Aufstehen und wieder hinsetzen?

Eine neue Partei? Mais oui! Wagenknechts neue Partei wird es schwer haben. Um keine "One woman show" werden, braucht sie ein gutes Kollektiv, ein linkes populäres Programm, den richtigen Zeitpunkt, die Bereitschaft, von Frankreich zu lernen und keine falsche Hoffnung.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die Zeiten ändern sich und wir uns in ihnen. Selten haben wir uns so ohnmächtig erlebt. Wer spricht noch von „einer neuen, einer besseren Welt“? Das "Prinzip Hoffnung" ist zum Trostwort für unsere individuellen Problemchen herabgesunken. Sein revolutionärer Stachel ist längst gebrochen. Auch das "Keine Hoffnung. Nirgends." ist zum geflügelten Wort geworden. Würde Bloch sein „Ein Marxist hat kein Recht, pessimistisch zu sein“ (1976) heute mit der gleichen (Selbst-)Sicherheit wiederholen? Der Kapitalismus hat wirklich 1000 Leben, die Menschheit ist wirklich von einem dritten Weltkrieg bedroht plus einer wirklichen Klimakatastrophe, die man ohnmächtig als „Klimakrise“ euphemisiert und deren „Kollateralschäden“ nur neue wirkliche Katastrophen erzeugen können.

Zum Trost ein ironischer Einwand: Es gibt wirklich „Zeichen der Wende“ (Bloch): Innenpolitisch: Wir alle heizen bald mit Wärmepumpen und fahren e-mobil zur Arbeit. Es gibt sogar einen gut vermarkteten Volksentscheid zur Klimawende. Außenpolitisch: Wir sind endlich „verteidigungsbereit“und “feministisch“, können also in eine rosige tellurische Zukunft sehen. Einziger Mollakkord: Unsere Leopardpanzer müssen den Feind immer noch fossilenergetisch angehen. Das ist zwar unschön, aber das kriegen wir noch hin. Schließlich soll alles so weitergehen, nur anders.

Es geht doch

Bleiben wir seriös: manchmal gibt es wirklich Anlass zur Hoffnung. Schauen wir nur über den Rhein und lernen nachbarlichen Respekt. In Frankreich „droht“ der gefühlt hundertste Versuch einer neoliberalen Rentenreform jämmerlich zu scheitern. Am Widerstand des Volkes. Der supercoole Präsident, hierzulande einst zum Retter Europas hochgejazzt, verzwergt im eigenen Land. Auch wenn er glaubt,"La Démocratie c'est moi", konnte er nur mit fragwürdigen Tricks sein Rentenprojekt durch die Parlamente bringen. Am Ende hing das Schicksal seiner Regierung an dünnen 9 Stimmen der bürgerlichen Rechten.

Das Bündnis der Linksparteien (NUPES) zerbrach nicht. Die letzten Minuten vor der abrupten Beendigung der Debatte durch die Regierungschefin erweckten tatsächlich die Bilder des Sommers 1789. Und die Marseillaise, dieses Lied der Revolution, zeigte ihre historische Kraft. Es folgten spontane Demonstrationen. Die Polizei reagierte - wie so oft und gern - oft mit brutaler Gewalt. Am 24. März erlebte das Land Gewerkschaftsdemonstrationen historischer Größe. Macron sah sich gezwungen, die pompös geplante Visite eines bekannten Monarchen zu canceln. Auch dies ist Kultur. Der (wegen der schönen Bilder) bekennende Fussballfan Macron (Paris SG und Nationalmannschaft) traut sich momentan nicht einmal mehr ins Stadion, weil ihn dort die Gesänge der verruchten Gelbwesten erwarten. Seit Wochen streiken und demonstrieren Millionen Menschen, aufgerufen von der "Intersyndicale" aller Gewerkschaften. Der Präsident hat sie bisher tapfer ignoriert. Das ist wohl vorbei.

Und die Rechtsrheiner? Erinnert sich jemand an die Massendemonstrationen zu Beginn der 2000er gegen die Riesterrente und die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 ? Wenn ja, sollte er sich Sorgen machen. Sie fanden nämlich so gut wie nicht statt. Es gab einen lauen Protestbrief des IG-Metallvorstands an Walter Riester. Ach ja: Göring-Eckhardt, rentenpolitische Sprecherin der Grünen, war auch nicht zufrieden: die steuerliche Begünstigung der privaten „Vorsorge“ war ihr nicht hoch genug. Nun ja.

Auch wenn in diesem Jahr in deutschen Landen mehr gestreikt wird (sogar mit Einverständnis der Bevölkerung), hat sich seit Heinrich Heine nicht sehr viel geändert:

Der große Narr ist ein sehr großer Narr, riesengroß, und er nennt sich deutsches Volk.

Die Franzosen, so Henri Heine, seien Republikaner.

Der Republikanismus eines Volks besteht, dem Wesen nach, darin: dass der Republikaner an keine Autorität glaubt, dass er nur die Gesetze hochachtet, dass er von den Vertretern derselben beständig Rechenschaft verlangt, sie mit Misstrauen beobachtet, sie kontrolliert, dass er also nie den Personen anhängt, und diese vielmehr, je höher sie aus dem Volke emporragen, desto emsiger mit Widerspruch, Argwohn, Spott und Verfolgung niederzuhalten sucht (Frz. Zustände, 1832)

Der arme Macron ist diese Behandlung schon fast gewohnt. Er pflegt dann dem Pöbel mit Polizeigewalt zu zeigen, wer der Herr im Elysée-Palast ist. Die Gelbwesten machten diese Erfahrung, momentan die Streikposten, gegen die nicht nur Tränengas, Knüppel und Geschosse einsetzt, sondern jetzt sogar Polizisten zu Pferde. Bei einer großen Umweltdemonstration am 25. März wurden über 200 Demonstranten durch Gasraketen zum Teil schwerverletzt (tiefe Fleischwunden, schwere Verbrennungen). Die Polizeigewalt ist ein Meister aus Frankreich. Die Herrschenden wissen warum. Je schwächer sie sind, desto schlimmer die Repression. Die nächsten Wochen lassen nichts Gutes erwarten.

Aber trotz alledem: die französische Linke ist immer noch mächtiger und „linker“ als die deutsche. Sie stellt zwar nicht das Regierungspersonal wie bei uns die SPD, aber diese als links zu bezeichnen, würde zwar deren Bauch bepinseln, aber den eigenen Kopf beleidigen. Der Insoumis Jean Luc Mélenchon wäre 2022 mit 20,95 Prozent der Stimmen beinahe in den zweiten Wahlgang gelangt (Le Pen hatte 1,3 Prozentpunkte mehr). Dass der deutsche Präsident Sozialdemokrat ist (war?), ist kein Argument.

Der Stimmenzuwachs der vereinigten Linken, leider aber auch des Rassemblement national hat verhindert, dass 2022 die Macronie die absolute parlamentarische Mehrheit gewinnen konnte. Beim ersten Wahlgang erreichte sie 25,66 % der Stimmen, fast ebensoviel wie die Macronie (25,75%). Zur Erinnerung: die Partei Die Linke kam im selben Jahr auf die astronomische Höhe von 4,9%. Das Argument, eine Koalition von SPD, Grünen und Linken vereine über 45% der Wählerstimmen, führt in die Irre. Denn zwischen den Programmen der deutschen Werte-Politiker und der NUPES liegen politische Welten. Die deutschen Revoluzzer wären in Frankreich Macronisten, ihre ganz Radikalen auf dem so genannten linken Flügel des Präsidentenwahlvereins.

Doch dann kam Sahra

Doch in der Gefahr wächst das Rettende auch. Sahra Wagenknecht könnte demnächst eine neue Partei gründen. Eine linke? Ihr Mann hat gute Beziehungen zum Insoumis Jean Luc Mélenchon, der ihn „mon camarade allemand Oscar“ nennt. Mit einer besonderen Betonung des „Allemand“. Mélenchon ist manchmal etwas germanophob. Aber trotzdem: Tut sich da etwa was? Gilt gar: Von Frankreich lernen, heißt siegen zu lernen? Wird da ein Traum wahr, der nicht nur Heine und Marx beseelte? Wagen wir einen Vergleich, natürlich unter der Prämisse, dass die Wirklichkeit noch viel komplexer ist, als es hier dargestellt werden kann. Aber: Ceci n'est pas un livre.

Beginnen wir mit den Hauptakteuren. Mélenchon und Wagenknecht waren einst Marxisten, Trotzkist der eine, die andere Leninistin. Beide gehörten lange dem linken Flügel einer sozialdemokratischen Partei an. Der Insoumis bezeichnet sich immer noch als „historischen Materialisten“ und verwendet nicht selten das Vokabular des Klassenkampfes. Wagenknecht ist diesbezüglich ziemlich konservativ geworden, eher Vertreterin des Genres "soziale Marktwirtschaft" (die echte natürlich). Das mag einige verärgern (darunter den Schreiber dieser Zeilen), vergrößert aber in Deutschland bekanntlich die Akzeptanz. Mélenchon hat 2012 – übrigens in Anlehnung an die deutsche Partei Die Linke – den Parti de gauche gegründet. Heute ist Wagenknecht auf dem Weg der Parteigründung. Ein erster Versuch, die Gründung der Gruppe "Aufstehen", war ein Flop. Der Zeitpuinkt war schlecht gewählt. Solche Erfahrungen gehören zum politischen Business. Mélenchon war, sage und schreibe, dreimal Präsidentschaftskandidat. Jedesmal scheiterte er, aber immer erfolgreicher. Das prägt. Nach der Friedensdemo in Berlin sieht es auch für Wagenknecht hoffnungsvoller aus.

Die Deutsche verfügt nicht über das Charisma des Volkstribunen. Sie argumentiert messerscharf, auch wenn dies weh tut, während sich Mélenchon bisweilen eine bestimmte Nebulosität erlaubt (erlauben darf). Sie ist eine gute Rednerin, wird aber in dieser Disziplin nie den Jean Jaurès-Bewunderer Mélenchon erreichen können. Trotzdem ist sie ihren meisten deutschen Kollegen und Konkurrenten rhetorisch überlegen. Es ist zudem die Frage, ob der (im guten Sinne) populistische „Style Mélenchon“, mit seinen historischen Anspielungen, Wortspielen, dem ostentativen „Ich weiß alles“-Gestus, dem Patriotismus, einer gewissen argumentativen Sprunghaftigkeit, aber auch mit seiner verletztenden Ironie beim stets auf Kompromiss geeichten deutschen Publikum gut ankommen würde. Historisch ist es nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen, wenn die Deutschen Solidität und Nüchternheit der Emphase vorziehen, sozusagen kein Wunder nach dem verlorenen Krieg. Es macht die Politik allerdings nicht schöner. Auch nicht interessanter.

Eine Stärke Mélenchons ist sicherlich sein Kollektiv. Natürlich stand der bald 72-Jährige lange im Zentrum. Den ersten Kreis der France insoumise bildet eine ganze Kohorte kompetenter und performativer Politikerinnen und Politiker in den Dreißigern und Vierzigern (Alexis Corbières, Clémentine Autain, Adrian Quatennens, Danièle Obono, Mathilde Panot,François Ruffin, Manuel Bompard u.v.a.m). Nach der letzten Wahl kam eine neue Generation von Abgeordneten hinzu, die auch vor spektakulären Aktionen nicht zurückschrecken, zur (nicht immer echten) Empörung politischer Gegner. Mit dem langsamen Rückzug des „Alten“ steht die Nachfolge-Frage an, ein nicht ungefährlichesThema. Erste Positionierungskämpfe lassen aufhorchen.

Wagenknecht ist keine echte Populistin. Ihre Stärke ist die möglichst widerspruchsfreie Analyse, nicht die Emotionalisierung der Massen (selbst wenn diese „gut gemeint“ ist). Dadurch wirkt sie für manche „kalt“ (ihre Gegner nutzen dies aus). Mélenchon ist, mit den Worten eines pfälzischen Bundeskanzlers, „Generalist“. Er ist gewissermaßen Spezialist für alles: für die Geschichte des Mittelmeerraumes, aber auch für Atomenergie und Raumfahrt. Wagenknecht fehlt diese „historische Tiefe“. In ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ singt sie gleichzeitig das Hohe Lied der „Gemeinschaftsorientierung“ sowohl des klassischen Konservativismus als auch der Arbeiterbewegung, obwohl sie – etwas hölzern formulierend – erkennt, dass die „Volksgemeinschaft“ nicht „zu Unrecht als Vorläufer des Nationalsozialismus angesehen wurde.“ Dieser „Seitenstrang konservativen Denkens“ sei jedoch „verdientermaßen mit den Nazis untergegangen.“ Schön wär's. Dass – Oskar Lafontaine dixit – mit solchen „Sekundärtugenden auch ein KZ leiten kann“, hat sie es wirklich nicht mitbekommen? Vielleicht sollte sie ihr Lob des „Linkskonservativismus“ doch noch einmal überdenken. Es ist für viele nicht leicht, diese Kröten zu schlucken. Aber wenn die „Linkskonservativen“, die zahlreicher sind als die „reinen Linken“ dadurch eher sozialistische Kröten schlucken, wwalkie? Wir werden sehen.

Wagenknecht ist Ökonomin. Während der Pandemie und auch in den gegenwärtigen Kriegszeiten hat sie aber bewiesen, wie schnell und gründlich sie sich komplexe Themen aneignen kann. Die Auftritte Alice Schwarzers im Kontext der Friedensdemo in Berlin haben jedoch gezeigt, wie notwendig die „emotionale Seite“ für eine neue linke Partei in Deutschland wäre. Wagenknecht deutet dies an, wenn sie sagt: Als One-Woman-Show kann ich das nicht.

Das Programm gibt es schon

Es geht also auch um die „Gesichter“ der Partei. Die Geschichte der France insoumise zeigt, dass das ganze linke Spektrum möglichst prominent vertreten sein müsste. Konkreter: (Fast) alle gesellschaftlichen Gruppen müssen repräsentiert sein, vor allem aber die Jüngeren. Das ist – in Deutschland – sicher noch schwieriger als im Land der Revolution. Es braucht ein umfassendes, die gemeinsamen Interessen der Bevölkerung berücksichtigendes Programm, was nicht zwanghafte „Volksgemeinschaft“ heißt, die sollte man rechts liegen lassen, bei der AfD. Antagonismen existieren real, sind offen zu diskutieren und dürfen nicht unter den Programmteppich gekehrt werden. Das ist wahrlich eine herkulische Aufgabe, eine kollektive.

Allerdings gibt es das Programm schon. Es heißt: „L'Avenir en commun“ und ist das ziemlich ausführliche Produkt kollektiver Arbeit innerhalb der France insoumise. Hier seien nur die groben Wegmarken erwähnt: Demokratisierung der Gesellschaft (Révolution citoyenne), Begrenzung der Oligarchenmacht, „ökologische Planung“ im Kontext der „sozialen Frage“, Schutz der „öffentlichen Güter“ (Wasser, Luft, Lebensmittel, Gesundheit, Energie), Rücknahme bestimmter Privatisierungen (Verkehr, Medien), Anti-Dumpingrecht, neue Arbeitsplätze (Umwelt, Gesundheit), „De-Finanziarisierung“ der realen Ökonomie, Stärkung der Gewerkschaften im Betrieb, ein „Autonomie-Einkommen“ für junge Leute, 32-Stunden-Woche, Rente ab 60, Erhöhung der Mindestlöhne, Schaffung öffentlichen Wohnraums, Abbau der Rüstungsindustrie und kollektive Friedenssicherung. Um nur diese Punkte zu nennen.

Natürlich müsste das Programm an die deutschen Zustände und die Umstände der „Zeitenwende“ angepasst werden. Eine Anknüpfung hätte aber nicht nur arbeitsökonomische Vorteile. Es ist von Ökonomen „durchgerechnet“, also finanzierungssicher. Vor allem würde es den Zusammenhang der Linken in Europa stärken (der berühmte franko-deutsche „Motor“). Die hat es bitter nötig. Schließlich sind im Juni 2024 Europawahlen.

Das Momentum

Zum Verständnis des relativen Aufstiegs der FI (und später der NUPES) ist die Erkenntnis der politischen Spaltung Frankreichs in drei ungefähr gleich starke Blöcke, nötig: die extreme Rechte, das „juste Milieu“ (Macronie) und die Linke. Letztere ist seit Jahren im Transformationsprozess. Das Schrumpfen des PS nach der neoliberalen Politik Hollandes und der Niedergang der kommunistischen Partei sind offensichtlich. Der Präsidentschaftskampf 2022 zeigte, dass beide Parteien, aber - erstaunlicherweise - auch die Ecolos keine große Akzeptanz fanden. Die NUPES war die vernünftige Reaktion auf diesen Prozess. Sie brachte immerhin 131 linke Abgeordnete ins Parlament, mit einer insoumisen Hegemonie (75 Abg.). Allerdings erreichte der Rassemblement national 89 Deputierte. Zu berücksichtigen ist auch der parallele Niedergang der bürgerlichen Rechten (Républicains), die allenfalls noch den Juniorpartner der Macronie abgeben dürfen (was sie mittelfristig in die Bedeutngslosigkeit führt).

Ein Vergleich mit den deutschen Zuständen ist ernüchternd. Nur aufgrund einiger Direktmandate kam Die Linke in den Bundestag. Angesichts der großen Krisen, vor allem des Krieges in der Ukraine wirkt sie saft- und kraftlos. In der öffentlichen Aufmerksamkeit hat ihr die extreme Rechte des Bürgertums (AfD) tatsächlich den Rang des „Enfant terrible“ abgenommen. So tapfer und fleißig ihre Abgeordneten auch sein mögen, so brav und bieder kommen sie rüber. Im Eifer, „positiv“ zu sein, was auch immer es koste, verlieren sie ihre letzten Wähler (darunter auch mich). Bewundernswert ist nur ihre Anpassungsleistung.

Die Situation für linke Parteigründer ist also recht günstig. Nach Umfragen können sich gegenwärtig fast 25% der Wahlberechtigten vorstellen, eine „Wagenknecht-Partei“ zu wählen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Partei 2026 auf reale 25% Abgeordnete käme. Relativ sicher würde sie jedoch die 5%-Barrière überspringen, im Unterschied zu Wagenknechts jetzigen Partei. Sie braucht aber überzeugende Personen und – vor allem – ein überzeugendes Programm, das auf Diskurs setzt, und nicht auf billiges Marketing. Der beachtenswerte Erfolg der France insoumise beruht auch auf der Kombination von Parlaments-, Gewerkschafts- und Straßenkampf. Und das müsste sich die neue Partei (zu)trauen. Und zumuten. In dem Verb steckt "Mut". It's Germany, stupid. Im obrigkeitsstaatlich geprägten Prusso-Teutonien ist ostentative Militanz verdammt schwer (wenn sie nicht von den ehrlichen Kindern der Bourgeoisie ausge(k)lebt wird). Und hier sind Witz und Phantasie gefragt. Der Chef der France insoumise hat davon im Übermaß. Das kann und sollte man von Wagenknecht nicht verlangen, aber ein Schuss Esprit und Lust an der Moquerie wären schon gut. Auf die Kabarettisten sollte man sich nicht verlassen. Auf die Journalisten (außer denen des FREITAG) schon gar nicht. Wie wär's mit Praktika bei den Genossen der FI?

Langer Atem

Die FI profitiert(e) vom Niedergang der sozialistischen und der kommunistischen Partei sowie dem politischen Stagnieren der Ecolos. Das präsidiale System Frankreichs ist auf personale Wahlkämpfe fokussiert. Entsprechend sind die politischen Parteien/Bewegungen konstruiert (Macron, Le Pen, Mélenchon). In der Bundesrepublik fehlt zumeist diese charismatische Seite der Politik. Nach dem Faschismus ziehen wir in Ost und West eher den drögen Typus des höheren Verwaltungsbeamten vor. Ausnahmen bestätigen die Regel. Doch nun scheint uns die Postdemokratie erreicht zu haben.

Ist demokratischer „Populismus“ à la fran­çaise auch in Deutschland möglich? Dass die sozialdemokratischen Parteien SPD und Die Linke in eine (zumindest für letztere letale) Vertrauenskrise gerutscht sind, ist evident. Die CDU und ihre bayrische Cousine sind sichlich gealtert. Die Grünen haben sich selbst entzaubert. Ihr Wesen ist erschienen. Wenn das keine Okkasion ist! Aber Vorsicht. Kann Wagenknecht Kanzlerin? Natürlich. So gut wie Scholz allemal. Aber sie kann es nicht werden. Die drei politischen Blöcke werden wohl auch bei uns fester werden: die (mehr oder weniger) extreme Rechte wird sich mit den Krisen weiter konsolidieren und heftig in die Mitte blinken, ihre "Regierungstauglichkeit" signalisieren. Das Juste Milieu (CDUCSUSPDFDPGRÜNE) wird schrumpfen, aber ihr Terrain mit Zähnen, Klauen und Sascha Lobo verteidigen. Der linke Block wird neuen Partei Wagenknechts vorbehalten sein. Das reicht bei weitem nicht. Um die (immer noch relative) Kraft der NUPES zu gewinnen, muss sie sich notwendigerweise mit Überläufern oder Vertriebenen des Juste Milieu stärken, sozusagen eine „Neue Ökologische und Sozialistische Populäre Union“ (NOSPU) kreieren. Und das wird verdammt, verdammt schwer. Der Aufstieg kann nur in den Kommunen und Ländern initiiert werden. Er braucht den Mut zu Irrtümern, zum "Try again. Fail better" (Samuel Beckett). Vor allem (Frustrations-)Toleranz ist nötig, eine Tugend, die Linken ja besonders schwer fällt. Kein Wunder, nach all den Erfahrungen.

So wird es sein. Ganz sicher.

Gönnen wir uns zum Schluss einen Blick in die Kristallkugel.

Winter 2024/25. In Genf ringen die Ukraine und Russland um eine endgültige Festlegung der Grenzen (und die erstaunte Menschheit erkennt, dass es die vom Minsker Abkommen sein werden). Aber immerhin schweigen sie, die Waffen des Todes. Dafür spitzt sich die "Taiwankrise " weiter zu. Der Ton wird überall rauer und härter. Ein neues „Sondervermögen“ für Verteidigung ist gerade aufgelegt worden. Die neue linke Partei hat von der allgemeinen Friedenssehnsucht profitiert und ist locker ins Europaparlament gelangt (SPD, FDP und Grüne haben stark verloren, die CDU leicht gewonnen, die AFD weniger als erwartet, Die Linke verwaltet ihre 0,9%). In Frankreich hat die NUPES starke Zuwächse. Allerdings sind ihre Mitglieder im Europaparlament in unterschiedlichen Fraktionen, was nicht nur Nachteile hat.

Bei diesem „Luxusproblem“ ist die neue deutsche linke Partei noch lange nicht angekommen. Der Bundestagswahlkampf wirft seine Schatten voraus. Die bisherige Unfähigkeit, die vielen Probleme der Dauerkrise zu lösen (überdies kündigt sich eine neue Pandemie an), führt zu weiterer Verelendung der Bevölkerung. Prognosen verunsichern die Mainstreamparteien (Forsa, im März 2025: CDU 20%, SPD, 13%, FDP 3,85%, Grüne 9%, Die Linke 1,3%, AfD 15,5%, die neue linke Partei 17%, sonst. 7%, unentschieden 13%). Damit setzt sich der Trend, der sich bei den Landtagswahlen im September 2024 andeutete, fort. Die Parteien des deutschen Juste Milieu verlieren, die AfD hat leichte, die neue linke Partei starke Zugewinne.

Der neue Slogan der Partei lautet: „Mehr Wagenknecht wagen“. Die Medienhelden und ihre Followers reagieren mit Verballhornungen (auf dem Niveau der „Wagenknechte“) und Putinismen. Wagenknecht würde nur "polarisieren". Die neue linke Partei kontert diesmal mit Esprit. Wagenknechts neues Buch „Durch das Volk, für das Volk, mit dem Volk“ wird publikumswirksam durch Jean Luc Mélenchon vorgestellt. Dabei warnt der fast 74-Jährige vor den Gefahren des Begriffs „Volksgemeinschaft“ sowie vor jeder Zusammenarbeit („Collaboration“) mit der extremen Rechten. Und er zitiert tatsächlich Heinrich Heine. Wagenknecht nimmt dies etwas pikiert zur Kenntnis.

Deutlich wird: Da verändert sich etwas. Die TIMES covert: “Eastern Power: First Dr. Merkel now Dr. Wagenknecht“. Und die deutschen Medien fragen immer wieder: "Wollt ihr diese Frau als Bundeskanzlerin"? Leider versagt mir an dieser Stelle die Kristallkugel, dieses unzuverlässige Zeug, den Dienst. Ich verlasse mich daher auf mein Gefühl und sage: Natürlich könnte sie, aber sie wird es nicht. Weil die Mehrheit der Deutschen sie nicht will. Noch nicht?

Der Beitrag begann mit einer Art Apokalypse, einem trostlosen It's all over now. Seien wir ehrlich, wie man in letzter Zeit so oft sagt: eine neue linke Partei wäre schon schön, aber so viel ändern würde sie erst einmal nicht.

Und darum zurück zum Blochschen "Ein Marxist hat kein Recht, pssimistisch zu sein". Er hat aber das Recht, nicht optimistisch zu sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden