Freiheit für Teutschland - Freiheit von den Juden?

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Wie jeder geschichtsbewusste Deutsche zu wissen hat, versammelten sich - der Reformation und der "Völkerschlacht bei Leipzig gedenkend - am 18. und 19. Oktober 1817 fast fünfhundert Demonstranten auf der Wartburg. Das übliche historische Narrativ geht so: Am Abend versammelten sich die Studenten und Professoren an einem Feuer und warfen Symbole der Unfreiheit hinein: den Stock eines Unteroffiziers, den Schnürleib eines Offiziers, einen Zopf - und Bücher, die die alte Ordnung rechtfertigten. Die Fürsten und ihre Minister waren empört. So "Mitmischen", 2. Band, Stuttgart 2007. Ähnlich das DDR-Werk, Geschichte in Übersichten, Berlin 1982: Nach den Befreiungskriegen ... waren es vor allem Wissenschaftler und Studenten, die mit Forderungen nach bürgerklichen Freiheiten und nationalstaatlicher Einheit auftraten... Ihre Farben waren Schwarz-Rot-Gold. Am 17. 10. 1817 fanden sich über 450 Studenten von 13 deutschen Universitäten und einige Professoren auf der Wartburg zu einer eindrucksvollen Kundgebung zusammen. Darunter: eine Abbildung bücherverbrennender Studenten mit der Erklärung: "Verbrennung reaktionärer Schriften auf dem Wartburgfest der deutschen Studenten."

Bücher, die die alte Ordnung rechtfertigten? Reaktionäre Schriften? Nun, es waren Bücher, die der Jenaer Philosophieprofessor Fries und derallseits beliebte "Turnvater" Jahn ausgesucht hatten, Bücher "bonpartistischer Schildknappen", der liberale Code Napoléon, Werke August von Kotzebues und die "Germanomanie" des jüdischen Autors Saul Ascher, welche mit dem Ruf Wehe den Juden, so da festhalten an dem Judenthume und wollen unser Volksthum und Deutschthum spotten und schmähen! in die Flammen geworfen wurde.

Dies brauch(t)en unsere Schüler wohl nicht zu wissen. Vielmehr werden die deutschen Tümler als "Freiheitskämpfer" heroisiert, als unerschütterliche Revolutionäre gegen die fürstliche Unterdrückung, quasi Prototypen der Revolutionen von 1848 und 1989. Unterdrückt wird vor allem eines: das Wissen darüber, dass unter diesen "teutschen Biedermännern" oft ordinäre Antisemiten waren.

Natürlich ist der "romantische Antisemitismus" etwa eines von Arnim oder eines Brentano bekannt (auch erkannt?). In der Märchenforschung wird der "Jude im Dornbusch" der Brüder Grimm (Ausgabe 1815) diskutiert. Der Antisemitismus Ernst Moritz Arndts, dem der Freiherr von und zum Stein eine Hühnerhundnase zum Aufwittern verschiedenen Blutes nachsagte, ist notorisch. Weniger bekannt sind die Elaborate des Juristen Carl Wilhelm Grattenauers, dessen "Wider die Juden" (1803), mit enormen 13000 Exemplaren aufgelegt, des Orientalisten Oluf Tychsen, der die "Zigeuner" zu geflüchteten Juden erklärte oder der Philosoph Friedrich Buchholz, der in "Moses und Jesus" (1803) dekretierte, es sei ausgemacht, dass Mensch und Jude sich nicht miteinander vertragen.

Die so genannte Judenfrage war also ein "leidenschaftlich diskutiertes Thema", wie der Historiker Peter Fasel in seiner spannenden historischen Studie zu "Revolte und Judenmord" formuliert (1). Dies gilt vor allem für die Zeit der Reformgesetze. 1812 erließ der Staatskanzler Hardenberg sein "Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse im preußischen Staate", das die Juden weitgehend emanzipierte (die Staatsämter blieben allerdings weiterhin gesperrt) und die Deutschtümler schäumen ließ.

Unter den extremen Antisemiten findet sich ein gewisser Hartwig von Hundt-Radowski, dessen "Biografie eines Demagogen" Fasel analysiert.

Da ist die Erziehung. Der Vater ist ein bürgerlicher Rittergutbesitzer. Als schwärmerischer Pietist ist er streng antijudaistisch. Das 1780 geborene Kind Hartwig ist - wie viele andere damals auch - mit Krankheiten geschlagen (Pocken, Scharlach, Migräne). Hartwig hat die in seinen Kreisen übliche Bildungsgeschichte (diverse Hauslehrer, intensive Lektüre, vor allem von Klopstocks Messias und des Alten Testaments). Bezeichnend sind die zeittypischen Versuche, die Sexualität zu unterdrücken - es ist die Zeit des Docteur Tissot -, mit den entsprechenden Ängsten und Projektionen - auf die Juden. Fasel spricht m.E. zu Recht, spätere autobiographische Aussagen Hundts analysierend, von der Entwicklung einer "autoritären Persönlichkeit", auch schon Ende des 18. Jahrhunderts.

Hundt beginnt früh zu trinken und zu spielen - auch hier unterschied er sich nicht allzu sehr von seinen gleichaltrigen Standesgenossen. Er heiratet und erhält ein Rittergut. 1804 erschüttert eine Welle von Konkursen die heile Welt der Mecklenburger Gutsbesitzer. Simultan erobert Napoleon das alte Europa und wird zum Hassobjekt des teutschen Nationalismus. Auch wenn der schließliche Verlust des Familienbesitzes ihn tief prägt, kann er auf Kosten seines Schwiegervaters Jura zustudieren - in der Weltstadt Helmstedt.

Hundt gelangt nach Berlin und erlebt den Höhepunkt des antinapoleonischen Patriotismus. Fasel stellt überzeugend die Anfälligkeit gerade der bürgerlichen Autoren für den Nationalismus dar. Hundt literarisiert. Er veröffentlicht Gedichte à la Körner: O Vaterland erwache! Damit stimmt er ein in den völkischen antifranzösischen Mainstream. Er beklagt sexualneidisch, dass sich zahlreiche deutsche Frauen mit den transrhenanischen Fremdlingen eingelassen haben. Die "deutsche Schande" nach dem ersten Weltkrieg hat Vorläufer. Dabei zeigt er sich durchaus "bürgerlich": vehement kritisiert er den Egoismus des französischen Adels, der die Revolution erst ermöglicht habe.

Zwei Jahre nach dem Wartburgfest ermordet der Teilnehmer und Burschenschaftler Sand August von Kotzebue, weil er als Anhänger der Fürsten galt. Nun beschlossen die Staaten des Deutschen Bundes harte Maßnahmen gegen all jene, die mehr Freiheit verlangten. So formuliert es das oben zitierte Geschichtsbuch "Mitmischen 2". Einer dieser Freiheitskämpfer, Arndt, hatte von Kotzebue netterweise als "deutsche Schmeissfliege" bezeichnet. Jedenfalls begannen die "Demagogenverfolgungen". Die Chance für einen wie Hundt, sich einen (Markt)Namen zu machen. Er beschreibt von Kotzebue als nicht "echt" (das "Echte" war schon damals das Kriterium für Nationalisten und Antisemiten) und als - natürlich - "Vaterlandsverräter". Marktkonform radikalisiert er sich: der Adel hemme das "Wachstum" der deutschen Bevölkerung (schon damals gab es "demographische" Faktoren). Und er beginnt sich auf die Juden zu fokussieren. "Ungeziefer" seien sie alle.

Im Zuge der "Demagogenverfolgung", die die großen Märtyrer der Freiheit, also Jahn, Arndt und Görres trifft, muss auch der "auteur mineur" Hundt fliehen. Er soll bis zu seinem Tode ein unstetes Leben führen müssen. In dieser Situation entwickelt er eine regelrechte Paranoia. 1819 finden die antisemitischen "Hepp-Hepp-Unruhen" statt. Hundt ist enthusiasmiert. Diese Unruhen sind für ihn das Wetterleuchten der großen nationalen Erhebung. Sein "Judenspiegel" (1819), der - wie Fasel zeigt - in einer langen Tradition von (Mach)Werken gleichen Titels steht - steigert die "Intransigenz und Radikalität des Antisemitismus". Es finden sich alle Ideologeme inklusive des allmächtigen Geschlechtstriebes, eine Idee, die Antisemiten besonders umtreibt, wie schon Horkheimer/Adorno konstatierten. Hundt exponiert auch die Idee, die Juden zu vertilgen. Er präformuliert ebenfalls die Dichtotomie des "raffenden und des "schaffenden Kapitals": Der Nichtjude betrachtet Gold und Silber nur alks Mittel zum leben, der Jude hingegen hält es für den Zweck des Lebens. Entsprechenddie "Lösungsvorschläge": Absonderung, Enteignung, Versklavung und Zwangsarbeit, Unfruchtbarmachung, Deportation und "Vertilgung", unter anderem durch Mithilfe fremder Völker.

Der "Judenspiegel", in einem kleinen Format, aber in großer Auflage erschienen, ist im Nu vergriffen - trotz (oder wegen) des sofortigen Verbots durch große deutsche Staaten, ein Hinweis auf eine gewisse Akzeptanz im deutschen Bürgertum.

Der Autor - weiterhin unstet lebend und dem Alkohol zugetan - radikalisiert sich weiter. Drei Jahre später erscheint der erste Band der "Judenschule", Hundts antisemtisches Hauptwerk. Es bringt die bekannte Unterscheidung von schwarzen und weißen Juden. Unter letzteren finden sich Napoléon, Augustus, Nero, Richelieu. Der Richtigkeit seiner Aussagen ist er sich völlig sicher: Fragen Sie in Palast und Hütte, den Reichen und den Armen ...

Und doch. Ähnlich wie später Marr, der Erfinder des Begriffs Antisemitismus, kommt er gegen Ende seines Lebens scheinbar liberal daher, als "regenerierter Deutschtümler" (Heine). Fasel weist aber nach, dass der Verteidiger des Polenaufstandes 1831, als den Hundt-Radowsky (wie er sich nun nannte) sich zeigte, weiterhin als Rassist agierte. Der antifranzösische Antisemit erweitert sein Register in Richtung Antislawismus und bezeichnet die Russen als dumme Thiermenschen. Russland müsse zerschlagen werden. Auch hier also eine Vorwegnahme.

1835 stirbt der exzessive Trinker Hundt. Ein Nazi avant la lettre. Seine kaputte Lebensgeschichte erinnert an die vieler SS-Größen, die Himmler um sich scharen sollte (adlige, bürgerliche Herkunft, wirtschaftliche Krisen, Alkoholismus, Paranoia, Autoritarismus - und Neuanfang im antisemitischen Milieu).

Ein Einzelfall in seiner Zeit? In der Radikalität gewiss. Gleichzeitig aber ein Produkt eines zum Teil liberalen, immer aber nationalistischen Milieus, in dem Antisemitismus gesellschaftsfähig war.

Das steht jedoch nicht in den Geschichtsbüchern. Noch nicht?

(1) Peter Fasel, Revolte und Judenmord. Biografie eines Demagogen. Berlin 2010 (Metropol)

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