Fahnenleid - eine historische Elegie

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Ich möchte zur Fussball-WM eine Götterspeise in den Deutschlandfarben machen, bittet Kordula auf Chefkoch.de um nationalkulinarischen Rat. Vielleicht antwortet ihr der Chefkoch der deutschen Nationalmannschaft. Der serviert nämlich, wie der SPIEGEL berichtet, im Trainingslager Knödel in Schwarz-Rot-Gold (SRG). La cuisine teutonique est une cuisine totémique.

Es ist wieder soweit. An der Supermarktkasse wird seriell gefragt, ob der Kunde Bonuspunkte oder die Fahne wolle. "Ich gebe doch an der Kasse nicht meinen Vertand ab!" höre ich mich knurren, was mir sofort wieder leid tut. Was kann die Kassiererin dafür, für einen Hungerlohn und in unbezahlter Mehrarbeit Cash oder Nationalsymbol anbieten zu müssen? Übrigens ziehen die meisten Kunden, und nicht nur Männer, zufrieden mit der Fahne ab.

Ich mag Fussball, manchmal sogar sehr - und doch brechen schwere Zeiten für mich an. Ich leide nämlich an Nationalflaggenresistenz. Bei "gesunden" Menschen lässt der Anblick der nationalen Lappen das Herz höher schlagen, wie Flaubert im "Wörterbuch der Allgemeinplätze" notiert. Bei mir ist es anders. Ich habe mir zwar im Laufe meines Lebens ein historisch-politisches Immunsystem zugelegt, das abklärend wirkt, doch pflegt dieses in Zeiten wie den gegenwärtigen regelmäßig zu versagen. Und das Schlimme ist: Ich weiß wie bei jedem chronisch wiederkehrenden Disease, was demnächst passieren wird. Es beginnt mit einfachen allergischen Reaktionen wie Seufzen bei vereinzelt auftretenden beflaggten Kleinwagen, geht weiter mit verstärktem ostentativem Kopfschütteln beim Auftritt der "Leistungsträger" im doppelt beflaggten BMW oder Audi (allerdings erst nach dem Eingreifen "unserer Jungs" bei der WM) und kulminiert in lautem Madigmachen der deutschen Mannen und anschließender Flucht beim Erblicken der ersten Flaggenflotille. "Idioten!" denke ich dann halblaut oder "Fahren für den Sieg!"

Fahnen sind sichtbar gemachter Wind, schreibt Elias Canetti. Doch auf die Richtung kommt es an. Nehmen wir die Trikolore, wahrscheinlich entstanden aus einem Geniestreich des Marquis de la Fayette, der kurz vor dem 14. Juli der weißen Uniform der Nationalgarde das Rot und Blau der Pariser Milizen zuordnete. Mit welchen Konsequenzen! Historisch halt, so wie das Wir weichen nur der Macht der Bayonnette Mirabeaus. Und wie das weiter geht! Ca ira! Les aristocrates à la lanterne! Delacroix und seine "Freiheit führt das Volk". Wer möchte dieser Freiheit nicht die Trikolore aus der kräftigen Hand nehmen und weiterreichen. Voilà camarade!

Sichtbar gemachter Wind. 1848 allerdings eher Turbulenzen. Da ist einerseits die Trikolore der Bourgeois-Citoyens, andererseits aber schon die rote Fahne der Prolétaires-Citoyens. Unerbittlich wird gerungen - auch mit Sprüchen wie diesem: Bis zum Tod werde ich gegen diese Blutfahne kämpfen! (Lamartine gegen die rote Fahne). Die Commune wird antworten: Wir wollen sie nicht mehr, die Lügnerfahne eurer schändlichen Republik! (Le Père Duchêne). Die Trikolore siegt. Il est bien court le temps des cérises, wie das Lied der Commune wehmütig feststellt: Die Zeit der Kirschen ist sehr kurz. Da ist Dramatik und politische Poesie. Ich gestehe, dass ich heute noch mitfiebere.

Doch warum nervt mich die deutsche Flaggenfarce? Nun, die deutschen Winde werden anders "sichtbar". Es sind auch die, die bei der Unterdrückung der Kommune mitgeholfen haben. Selbst das "nette" SRG beginnt widersprüchlich und gewissermaßen konterrevolutionär gegen Napoléon mit den gelben Knöpfen und roten Aufschlägen auf den schwarzen Waffenröcken der "deutschen Freischar" (Lützower Freikorps), quasi als Referenz zum Kaiserbanner ("Gott erhalte Franz den Kaiser",schon damals!). Der frankophobe antisemitische Turnvater Jahn macht für seine Purschen daraus die "teutsche Volkstracht". Bittertraurig macht sich Heine über die schwarz-rot-goldenen Krähen des Wartburgfests 1817 lustig, und auch wenn er das liberale Hambacher Fest 1832 mit seinen SRG-Flaggen emphatisch begrüßt, verachtet er die heldenmütigen Lakeien in schwarz-rot-goldener Livrée zutiefst. Es ist einfach zuviel Hölzern-Pedantisches darin. Die "Helden" sind von den Herrschenden geschnitzt.

Ich weiß. Die Revolution! Achtzehnhundertachtundvierzig! Und ein Freiligrath, der zu schillern versucht: Ha, wie das blitzt und rauscht und rollt!/Hurra, du Schwarz, du Rot, du Gold!" Brrr! Kein Wunder, dass ein solcher Revolutionär später zu Schwarz-Weiß-Rot (Schwarz-Weiß für Preußen, Rot für die Hansestädte) "konvertiert" und mit "Hurra, Deutschland!" für die Gartenlaube dichten darf. Und mit Schwarz und Weiß haben wir auch das historische Ehrenkleid "unserer" Addidas-Boys. Übrigens SRG, die ach so demokratische Fahne, flattert weiterhin bei den permanent strammen deutschen Turnern und der antisemitischen Schönerer-Bewegung.

1918 werden endlich andere Winde "sichtbar". Die USPD kann natürlich die rote Fahne nicht durchsetzen, die KPD ist außen vor, und die konservativen Parteien scheinen sich sicher zu sein, sehr schnell wieder national Schwarz-Weiß-Rot flaggen zu dürfen. Nun, die Folge ist bekannt: Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen! Dass der NS-Fahnenkult bis heute Auswirkungen hat - als eher unsichtbarer Wind - muss wohl nicht erklärt werden: Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit.

Aber, ich rege mich nicht auf. Wir haben ja wieder SRG, sogar überall sichtbar. Und wir können der SPD danken (endlich einmal), dass der CDU-Entwurf von 1948 sich nicht durchsetzt: auf rotem Grund ein schwarzes, auf diesem ein goldenes Kreuz! Und außerdem geht es doch nur um Fussball, sagt man mir. Und es wird doch in ganz Europa geflaggt. Die wollen nur spielen. Gönn' es ihnen doch einfach!

Die wollen nur spielen! Ha! Wie nach dem Ersten Weltkrieg, den es brauchte, um den Fussball in den Massen zu implementieren. Wer gegen einen Ball tritt, tritt keinen Polizisten, hat ein englischer Politiker der Zeit formuliert. In Deutschland wird Fussball der Sport der national denkenden die Deklassierung fürchtenden Angestellten. Die Vereine heißen bekanntlich "Borussia", "Arminia" und "Teutonia". Entsprechend die "Aufstellung": "Verteidigung", "Flügel", "Flanken", "im Felde", "Spielkaiser". Der einzige "Bürgerliche" ist der Schiedsrichter, der einen Bowler-Hut trägt. Übrigens und zum Beispiel trainiert in den frühen Zwanzigern der Freikorps (schon wieder!) Oberland bei 1860 München. Und immer wieder Fahnen.

1954 werden "natürlich" die drei Strophen der Hymne gesungen, nachdem Heuss zwei Jahre vorher resigniert seinen Widerstand aufgegeben hat: Ich habe den Traditionalismus und das Beharrungsvermögen unterschätzt. 1978 (Achtundsechzig ist glücklich überstanden, mit den Terroristen wird man auch noch fertig) weist Meyer-Vorfelder (ja, der!) als Kultusminister die Lehrer an,ein natürliches Verhältnis auch zur ersten Strophe zu entwickeln.

Die "Natürlichkeit" des nationalen Flaggens. Da liegt wohl die Ursache meiner Allergie. "Natürlich" ist in der Geschichte wenig. Der neue (aber auch schon über zwanzig Jahre alte) "Patriotismus" ist hohl. Ihm fehlt die Dramatik etwa der französischen Fahnengeschichte des 19. Jahrhunderts. Und er ist ein arg durchsichtiges Manöver - wenn man hinsehen will. So schreibt der Verfassungsrichterstar Udo Di Fabio: Nur wenn sich eine gewisse Anzahl von Menschen als Schicksalsgemeinschaft will, große Erzählungen miteinander teilt, über den sportlichen Erfolg der eigenen Nation jubelt ..., ist der Einzelne als Teil dieser Gemeinschaft bereit, die Hälfte seines Einkommens für eine abstrakte Infrastruktur abzugeben ... oder gar sein Leben im Kampf für den Bestand der Gemeinschaft aufzuopfern.

Sichtbar gemachter Wind. Hier liegt die Betonung auf "gemacht". Manchmal kommt es mir vor, als ob die Fahnenfarce alle vier Jahre als riesiger Feldversuch durchgeführt wird, um die Herrschenden zu versichern, dass der Nationalismus immer noch funktioniert. Und wie! Die Wirtschaft "stiftet" die Symbole, die Medien verwerten sie, und die Politiker sonnen sich im "Glanze dieses Glückes". Ich sehe ihn schon, den SRG-betuchten neuen Bundespräsidenten, wie er nach dem Endspiel die verschwitzten Hände "unserer" Vizeweltmeister drückt.

Es funktioniert halt - und in Deutschland immer ein wenig besser. Es geht nämlich um die "Volksgemeinschaft" (die übrigens auch locker-flockig daher kommen kann).Ich finde allerdings mit Ludwig Thoma: Kein Laster ist so widerwärtig wie die Tugend, die sich vor der Öffentlichkeit entblößt .

Ich werde mir wohl ein windgeschütztes Plätzchen suchen müssen.

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