Die harte Linie

Gérald Darmanin. Ein Portrait. Frankreich erlebt eine tiefe soziale Krise. Die Streiks und Massendemonstrationen in Frankreich nehmen kein Ende. Macron ist zunehmend isoliert. Sein karrierebewusster Innenminister gibt sich als "starker Mann" gegen den linken "Terror".

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Vorwarnung an die Objektiven. Ich hatte gehofft, über ihn nicht schreiben zu müssen. Monsieur le ministre de l'Intérieur ist so etwas wie meine „Bête noire“. Ich kann ihn nicht ab. Der folgende Text mag deshalb Elemente eines bösen Willens enthalten, den ich eigentlich nicht haben will.

Mit Methode

Gérald Darmanin ist seit fast drei Jahren Innenminister. Im Juli 2020 löste er den unseligen Christophe Castaner ab. Der Ex-Sozialist und Bürgermeister von Forcalquier hatte sich zwar im Verein mit einem martialischen Polizeipräfekten im Kampf gegen die Gelbwesten „bewährt“, aber seine Lügen waren – selbst für die ebenso gern lügende Macronie – zu dick. Und für die (sehr) rechten Polizeigewerkschaften war er zu liberal. Darmanin schien diesbezüglich zugleich härter und smarter. Schon als Finanzminister hatte er sich gut verkauft. Als einer, der alles im Blick hat. Und als ein ganz Cooler, an dem Affären, die anderen den Kopf gekostet hätten, einfach abtropfen. Darmanin ist halt da, wenn man ihn braucht. Ein Mann, auf den man sich verlassen kann.

Gérald Darmanin war mit seinen 37 Jahren der jüngste Innenminister der Fünften Republik. Der Posten machte ihn zu einem politischen Schwergewicht im Ministerkabinett. Seit dem Operettenempire Napoleon III. regiert (residiert) der Innenminister im Palais Beauvau, ganz in der Nähe des Élyséepalastes des Präsidenten. Dem Minister obliegt unter anderem die Régie der Polizei, was das Innenministerium automatisch zur "rechten Hand des Staates" (Bourdieu) macht. Immerhin gibt es 150.000 Polizisten und 100.ooo Gendarmen in der Republik. Vertreten werden diese von oft rechten Gewerkschaften. Und, "Tradition oblige", jeder Innenminister muss sich an seinen Vorgängern messen lassen, den historischen (Thiers, Clemeceau, Mitterand) und den rezenten (Sarkozy, Valls, Caseneuve).

Darmanin war kein Senkrechtstarter. Seine Karriere war ihm wahrlich nicht in die Wiege gelegt. Das unterscheidet ihn signifikant von seinen politischen Freunden, den konservativen wie den liberalen. Geboren ist er in Valenciennes, im armen, ent-industrialisierten Norden. Da gibt es keine Eliteschule, keine ENA, die distinktiven Merkmale der Upperclass müssen erst mühsam eingeübt werden. Und trotzdem erkennt „man“ den "Transclasse". "Manche Klassenreflexe bleiben einfach", schreibt Eribon. Darmanin weiß dies und kokettiert mit seiner „modesten“ Herkunft, macht sie noch „bescheidener“, als sie ist. Die Mutter war Concierge bei der Banque de France; er macht sie zur Putzfrau. Der Vater, Sohn seines algerischen Einwanderers, seinerseits Held der Libération, war nach dem Verkauf seiner Kneipe Bouquinist. Und trotzdem konnte Gérald ein traditionell katholisches Privatgymnasium in Paris besuchen. Glück , Kompetenz, Anpassung? Er selbst gibt sich stolz:

Auch wenn man der Sohn von Einwanderern und Arbeitern ist, hat man nicht weniger Chancen, Erfolg zu haben. Ich habe immer gefunden, dass Bourdieu absolute Dummheiten verkündet hat.

So einfach ist das. Die Bourdieu-Kritik ist in bestimmten Kreisen ein "Must to do". Auch bei Macron (der seine sehr bourgeoise Herkunft mystifiziert) findet sich diese ur-alte Legitimation des „Alles-was-ich-bin-habe-ich-durch-harte-Arbeit-erreicht.“ Angeblich beschloss Gérald mit 12 Jahren, Politiker zu werden. Folgerichtig besuchte er die „Sciences-Po“-Filiale in Lille (und erfüllte damit die soziale Mindestbedingung einer politischen Karriere). Allerdings musste er ein Jahr wiederholen. Ein guter Freund riet ihm auch deshalb von der Ecole normale de l'administration (ENA), DER Karriere-Durchlaufstation des bourgeoisen Nachwuchses, ab. Die Eingangsprüfung würde er sowieso nicht schaffen.Für ihn sei es vernünftiger, den direkten Weg in die Politik zu wählen.

Und das tat Darmanin. Systematisch. Im Winter 2002 gründete er an seiner Fakultät einen „Club de réflexion politique“. François Fillon, Gründungsmitglied der „UMP“ und späterer Regierungschef, hatte diese Clubs angeregt, um im eher linken studentischen Milieu Fuß zu fassen. Sein vorgeschriebenes dreimonatiges Praktikum machte er als Parlamentsassistent des Rechtsgaullisten (und heutigen Le-Pen-Anhängers) Christian Vanneste, der – wie geplant - zu seinem Mentor wurde. Es gibt ein Kurzvideo aus dem Jahr 2006, in dem Darmanin, mit der gleichen Posture, den gleichen Gesten und dem gleichen Sprachtempo wie heute gegen die Blockade seiner Uni spricht. Man hört die Stimme seines Herrn:

Eine universitäre Einrichtung zu blockieren, wäre genauso faschistisch, wie einen Autor wegen homophober Sätze gerichtlich zu verfolgen.

Das sind keine spontanen Sätze. Der Autor, den er meinte, war natürlich Vanneste. Selbst die eingeplanten Buhrufe und der Applaus scheinen geplant. Ein Politiker muss polarisieren. Im Fall Darmanin: ein tapferer Rechter trotzt der gewaltbereiten Linken. Der ambitionierte junge Mann wurde Delegierter im 10. Wahlkreis Nord. Und er machte sich an die (Karriere-) Arbeit. In einem Interview aus dem Jahr 2005 (er ist 22 Jahre alt) beschreibt er seine „Methoden“:

Um neue Anhänger zu finden, treffe ich Leute. Ich muss die Initiative ergreifen, voilà. Aber das sind Leute, die dir erklären, dass sie nicht sehr aktiv werden wollen. Gut. Sehr gut. Du gehst durch die Viertel, intervenierst, um ein lokales Problem zu lösen, und du bekommst drei, vier Parteianträge. Die Leute sagen sich: „Vielleicht werde ich doch Mitglied.“ Und dann werden sie es doch nicht. Aber wenn du sie besuchst, wenn du mit dem Antrag kommst, wenn du ihr Problem drei Wochen vorher löst, nun, dann sagen sie sich: “ Das ist ein guter Typ“.

Es war die „Methode Vanneste“. Sein Mentor hatte zahllose “Lettres d'intervention personnalisées“ verfasst, „um den Leuten zu helfen“. Klassischer Klientelismus. Wie in einem Chabrolfilm. Der Empfänger der guten Tat fühlte sich natürlich dem Deputierten gegenüber verpflichtet. Politik kann sehr menschlich sein. Und ein Gérald Darmanin lernte seine Lektionen.

Seinen militanten integralen, auch homophoben Katholizismus verbarg der junge Politiker nicht. 2008 veröffentlichte er im monarchistischen „Politique magazine“ einige Texte. Ob er auch an den Sommercamps der Maurassianer teilgenommen hat, wird vermutet, ist aber nicht belegt. Aber halten wir vorerst fest: hier ist ein junger Mann mit Zukunft. Balzac hätte seine Freude an ihm: der Aufstieg eines Karrieristen aus dem Norden.

Darmanin positionierte sich. Er wurde Stadt- und Regionalrat für für den RPR (der Partei Chiracs) , arbeitete in diversen ministeriellen Kabinetten und errang 2012 ein Abgeordnetenmandat. Seine Wahl zum Bürgermeister von Tourcoing im Jahr 2014 erleichterte den Absprung: Darmanin schien "geerdet". Ein Bürgermeister kennt die Probleme der "Leute". Ein Mann mit Zukunft. Seine erste Anweisung als Maire war die Wiederzulassung des Autoverkehrs in der Innenstadt. In den folgenden Jahren unterstützte er Kampagnen von Sarkozy und Fillon. 2016 wurde er als Generalsekretär der Républicains zum Wahlkampfdirektor Fillons ernannt... und damit zum Gegner seines heutigen Patrons Macron. Einer, der weder dumm ist noch Rücksicht nimmt. In der rechten Zeitschrift „L'Opinion“ vom 25. Januar 2017 attackierte er den Gegner seines Herrn, den „Bobopopulisten“ Macron mit diesen hellsichtigen Worten:

Der Populismus von Madame Le Pen ist bekanntlich extremistisch, demagogisch. Er ist ziemlich klassisch, ziemlich wirksam, ziemlich bekannt. Der Populismus von Monsieur Mélenchon ähnelt sehr der kommunistischen Revolte vergangener Jahre... Und dann gibt es noch den neuen Populismus light, den Bobopopulismus mit dem menschlichen Antlitz von Monsieur Macron. Ein schicker Populismus, mit einem schönen Lächeln , schönen Anzügen und einer schönen Geschichte. Er sagt, wie im Roman von George Orwell, das Gegenteil von dem, was er ist („Ich bin gegen das System“), während er doch das pure Produkt dieses Systems ist.

Affären - ja und?

Allerdings vermasselten die Finanzaffären seines ziemlich sicheren Kandidaten Fillon seine weiteren Karrierechancen. Auch privat lief es nicht gut. Die Scheidung stand an. Doch in der Gefahr... Darmanin konnte zeigen, was in ihm steckt: die Fähigkeit, mit Nonchalance die Weste zu wechseln, eine sehr alte Figur der französischen Geschichte. Fortan setzte er alles auf den „Bobopopulisten“. Die Républicains schlossen ihn aus. Darmanin wurde ein REM, ein „Républicain en marche“ und im Mai 2017 Finanzminister der Regierung Edouard Philippe. Fast simultan erreichte den Justizminister Bayrou ein Brief, der es in sich hatte. Die „Methode“ Darmanin holte den Finanzminister ein. Er habe, so der Verfasser, sich 2009 als Stadtrat für seine Frau „eingesetzt“, dies aber gegen sexuelle „Gefälligkeiten“, die man auch als Vergewaltigung interpretieren könne. Damit begann eine Serie von Prozessen, die allerdings nicht mit einer Verurteilung Darmanins endeten, obwohl eine weitere Klägerin vor Gericht aussagte, Darmanin habe ihr 2015 gegen sexuelle Beziehungen eine Wohnung verschafft. Weil es rechtspolitisch interessant ist, sei aus einem der Urteile zitiert:

Der Mangel an Einverständnis reicht nicht für eine Charakterisierung als Vergewaltigung nicht aus. Der Infragegestellte muss zudem das Bewusstsein haben, einen gewaltsamen sexuellen Akt zu vollziehen...

Sexualisierter Nepotismus. Es wird eklig. Darum schnell zurück zur „reinen“ Politik. Die gleichzeitige Ausübung eines Bürgermeister- und Ministeramts ist eigentlich untersagt. Eigentlich. Darmanin präsentierte sich bei den Kommunalwahlen 2020 erneut als Kandidat … und siegte. Er blieb auch Bürgermeister, als Macron ihn am 6. Juli 2020 zum Innennminister machte. Nun, die Ausnahme bestätigt halt die Regel.

Als Einstand gab der 37-Jährige dem „Figaro“ ein Interview, in dem er von der „Verwilderung eines bestimmten Teils der Bevölkerung“ sprach. Damit benutzte er eindeutig einen Begriff des extremen Rechten Laurent Obertone. Es gab Kritik. Aber Darmanin stand zu seinem Wortgebrauch. Und Macron stand zu seinem Minister. Er wusste, was er an einem Minister hatte, der 3 Wochen nach seiner Ernennung kritische Fragen nach der Polizeigewalt durch Mitglieder einer Parlamentskommission so abbügeln konnte:

Wenn ich das Wort "Polizeigewalt" höre, ringe ich nach Luft, ehrlich gesagt. Sicher übt die Polizei Gewalt aus, aber eine legitime Gewalt. Das ist so alt wie Max Weber.

Nach dem islamistischen Terrorattentat im Oktober 2020 auf den Lehrer Samuel Paty konnte er Kante zeigen und ließ 231 Einwanderer „en situation irrégulière“ ausweisen, einen muslimischen Hilfsverein verbieten und eine Moschee schließen. Im Sommer 2021 verbot er die „Génération identitaire“ (ein Hieb nach rechts) und im März 2022 die „Groupe antifasciste“ (ein Hieb nach links). Kurz, seit Beginn spielt Darmain „den bösen Jungen in der Bande, derjenige, der die Linken verhaut und die Anhänger der Ordnung beruhigt“ (Libération, 5. Apr. 2023). Sarkozy war aus demselben Holz geschnitzt, Manuel Valls ebenfalls.

Die Stunde der Bewährung

So omnipräsent wie in den letzten Wochen war er jedoch noch nie. Es geht um viel. Millionen Menschen streiken und demonstrieren. Die Gewerkschaftsfront hält noch immer. Deutlich wird: es geht den Menschen nicht nur um die Renten, sondern um die antisoziale Politik Macrons insgesamt. Die nur relative parlamentarische Mehrheit wankt. Der ostentative Protest der France insoumise bei der Verkündung des 49.3 zeigte buchstäblich aller Welt eine Regierung am Ende ihrer Macht. Macron isoliert sich immer mehr. Seine sporadischen Äußerungen steigern nur den Zorn der Menschen. Die nächste Präsidentenwahl findet zwar erst 2027 statt, aber laut Umfragen kann es nur eine Gewinnerin geben: Marine Le Pen. Der Wahlverein Macrons „Renaissance“ steht vor dem Nichts. Man kann sich natürlich auch fragen: War er denn jemals "etwas" (im Sinne von Siéyès „Qu'est-ce que le Tiers Etat“?)

Ein Darmanin weiß: dies ist für einen Innenminister die Stunde der Bewährung. Er muss die „klassische Methode“. staatlicher Polizeiregie anwenden. Es gilt, die Dynamik der Demonstrationen zu brechen, genauer: zu "zerschlagen". Das Mittel ist also rabiat: Angstproduktion durch verstärkten Einsatz von Polizeigewalt, eine "gute" Polizeitradition, die sich zuletzt bei den Gelbwesten bewährt hat - zudem eine "sinnvolle" Beschäftigung für die jungen Männer, die auf dem Arbeitsmarkt verloren wären und denen die Polizei Disziplin beigebracht hat.

Gleichzeitig gilt es, von der desaströsen Politik der Macronie und ihres Herrn abzulenken, d.h., das Urschema Ordnung gegen Chaos aktivieren, die linke Opposition diabolisieren und eine große Diskussion über den „Terrorismus“ zu generieren. Genau das, was der Le-Penismus bezüglich der Migrantenfrage so perfekt wie perfide zu veranstalten weiß.

Das Innenministerium inszenierte also den „Terror“. Nicht den eigenen. Die „Terroristen“ sind immer die anderen. Mit den zunehmenden Demos traten auch die „Casseurs“ (Kaputtmacher) zunehmend auf. Man stelle sich vor: Papierkörbe brannten! Quelle violence brutale! Der "Casseur" ist - wie zu erwarten - ein uraltes Schreckgespinst der Reaktion. Schon nach der 1830er Revolution konnte und wollte sich die monarchistische Presse nicht über die republikanischen "Casseurs der Laternen und Fenster" beruhigen.

Bei der großen ökologischen Demo bei Sainte-Soline am 25. März wurden mehrere Zehntausend Demonstranten von über 3200 schwer bewaffneten Polizisten und vielen Kamerateams erwartet. Zur „Abwehr“ der „Gefahr“ warfen die tapferen Polizeikrieger 4000 (!) Granaten unter die Demonstranten und setzten eine Art Kavallerie von schussbereiten Polizeibrigadisten auf Quads ein. Es gab zahlreiche, zum Teil schwerste Verletzungen. Zwei junge Männer ringen immer noch mit dem Tod. Vor allem in den sozialen Medien kursierten Bilder von ungeheurer Brutalität. Die Hauptmedien praktizierten den üblichen "Journalisme de préfecture" und zeigten exklusiv die Gewalt der Demonstranten, der berühmten „ultralinken“ „Black Blocks“, der "Casseurs". Also sah man viel Rauch, Steinewerfer, einige brennenden Polizeiautos. Permanent wurde die Zahl der verletzten Polizisten verkündet, nicht übrigens die Art der Verletzungen.

Menschenrechtsorganisationen klagten ihrerseits die blutige Repression an, ja sogar die willentlich unterlassene Versorgung von Schwerverletzten. „Das menschliche Leben war den Polizisten völlig egal“, sagte später der Präsident der Liga der Menschenrechte.

Zwei Tage später gab Darmanin eine von den Hauptmedien übertragene Pressekonferenz. Er sprach, wie so oft, enorm schnell (um Widerspruch wegzufegen?) und behauptete, die Polizei habe keine LBD-Geschosse benutzt, auch keine Kriegswaffen. Erst recht habe sie die Versorgung der Verletzten nicht behindert. Es fiel der Opposition leicht, diese Behauptungen zu widerlegen. Umso schwerer war es, die Parteilichkeit der Hauptmedien zu erschüttern. Und – da zeigten sowohl die Regierenden als auch die macronistischen Journalisten auf einmal Belesenheit – hatte nicht ein gewisser Max Weber vom „Gewaltmonopol des Staates“ gesprochen? Damit war den Journalisten der Weg vorgegeben. Jeder oppositionelle Politiker musste sich auf Fragen einstellen, wie „Akzeptieren Sie das Gewaltmonopol des Staates?“, „Verurteilen Sie die Gewalt gegen den Staat?“ oder „Ist es legitim, dass Abgeordnete mit trikolorer Schärpe gegen die Polizei demonstrieren?“ Und keine(r) antwortete, dass das einzige Ziel solcher Ritualfragen die Delgitimierung der Kampfes gegen die Rentenreform ist.

Die Macronie hat den „inneren Feind“ ausgetauscht. Nicht mehr der bärtige islamistische Terrorist stellt die „Gefahr“ für die heilige Republik dar (der glattrasierte Fascho schon gar nicht), sondern die „Ökoterroristen“ und – hinter ihnen - die „extremen Linken“ der France insoumise. Macron wirft ihnen vor, die Institutionen „delegitimieren“ zu wollen (tatsächlich streben die Insoumis eine 6. Republik an). In der Nationalversammlung lief Darmanin unter dem begeisterten Beifall der macronistischen, konservativen und faschistischen Abgeordneten zur großen Form auf.

Was ist mit der Linken passiert, dass sie Casseure (Kaputtmacher) und Polizisten verwechselt? Was ist passiert, dass sie keinen Respekt mehr vor der Polizeiuniform hat?

Noch im Parlament kündigte er die geplante Auflösung der ökologischen (er sagte „ökoterroristischen“) Bewegung „Soulèvements de la Terre“ an. In den Medien verkündete er zudem die Überprüfung der Subventionierung der ehrwürdigen, aus der Zeit der Dreyfusaffäre stammenden Liga der Menschenrechte an.

Im (macronistischen) „Journal de Dimanche“ vom 2. April sprach Daramanin von „einer Bewegung, die den Kampf der Ultralinken der 70er Jahre wieder aufnimmt“, die eine „Revolution“ will. Es gäbe einen „intellektuellen Terrorismus der extremen Linken“ der die „Werte“ pervertiere:

Die Kaputtmacher werden so die Angegriffenen, und die Polizisten die Angreifer... Mélenchon ruft nur noch zu verbotenen Demonstrationen auf, schüttet seinen Hass über die Polizisten aus und versucht, mittels der Unordnung zu erreichen, was er mittels der Wahlurnen nicht erreicht.

Drei Tage später musste sich der Innenminister vor einer parlamentarischen Kommission verantworten. Er war gut vorbereitet. Genüsslich zitierte er den ehemaligen sozialistischen Innenminister und Gegner der NUPES, Bernard Cazeneuve, der am selben Tag im Radio erklärt hatte:

Wir wussten, dass die FI die Partei der Übertreibungen ist. Jetzt ist sie die Partei der Beleidigung. Von denen erwarte ich nichts mehr, ich weiß, wie sie ticken... Ich bin nicht geschockt, ich bin konsterniert, denn ich habe eine andere Vorstellung von Politik in unserem Land.

Und Darmanin reagierte auf seine spezielle Art auf den lauten Protest der NUPES-Abgeordneten:

Man darf doch wohl Bernard Cazeneuve zitieren, ohne als Faschist bezeichnet zu werden.

Da war es wieder, das ist klassische „Das-wird-man-wohl-noch-sagen-dürfen“. Darmanin liebte und lebte solche Sätze schon als Studierender (siehe oben). Fatalerweise erleichtern ihm eigene (wenige) Mitglieder der NUPES die Chose: der Generalsekretär der kommunistischen Partei, der sehr eigenwillige Fabien Roussel, hatte kurz zuvor befunden: „Die NUPES ist überholt“. Später traf er sich tatsächlich mit Cazeneuve, zuvor hatte er schon Hollande mit seinem Besuch geehrt. Cazeneuve bereitet momentan eine neue sozialdemokratische Partei vor. Viele Rechte werden mit Vergnügen gesehen haben, wie Darmanin am (vermeintlichen?) Grab der NUPES schaufelt. Und einige Linke werden sich viele Fragen stellen müssen. Auch darüber, wie schnell sie sich es sich gefallen lassen, dass die Regierung und vor allem Darmanin so billig von der Rentenfrage abgelenkt werden können.

Fragen auch über das Wirken eines Gérald Darmanin. Der ist kein Überflieger wie Macron. Aber man sollte ihn nicht unterschätzen. Marx schrieb zwar im ersten Vorwort zum „Achtzehnten Brumaire des Louis Napoléon“ (1859):

Victor Hugo macht das Individuum groß statt klein, indem er ihm eine persönliche Gewalt der Initiative zuschreibt.. (und er verweist auf die) Umstände und Verhältnisse, welche einer mittelmäßigen und grotesken Personnage das Spiel der Heldenrolle schufen.

Man sollte jedoch den Minister nicht kleiner machen, als er ist. Innerhalb der "Umstände und Verhältnisse" füllt Darmanin füllt die Heldenrolle effizient aus. Nach einer Umfrage haben im Land der Menschenrechte aktuell 53% der Bevölkerung Angst vor der Teilnahme an einer Demonstration. Aber Darmanin hat - in welcher Funktion auch immer - noch herkulische Aufgaben vor sich. Das demoskopische Institut Elabe prognostiziert für den (unwahrscheinlichen) Fall einer Parlamentsauflösung folgende Zusammensetzung der neuen Assemblée nationale: Der RN würde zwischen 150 und 170 Sitze, die NUPES 150 bis 180, die Macronie nur 130 bis 155 und die Republicains 60-75 Sitze erhalten. Die Regierung wäre also von den Lepenisten abhängig. Und es kommt noch schlimmer: in potentiellen Präsidentschaftswahlen würde im zweiten Wahlgang Le Pen mit 55% Macron pulverisieren. Welch ein Glück, dass Macron nicht mehr antreten kann! Aber wer wird sein Nachfolger als Kandidat? Gérald Darmanin wird sein typisches schmallippiges Lächeln unter dem ebenso schmalen Gendarmen-Moustache aufsetzen. Er denkt natürlich: Moi, wer sonst? Ich habe es schwer verdient. Und er wird natürlich sagen: Die Frage stellt sich nicht. Denken „wir“ zuerst an Frankreich, an die Republik und ihre selbstlosen Verteidiger in Uniform.

Darmanin ist also derjenige, der in diesem bestimmten Moment den Bedarf nach einem "starken Mann" befriedigt. Aber er ist nicht konkurrenzlos. Der Arbeitsminister und der Sprecher von "Renaissance", beide ehemalige Sozialisten und geschickte Westenwender, bieten sich selbstlos an. Ironischerweise ist der Faschismus durch eine Frau vertreten, eine Le Pen, Marine oder – vielleicht doch – Marion. Zum Glück (?) sind uns noch vier mühselige Jahre Macron gegönnt. Mit einem Darmanin als Ministerpräsident? Elisabeth Borne gibt neuerdings sibyllinische Sätze von sich. Wird sie zurücktreten? Jedenfalls hat sie ihre große Aufgabe, das parlamentarische Durchpeitschen der Rentenreform, erfüllt.

Um ein wenig die Ebene der Personalisierung zu verlassen: Der Soziologe Stefano Palombini beschreibt eine erschreckende Transformation: Bisher diente der rechtsextreme Block (RN) als „Vogelscheuche“ der rechten Mitte. Wer gegen Le Pen antrat, hatte per se gewonnen. Das Feld ändert sich: die Rolle der „Vogelscheuche“ spielen mittlerweile der „intellektuelle Terrorist“ Mélenchon und seine FI. Mit dem Austausch des „inneren Feindes“ könnten der PC, der PS und die bürgerlichen Teile der Grünen aus der NUPES filtriert und wieder zu „respektablen“ politischen Gamers mutieren. Allerdings bedeutet dies eine weitere Banalisierung der Faschisten. Die kürzliche Nachwahl im Ariège (Pyrenäen) zeigte, wie es geht: im 2. Wahlgang standen sich die Vertreterin der FI und eine nicht der NUPES angehörende Politikerin des Parti socialiste (Cazeneuve-Flügel) gegenüber . Letztere wurde mit den Stimmen der Macronie, der Rechten und der Rechtsextremen gewählt. Ein ganz anderer „Front républicain“ betrat das Spielfeld. Die FI wurde regelrecht vom Platz gewiesen.

Erinnern wir uns an Poulantzas' Erkenntnis:

Der Faschismus kommt mit Hilfe und einer typischen wohlwollenden Duldung des Staatsapparates an die Macht. Es gelingt ihm zu Beginn der Faschisierung, diesen Apparat von außen zu gewinnen und alle ihm feindlichen Bereiche zu neutralisieren. Der Faschismus wäre nicht ohne die entscheidende Hilfe des repressiven Staatsapparates und dessen Kampf gegen die populären Massen an die Macht gekommen.

Es könnte sein, dass Frankreich im Moment einen ähnlichen Prozess erlebt. Und einer seiner Hauptakteure heißt Darmanin. Sein persönliches Kalkul besteht wohl darin, viele der RN-Wähler anzuziehen. Eine riskante Wette, für Frankreich... und für ihn. Bis 2027 ist es noch weit. Sein einstiger Mentor François Fillon musste erleben, wie schnell man ins Straucheln kommen kann. Und die potentiellen Darmanin-Nachfolger stehen schon bereit.

Und die Linke? Die NUPES? Auch sie hat ihre Bewährungsprobe. Und die muss sie bestehen. Gegen viele kleine und große Darmanins. TINA.

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