Wenn nichts mehr bleibt. Emmanuel Todd seziert die „Niederlage des Westens“

Eine andere Sicht Emmanuel Todds Bücher sind stets ein kleines Ereignis. Der Historiker und Anthropologe zeigt uns, dass die Verhältnisse nicht immer so sind, wie sie zu sein scheinen. Gerade in Zeiten des Krieges.

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Mehr Ironie geht nicht. Man verspricht der Ukraine den Eintritt in die NATO, man gibt den Ukrainern Waffen zu ihrer Verteidigung, man ermutigt sie zum Kampf gegen ein viel mächtigeres Land... und erntet die Zerstörung der Ukraine mit Hunderttausenden von Toten. Normalerweise bemühe ich mich, als Historiker kühl zu bleiben, aber was ich am Ende dieses Krieges sehe, widert mich nur noch an.

Das Gespräch des Historikers und Anthropologen Emmanuel Todd mit der Medienjournalistin Aude Lancelin endet „en tristesse“. Es ist wie immer: Das Monstrum Krieg wächst allen Akteuren über den Kopf. Übrig bleibt die pure sinnlose Zerstörung von Leben und Gütern. Selbst die smarten behelmten Kriegsreporter der leitenden Medien präsentieren uns nicht mehr junge ukrainische Helden, sondern früh gealterte Frontsoldaten in Erwartung ihres Todes (der allerdings nicht gezeigt wird). Und trotz alledemwill der Wahnsinn nicht enden. Die Verhältnisse, sie sind nicht so. Putin plant angeblich schon den nächsten Krieg. Punkt! Also müssen "wir" weiter aufrüsten. Punkt! "Wir" brauchen die Bombe. Letzter Punkt!

Wenn wir realen Menschen Vernunft bewahren wollen, müssen wir diese Verhältnisse begreifen. Das nimmt uns einerseits jeden Optimismus. „Die Melancholie ist eine Krankheit, durch die man die Dinge sieht, wie sie sind“, schrieb Gérard de Nerval. Anderserseits gewinnen wir, aufatmend, an Urteilsfreiheit. Emmanuel Todd hilft, das Bekannte zu erkennen. Als Historiker der „Annales-Schule“ fragt er nach den impliziten Dimensionen der „Ereignisgeschichte“. Er untersucht dafür die – für uns nur halbbewusste - komplexe Erziehungs- und Bildungsschicht. Als Anthropologe analysiert er zudem die darunter liegende - für uns (fast) unbewusste – Familienstruktur. Die drei Schichten interagieren, in unterschiedlicher Dauer. Deswegen spiegeln sich z.B. in den heutigen Ideologien die Religionen von gestern und in diesen die alten familialen Strukturen wider (1). Die Geschichte der anglo-amerikanischen Staaten ist z.B. ohne die absolute Kernfamilie nicht denkbar, die ihrerseits den Protestantismus prägte, von seiner „aktiven“ über die „Zombie-Phase“, in der die religiösen „Werte“ säkularisiert weiterleben, bis zum „Null-Stadium“ (dazu weiter unten).

Das Toddsche Modell ist offensichtlich nicht mit dem (neo)liberalen Bild der freien vertragsschließenden Individuen vereinbar, wohl aber offen für den Rekurs auf Marx, Freud oder auch Weber (trotz fundamentaler Unterschiede). Das bringt Dialektik in seine Bücher. Todds Hauptstärke ist die historisch-soziologische Interpretation von Variabeln wie Haushaltsstruktur, Status der Frau, Kindersterblichkeit, Fertilität, Alphabetisierungsgrad, religiöse Praxis etc. Dass seine heterodoxen Erkenntnisse die spezialisierten Intellektuellen, aber auch die anderen braven Bourgeois nicht gerade amüsieren, ist ein Kollateralschaden (oder – Nutzen?). Jedenfalls reagieren diese entsprechend. Todd antwortet in der Regel mit beißender Ironie – und einem neuen Buch. Das vorliegende ist jedoch sein letztes. Sagt er wenigstens.

La Défaite de L'Occident“ ist jedenfalls ein Bestseller (2). Das Buch kommt im richtigen Moment. Natürlich sehen sich manche Kritiker bestätigt (Wikipedia sowieso): Todd ist der „nützliche Idiot“ Putins, verbreitet Kremlpropaganda, Anti-Amerikanismus und Anti-Germanismus. Wie so oft, fragt man sich, ob die Kritiker nur den Klappentext gelesen haben. Schauen wir also genauer ins Buch.

Der Ukrainekrieg, so Todd, hat mindestens 10 Überraschungen offenbart. Die Idee eines ewigen Friedens in Europa ist beerdigt. Der „Feind“ überrascht. Man hatte eher China erwartet. Überraschend, vor allem für Russland, sei die militärische Widerstandskraft der Ukrainer. Bis zum russischen Einmarsch galt das Land als „failed state“, ein „Leihmutterland“, mit geringem Lebensstandard, starker Auswanderung und einer allgegenwärtigen Korruption. Überraschend, diesmal für den Westen, war die ökonomische Widerstandskraft Russlands, das sich als „moderner“ erweist, als unsere Ökonomen und Politiker zu wissen glaubten. Auffallend ist auch die absolute Willenlosigkeit der EU. Die Hegemonialmacht Deutschland sanktioniert sich energetisch selbst, Macron „vaporisiert“ Frankreich auf der internationalen Ebene, und Polen wird zur Hauptagentur der USA in Europa. Für Todd ist die Achse Paris-Berlin durch die Achse London-Warschau-Kiew ersetzt worden. Großbritannien („antirussischer Kläffer“) und die skandinavischen Länder zeichnen sich durch einen besonderen Bellizismus aus. Norwegen und Dänemark seien wichtige militärische „Relais-Stationen“ für die USA. Bemerkenswert ist jedoch auch, dass entscheidende Nicht-Natostaaten politisch neutral bleiben, ökonomisch aber eher Russland unterstützen. Und wer hatte damit gerechnet, dass die USA sich als unfähig erweisen, der Ukraine ausreichend Munition zu liefern? All diese Aspekte führen Todd zu seiner Hauptthese: Sicherlich wird die Ukraine den Krieg verlieren. Der große Loser wird aber „der Westen“ sein. Dies liegt jedoch nicht an der Stärke Russlands. Der Okzident zerstört sich nämlich selbst.

Russland ist ein modernes Land

Todd unterwirft die beteiligten Staaten einem „Fact-Checking“. Konzentrieren wir uns auf die wichtigsten. Russland, der „Aggressor“, hat erstaunlich gute Stabilitätsindikatoren: eine starke Abnahme der Tötungsrate, eine geringere Kindersterblichkeit als die USA und vor allem: einen bedeutenden Anstieg der Lebensqualität. Die Wirtschaft ist stark genug, die scharfen westlichen Sanktionen zu kompensieren. Russland produzierte 2022 80 Mio. Tonnen Getreide (37 Mio. im Jahr 2012). Signifikant ist für Todd das hohe technische Bildungniveau der Mittelklassen (im Jahr 2020 23,4% Ingenieurstudenten vs. 7,2% in den USA). Nach einer kurzen Zeit der Anarchie (Jelzin) schaffte es Putin, die Mittelklassen an sich zu binden. Die aktive Phase orthodoxer Religiösität ist schon lange passé (trotz aller Bemühungen des Patriarchen). Sie ist, Todd zufolge, im „Zombie-Stadium“ aufgehoben, d.h. sie lebt – wie die alte Familienstruktur - in der herrschenden Ideologie und ihren Werten (Autorität, Egalitarismus, auch Homophobie) weiter. Wie virtuos Putin dies nutzt, kann man im Interview mit Tucker Carlson sehen und hören. Aus der Entwicklung der Geburtenraten ergibt sich für Todd aber auch, dass die militärische Mobilisationskraft Russlands in 5 Jahren abnehmen wird. So lange habe Putin noch Zeit, um den Ukrainekrieg zu gewinnen (hoffentlich liest dies unser Superman Pistorius). Und er wird ihn gewinnen. Aber größere Aggressionen Russlands sind allein aus diesem Grund undenkbar.

Warum zerstört sich die Ukraine?

Die Ukraine stellt den Historiker vor ein Rätsel: Wie konnte die sich auflösende ukrainische Gesellschaft der russischen Invasion so lange widerstehen? Immerhin hatte der Staat von 1991 bis 2021 20% seiner Bevölkerung durch Abwanderung (auch nach Russland) verloren. Die Fertilitätsrate liegt bei 1,4 (1,8 in Russland). Es fehlten – vor allem im suburbanen Westen – die zur Staatsbildung notwendigen Mittelklassen. Die Analyse des Wahlverhaltens von 2010 ist aufschlussreich. Sie zeigt eine ukraino- und europhile West-Ukraine, in der Janukowytsch unter 10% der Stimmen erhielt, während er im Osten 78% (Krim) und 90% (Lugansk) erhielt. Der elektorale Separationsprozess verschärfte sich 2014. Er kulminierte in der politischen Trennung und im Krieg. Todd erkennt gleich drei ukrainische "Nationalitäten" (was die meisten westlichen Historiker mit ostentativem Kopfschütteln zurückweisen werden) : Die“ultranationalistische“ Ukraine im Westen mit dem Zentrum Lemberg ist eher agrarisch, graeco-katholisch, kernfamilial determiniert. Die „anarchische“ Ukraine im Zentrum mit der Hauptstadt Kiew ist eher orthodox, ebenfalls kernfamilial, mit schwacher Patrilinearität, hat es aber nie zu einem eigenen Staat gebracht. Die „anomische Ukraine“ im Osten schließlich, geprägt durch eine starke Patrilinearität, offensichtlich russisch, hat große Teile ihrer Mittelklasse durch Abwanderung nach Russland verloren. Interessanterweise bilden die Westukrainer den politischen und die Zentralukrainer den militärisch-polizeilichen Part der gegenwärtigen ukrainischen Elite. Letzteres, so Todd, zeigt den anarchischen Zustand (im Wortsinn). In Abwesenheit staatlicher Traditionen muss das hierarchische Prinzip die Sehnsucht nach Ordnung, nach Befehl und Gehorsam generieren.

Angesichts dieses „pluriellen, ethnolinguistisch komplexen und problematischen Staates“ und des ungeheuren Blutzolls seiner Soldaten stellt sich vor allem anderen die Frage: Warum akzeptieren ukrainische Regierung und(?) Bevölkerung den eigenen nationalen Suizid? Eine selbstbewusste Staats-Nation Ukraine hätte – unter Sicherheitsgarantien – die russischen Bedingungen akzeptieren können (oder müssen), selbst die Aufgabe des Donbass. Stattdessen verrennt sich Zelensky im Unmöglichen. Todds Vermutung ist spekulativ, denn er begibt sich in die terra incognita des kollektiven Unbewussten:

Man kann das Wirken der unbewussten Kräfte spüren, die sich der Trennung von Russland verweigerten und mit ihm verbunden sein wollten. Den Donbass und die Krim zurückzuerobern, hieß in gewisser Weise weiterhin russisch zu sein, die großen und kleinen Russen zu vereinen.

Die obsessive Rückstufung der russischen Sprache zugunsten „Bauernsprache“ Ukrainisch wertet Todd (der die Provokation liebt) als „ein Symptom des Selbsthasses“, Resultat des „russischen“ Unterbewusstseins der ukrainischen Eliten. Am Ende blieb nur der brutale Choc,

der Krieg, der (anders als bei Clausewitz) sein eigenes Ziel wird, der Nation Sinn gibt, wenn die Politik nicht existiert... eine Flucht in den Untergang, ein Zerstörungstrieb dessen, was ist, ohne zu beachten, was sein könnte, das Konzept des Nihilismus.

Interessanterweise scheint die ukrainische Resistenz auch Biden neue Kräfte im Kampf gegen Trump eingeflösst zu haben, zumindest kurzfristig.

Osteuropäischer Bellizismus

Wir sehen, dass Todd vor spekulativen Sätzen nicht zurückschreckt. Im Kapitel über die osteuropäischen Staaten stellt er z.B. die Frage, warum das ehemalige Naziland so hohe Sympathien in Polen und in den baltischen Staaten genießt und erlaubt sich finstere ikonoklastische Ideen wie diese:

In Momenten der Niedergeschlagenheit und des bösen Willens frage ich mich manchmal, ob man in bestimmten Ländern des Ostens nicht, mehr oder weniger unbewusst, Dankbarkeit gegenüber Deutschland empfängt, weil weil es ihnen das „Judenproblem“ genommen hat.

Das ist ein typischer Todd, gewissermaßen methodenkonsequent, andererseits mit Aussagen zum kollektiven Unbewussten, die naturgemäß sehr spekulativ, vielleicht auch einfach falsch sein können. Trotzdem regen sie zum Nachdenken an. Dass es auch Halb- oder Unbewusstes zu bedenken gibt, um z.B. den Krieg zu begreifen, sollte uns bewusst sein.

Analog zum Protestantismus in der anglo-amerikanischen Sphäre und in Norddeutschland setzte auch der sowjetische Kommunismus in den osteuropäischen auf Erziehung und Bildung, mit dem paradox scheinenden Resultat der Schaffung von Mittelklassen, die sich mit Ausnahme Ungarns als extrem russophob erweisen. Vielleicht, spöttelt Todd, haben die Ungarn den Russen verziehen, weil sie zumindest den bewaffneten Aufstand gewagt und damit eine Art „repressiver Toleranz“ erreicht hatten. Überhaupt sagt die Russophobie für Todd weniger über Russland als über die Russophoben aus. Auch dies sollte weiter bedacht werden. Nach 1989ff haben die osteuropäischen Mittelklassen ihre Proletarier jedenfalls dem westlichen Imperialismus, vor allem dem deutschen, überlassen und damit ihren einst feudalen Dritte-Welt-Status upgedatet.

Für den europäischen Hegemon Deutschland postuliert Todd eine Art Gesetzmäßigkeit:

In den Ländern mit individualistischer Kultur (USA, GB und Frankreich) ist die Erlangung der Macht kein persönliches Problem, sondern eine Apotheose. In einer Stammfamilien-Kultur vom Typ Deutschlands oder Japans ist dies anders...Die Individuen sind innerhalb der Hierarchie durch die Existenz einer Autorität über ihnen abgesichert. Alle, bis auf die Chefs, die keinen über sich haben.

Das schafft den deutschenden Herrschenden Unbehagen … und signalisiert den anderen Staaten „Passt auf!“. Wenn ein „Stamm-Kultur-Land“ schwach ist, wird es einen Paten finden. In der aufsteigenden Phase (casting Wilhelm II.) droht jedoch Gefahr. Jedenfalls stellten sich mir bei der Lektüre beunruhigende Fragen: Warum hat die deutsche Regierung gegen die energetischen Interessen ihres Landes verstoßen? Warum verschlechtert sie sogar die Beziehungen zu China, an dessen seidenen Fäden die Ökonomie immer noch hängt? Erleben wir quasi in actu, wie die herrschende Klasse einer zwergenhaften sekundären Stammfamiliengesellschaft sich der Autonomie verweigert? Liegt hier der Schlüssel zum geduckten Zick-Zack-Verhalten unseres Kanzlers (und seines Personals, das die Unsicherheit durch Arroganz komensiert)? Welchen Einfluss hat das schlechte historische Gewissen der Deutschen? Verstärkt die Abwesenheit eines nationalen Bewusstseins, das Begehren, endlich auf der „guten Seite“ zu stehen, das Zögern des Kanzlers? Treibt ihn der „tiefe Wunsch“ (Wolfgang Streek) nach Geborgenheit an die Seite eines Paten und zu Schwüren ewiger Treue, um das ehrwürdige deutsche Wort zu bemühen?

Das Null-Stadium des Protestantismus

Und dann stellt Todd diese Diagnose: Wir müssen uns um den Paten große Sorgen machen. Die USA sind im finalen Stadium ihrer Regression. Der Anteil der industriellen Produktion der USA macht im Weltmaßstab nur noch 17 (geschönte) Prozent aus (1945: 45%). Staaten wie Indien, China, Südafrika, der Iran und Saudi Arabien sind sich dessen bewusst. Nur in Europa mag man die Botschaft (noch) nicht annehmen. Todd folgt seiner Linie und stellt die US-Geschichte als Ent-Wicklung des Protestantismus dar.

Der Nazismus entspricht einer Eruption der Verzweiflung während der Zombie-Phase des Protestantismus, in der die positiven und negativen protestantischen Werte trotz des Rückstroms der religiösen Praxis weiter existierten. Die amerikanische Zombie-Phase reichte von Rooselvelt bis Eisenhower. Sie versuchte den Aufbau eines Sozialstaates, von Universitäten mit einer Massenbildung von hoher Qualität und einer optimistischen Kultur, die alle Welt verführte... Die gegenwärtige Krise zeigt jedoch den Null-Zustand („état zéro“) des Protestantismus. Dieser ermöglicht es, sowohl das Phänomen Trump zu verstehen als auch die Außenpolitik Bidens, die innere Fäulnis und die äußere Megalomanie und die Gewalt, die das amerikanische System gegen die eigenen Bürger und andere Länder ausübt.

So wie Deutschland in den 30ern werden die heutigen USA von einer generellen Leere angetrieben, deren Resultat nur Selbstzerstörung, Militarismus und Realitätsverweigerung sein können. Das „Nichts“ wird deifiziert. Der Renzensent muss an dieser Stelle an die der französischen Literatur so teuren „Actes gratuits“ (Gide) denken. Im Null-Stadium wird staatliches Handeln zu freien Gewaltakten transformiert, ohne jeden moralischen oder rechtlichen Zwang, völlig sinnlos, ohne Hass, ohne Bosheit, ohne Mitleid. Es bleibt die zynische Berufung auf die „Freiheit“ als letzter Instanz. Oder eine wahn-sinnige Aufrufung gestorbener Religionen und Ideologien, wie bei den „aktiven Nihilisten“ (white supremacist terror, IS).

Todd bezieht sich auf Indikatoren, die er für aussagefähiger hält als die rein ökonomischen: In den USA sinkt die Lebenserwartung, die Kindersterblichkeit steigt (trotz steigender Gesundheitsausgaben), ebenso der Alkoholismus und die Abhängigkeit von Opioiden. Die Bevölkerung ist – nach dem Niedergang der Arbeiterklasse und der Mittelklassen - „atomisiert“. Kurz:

Die amerikanische Demokratie ist im letzten Stadium. Das meritokratische Systemhat sein Ende rerreicht. Die oberen Klassen schließen sich ab... Die kleine Gipfelwelt ist eine oligarchische Gesellschaft, umgeben von ihren Abhängigen, die ihrerseits privilegiert sind. Und diese liberale, vom Nihilismus zerfressene Oligarchie... führt den Kampf des Westens gegen die autoritäre russische Demokratie... Dramatisch ist, dass diese Oligarchie über eine sich auflösende, in weiten Teilen fiktive Ökonomie herrscht.

Die Verantwortung für die Maidankrise schreibt der zuweilen „germanophobe“ Todd jedoch nicht Washington zu (trotz der Bemühungen Nulands), sondern der von Deutschland angetriebenen EU. Die Ukraine wurde simplement vor die Wahl gestellt: Europa oder Russland. Todd vermutet, dass Deutschland als perfekte „Gesellschaftsmaschine“ eher die aktive (Arbeits-)Bevölkerung als Landgewinn suchte. Dass die USA, die bei der Annexion der Krim still gehalten hatten, erst jetzt ernsthaft intervenierten, zielte auch auf auf Deutschland. Ab 2017 bewaffnete Trump die Ukraine. Biden setzte diese Politik fort. Die Zerstörung der Nordstream-Pipelines richtete sich offensichtlich nicht nur gegen Russland.

Das „große Schlachten“ dauert nun schon 2 unerträgliche Jahre an. Todd ist sich sicher, dass die ukrainische Niederlage eintreten wird. Ihre Konsequenzen für die USA wären: eine „germano-russische“ Annäherung (auch wenn dies momentan absurd klingt, ziehen sich die beiden Mächte an, so Todd), die De-Dollarisierung der Welt, eine enorme Armut. Das Buch endet pessimistisch:

Der soziologische Zustand Amerikas verbietet uns jede vernünftige Vorhersage über die letzten Entscheidungen der Führer. Vergessen wir nicht, dass der Geist des Nihilismus alles, absolut alles, möglich macht.

Ein kurzes Fazit nach einer langen Rezension: Todd hat ein aufregendes Buch geschrieben, gleichzeitig unterhaltsam und belehrend, originell und manchmal verstörend, mal links, mal erstaunlich konservativ. Er lässt manches aus, und sicherlich irrt er sich an einigen Stellen (wie kann es bei diesem Thema anders sein?). Es wird hoffentlich bald eine deutsche Übersetzung geben. Die Verhältnisse, sie rufen danach (wenn man genau hinhört).



  1. Emmanuel Todd, Où sommes nous? Une esquisse de l'histoire humaine. Paris 2017 (Seuil)

  2. Emmanuel Todd, La défaite de l'Occident, Paris 2024 (Gallimard)

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