Gauchet reagierte halb heiter, halb verzweifelt aus: Wie in der guten alten Zeit! Glauben Sie wirklich, dass die Massen bereit sind, zum Kommunismus zu konvertieren? (4).

Inwieweit beeinflusst Badious (positive) Sicht auf die Rolle der antibürokratischen Massen während der Kulturrevolution seine Vision des alternativen, des kommunistischen Wegs? Weiterhin sind es die „Massen“, die für Badiou die (!) Geschichte machen. Und deren politische Aktivität sollte, so die historische Lektion für die „nächsten Jahrhunderte“ (!), mit der Revolution nicht beendet sein: Die Leute müssen (im Kommunismus) revoltieren können. Badiou entwickelt die Idee einer unabhängigen Organisation zwischen der Volksbewegung und der Staatsmacht, mit der Aufgabe, die Probleme der Massen zu klären und zu bündeln. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass der Platoniker hier an den Stand der Freunde der Weisheit denkt.

Was (dieses Mal richtig) tun?

Aber natürlich ist Badiou Realist genug um zu sehen, dass wir wieder am Anfang sind. Alles muss wieder neu beginnen: Das Schweigen über die „kommunistischen Hypothese“ durchbrechen, die Situationen nutzen, sich mit den Geflüchteten (dem „Prolétariat nomade“) und den Arbeitern verbinden, Massenbewegungen auf der ganzen Erde unterstützen – kurz, das ganze Besteck für das „Projekt des neuen Kommunismus“. Ohne ein positives Ziel, das zeigt Badiou am Beispiel der Anti-Mubarak-Demos, verpufft die Negationskraft der Massen in einer puren Revolte, der neue oder alte Herrschende folgen. Die "reale Möglichkeit" des Kommunismus sei heute sogar größer als zu Zeiten Marxens. Das "nomadische Proletariat" ist durch die Kommunikationstechnik, die planetare Verstädterung, die Aufhebung identitärer Barrieren homogener und gebildeter als Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein Problem sei der Antitotalitarismus der (französischen) Intellektuellen: Das ist nicht unser bestes Exportprodukt.

Damit sind wir bei den starken Seiten des Buches. Die historische (und historiographische) Kritik, die wir bei der Beurteilung des realen Kommunismus vermissen, wendet Badiou glänzend auf den - für ihn - finalen Kapitalismus und seine politischen Regime, vor allem in Frankreich, an (abgesehen von dem kleinen Fehler, aus Marx einen romantischen Kämpfer auf den Barrikaden 1848 zu machen). Interessant ist der Vergleich des Staatsstreichs Napoléons III. 1850/52 mit dem „demokratischen Staatsstreich“ Emmanuel Macrons. Eine relativ unbekannte Person taucht auf, wird bekannt (gemacht), fabriziert eine vollkommen künstliche Partei, wird Präsident, um die unwahrscheinliche Herrschaft einer Faschistin zu verhindern und bekommt durch Parlamentswahlen, die Badiou in Analogie zu Bonaparte als Plebiszit deutet, die Mission, das Volk zugunsten der Großkapitalisten zu „berauben“. Und dies wird - analog zu 1848 und 1871 - exekutiert mit der Wildheit einer Bourgeoisie, die sich endlich frei fühlt. Die Reichen und Guten revanchieren sich am Volk. Badiou erweist sich als radikaler Verteidiger der sozialen Errungenschaften, gegen die neoliberale Doxa: Das erstrebte Ziel des Kapitalismus ist die Privatisierung der Luft, die wir atmen. Das dürfen wir niemals vergessen. Er lobt die Politik des Front populaire und der Libération 1945, wohl wissend (es aber nicht sagend), dass diese genuin „inner-kapitalistisch“ und sozialdemokratisch war.

Der alte Maoist weiß, dass wir erst am Anfang eines sehr langen Marsches stehen, in einer Situation, die alles andere als revolutionär ist. Die gelobten Massen sind politikabstinent. In gewisser Weise sind wir in einer Phase der bürgerlichen Reaktion. Wenn der Weg des Kommunismus der einzige Weg ist, die Menschheit aus dem „Neolithikum“ zu befreien sollte mit Marx bedacht werden, dass das Neolithikum das produktivkräftige Fundament unseres relativ freien Lebens ist. Der (leicht formulierte) Einwand Joffrins, dass Badious Vision die individuelle Freiheit der Idee der Gleichheit opfere, ist mit Badious Hinweis auf das "trügerische Konzept von möglicher Freiheit in einem Kontext enormer Ungleichheiten" nicht entkräftet.

Und vielleicht würden ihn ja auch nicht-kommunistische Linke (angesichts des evidenten Mangels an Kommunisten) auf dem Marsch begleiten, wenn sie ihn denn mitnehmen mögen. Ihn gar überholen. Es sollte ihn freuen. Die sehr aktiven jungen Abgeordneten der „France insoumise“ zum Beispiel haben dieser Tage (neben vielem anderen) einen Gesetzesvorschlag zum Menschenrecht auf Wasser eingebracht. Er wurde zwar von der macronistischen Mehrheit abgebürstet. Aber neue alternative Medien entstehen gegen den Mainstream. Schüler und Studenten gehen wieder auf die Straße. Hier entwickelt sich vielleicht die von Badiou ersehnte "intellektuelle Jugend, die für eine neue politische Möglichkeit" kämpft, für einen neuen Weg. Man muss sie ja nicht gleich Rote Garde nennen.

(1) Aude Lancelin/Alain Badiou, Eloge de la politique, Paris 2017 (Flammarion)

(2) Emmanuel Todd, Où en sommes nous? Paris 2017 (Seuil)

(3) Libération, 8. Nov. 2017

(4) Alain Badiou/Marcel Gauchet, Que faire? Paris 2014 (philo éditions)

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